Читать книгу: «Küstensturm», страница 2

Шрифт:

Lotta schmunzelte, obwohl ihr der Eulenschrei genauso einen Schrecken eingejagt hatte. Sie wollte der Freundin Mut zusprechen und schob sie zur Tür. »Weil ich es weiß!« Tilda steckte gleichmütig und unberührt von dem Schrei des Vogels den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn langsam herum. Sie öffnete die knarzende Tür und stieß sie mit dem Fuß auf. Ernüchtert stellte sie fest, dass es im Inneren der Hütte stockdunkel war und sie nichts erkennen konnte. Mit der Hand fuhr sie an der Wand entlang und suchte nach einem Lichtschalter. Ihre Finger ertasteten ihn und bewegten den Hebel. Die Birne einer Glaslaterne, die mittig über einem Holztisch hing, leuchtete dezent auf. »Boah, das ist ja traumhaft.« Sie trat zurück, griff Rucksack und Tasche und verschwand in der Hütte. Die Mädels folgten ihr. Stinas mulmiges Gefühl in der Magengegend breitete sich weiter aus, als es im hinteren Teil der Waldhütte leise knarzte. »Was war das?«, rief sie. Wäre ich bloß zu Hause geblieben …

*

Im Frankfurter Bankenviertel saß Marcel hinter seinem Schreibtisch und warf einen Blick aus dem bodentiefen Fenster über die Dächer der Stadt. Er trommelte mit den Fingerkuppen auf die dunkle Eichenplatte. Sein Gesicht war wutverzerrt und die Wangenknochen traten hart hervor. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. Er hatte die letzten Nächte nicht geschlafen und über seine Nachlässigkeit nachgedacht. Seine Faust krachte hart auf die Schreibtischplatte, als seine Assistentin den Raum mit einem Becher Kaffee betrat. »Marcel, was ist? Kann ich dir helfen?« Sie kannte ihren Chef besser als jeder andere in diesem Büro. Heimlich verehrte sie ihn, hatte es ihm aber nie zu verstehen gegeben. Allein, dass sie an seiner Seite arbeiten konnte, machte sie glücklich. Vielleicht hat er sich von seiner Freundin getrennt, überlegte sie, und ihre Hoffnung, ihn doch eines Tages für sich zu gewinnen, stieg. Er drehte sich um und sah ihr in die Augen. »Raus! Ich hab ganz klar zu verstehen gegeben, dass ich von niemandem gestört werden will.« Anika Wortmann schluckte ernüchtert, bekam einen roten Kopf und stellte hastig den Kaffeebecher auf die Schreibtischplatte. Sie kämpfte mit den Tränen. Dann drehte sie sich um, um das Büro schnellstens wieder zu verlassen. Sie schloss leise die Tür hinter sich und bekam gerade noch mit, wie ihr Chef mit einem Schrei den Becher gegen die Tür schmetterte.

Marcel Andresen sprang von seinem Ledersessel auf und steckte die Hände in die Taschen seiner Hose. »Verdammt, wie konnte mir das passieren?«, murmelte er. »Wie konnte ich sie mit nach Hause nehmen? Ich hätte damit rechnen müssen.« Er presste seine Kiefer wütend aufeinander. Mich hat noch niemand verlassen, was bildet sie sich ein? In seinem Kopf arbeitete es ununterbrochen. Er erinnerte sich daran, dass er vor etlichen Jahren wegen seiner Frauengeschichten und seines Drogenkonsums schon einmal eine Beziehung zerstört und sogar seinen Job verloren hatte. Frankfurt sollte sein Neuanfang werden. Er hatte sein altes Leben komplett hinter sich gelassen, und dann traf er diese blonde bezaubernde Studentin, die ihn vom ersten Moment an faszinierte. Wie sie mich angelächelt hat … Marcel starrte über die Dächer der Stadt.

Die Frau, mit der Stina ihn erwischt hatte, war eine von vielen. Er hätte nur vorsichtiger sein müssen. »Verdammt.« Marcel konnte nicht aus seiner Haut und brauchte dieses andere Leben, um seine Neigungen auszuleben. Stina hingegen war die perfekte Frau, die ihm nie auf die Schliche kommen würde, weil sie gutmütig und lieb war. Sie war die Frau, die er heiraten wollte. Die künftige Mutter seiner Kinder, die seinem Leben die Ruhe gab, die er brauchte. Er hätte weiterhin seine Spielchen fortführen können, ohne dass sie es jemals erfuhr. »Hätte, hätte …«, schnaufte er und zerrte die Jacke von der Stuhllehne. Sie hatte ihn enttäuscht und er würde das nicht hinnehmen. Er entschied, wo und wann es endete. »Das macht man mit mir nur einmal«, knurrte er gefährlich leise und verschwand aus seinem Büro. Aufkeimende Wut und unsägliches Verlangen wüteten in ihm.

*

In der Hütte roch es nach Holz, Moos, gefolgt von einem Geruch, der nicht zuzuordnen war. »Macht mal sämtliche Fenster auf. Hier muss dringend gelüftet werden. Die scheint schon länger leer zu stehen«, murmelte Lotta pragmatisch, rümpfte die Nase und setzte ihre Tasche am Boden ab. Zielstrebig stakste sie zum Sprossenfenster, das sich über der Spüle befand, und versuchte, es mit beiden Händen zu entriegeln. »Das geht so nicht«, stellte sie fest. »Wir müssen zuerst die Fensterläden von außen öffnen. Die sind verhakt.« Sie trat vor die Tür. Draußen war es durch den dichten Baumbestand mittlerweile dunkel. Stina, die ihr gefolgt war, sog die feuchte Waldluft tief in ihre Lunge und half Lotta. Nacheinander öffneten sie die Läden aller drei Fenster und befestigten die angebrachten Haken an den Halterungen der Holzwand. Das unheimliche Rauschen, das sie vorhin im Wald wahrgenommen hatten, schwoll immer mehr an. Der Wind hatte zugenommen. Tilda, die die Freundinnen durch das Fenster beobachtet hatte, stieß den Fensterflügel von innen auf und rief mit einem Grinsen im Gesicht: »Knusper, knusper, knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen. Kommt nur herein, hier gibt es leckere Weinchen und ein wärmendes Feuer.« Sie kicherte. Lotta stand mit verschränkten Armen vor der Hütte, schüttelte den Kopf und schmunzelte. Stina eilte zurück ins Innere, zog das Handy aus ihrer Jackentasche, stellte es an und warf erneut einen Blick auf das Display. Jede Menge Mitteilungen waren dazugekommen. »Er soll in der Hölle schmoren«, schnaubte sie und schaltete das Telefon sofort wieder aus.

Die nach Moos riechende Waldluft drang durch das geöffnete Fenster in das Häuschen ein und durchzog den Raum.

»Das riecht schon wesentlich besser. Lasst die Tür auch einen Moment offen stehen. Wir werden erst mal die Hütte inspizieren«, sagte Stina. Sie zog ihre Jacke aus, legte sie über einen der leeren Stühle, sah sich um und schlich auf eine Tür zu, die sie anhand eines Emailleschildes als Badezimmer ausmachte. Sie öffnete die Tür. Enttäuscht starrte sie in den schmalen Raum, der einem Schlauch ähnelte. »Hier riecht es auch nicht gerade berauschend. Keine Badewanne, und die Dusche ist, ehrlich gesagt, eine Katastrophe.« Sie deutete auf das winzige Waschbecken und die Toilette, die direkt unter ein schmales Fenster gequetscht war. »Nicht gut!«

»Wir sind hier in einer Waldhütte. Was hast du erwartet? Badewanne mit Whirlpool? Hier geraten wir an die Basis des Lebens. Einfach und gediegen bringt es uns back to the roots.« Lotta lachte, als Tilda ihre Freundin beschwichtigte. »Ich glaube, wir werden hier jede Menge Spaß haben. Und sieh mal, wir haben hier sogar einen Kamin. Genügend Holz hab ich unter dem Dachvorstand gesehen. Wirst sehen, das wird richtig kuschelig«, sagte die praktisch veranlagte Lotta und versprühte Optimismus. »Und was ich noch anmerken wollte und ich hoffe, ich habe euren ungeteilten Zuspruch: Ab jetzt herrscht Handyverbot! Wir werden hier wirklich in der Natur mit der Natur leben und uns nur auf uns beschränken. Ich halte das für eine tolle Erfahrung.« Tilda streckte die Hand aus und forderte die Handys der Freundinnen ein. »Ich möchte nicht, dass uns in dieser Woche irgendetwas stört.« Lotta überreichte es ihr bereitwillig. Stina zögerte. Sie musste wissen, was Marcel … Widerwillig reichte sie Tilda ihr Telefon. Die Philosophiestudentin legte die Handys in die Schublade einer Kommode, die unter dem Spülbecken direkt unterhalb des Fensters eingebaut war. Stina umfasste ihre Schultern. »Ist ganz schön eisig hier«, murmelte sie und zog ihre Jacke wieder an. »Ich mach gleich Feuer«, kündigte Tilda an und ging auf die noch verschlossene Tür zu. »Da ist sicher unser Schlafzimmer«, lotste sie die Freundin von ihrem Handy weg.

»Uhu«, schallte der Ruf der Eule aus dem Wald. »Mach die Fenster zu«, rief Stina und hielt sich die Ohren zu.

Draußen war es stockdunkel. Tilda drehte den Türknauf in der Hand, um in das zweite Zimmer zu kommen, als der Fußboden im Nebenraum knarzte. Die drei Freundinnen fuhren zusammen. Stina schrie. Dann schlug die Haustür mit lautem Knall ins Schloss.

*

Der Lkw hielt auf einem Rastplatz an der A1. Der Fahrer stieg aus. »Bin gleich wieder da«, murmelte er und verschwand. Der Fahrzeugführer seiner Mitfahrgelegenheit steckte den Tankstutzen in die Öffnung und wartete. Es dauerte eine Weile, dann verschloss er sie wieder und stiefelte Richtung Kassenhäuschen. Ludger Hanke nutzte die Zeit, öffnete die Beifahrertür und schwang sich aus dem Führerhaus, um eine zu rauchen. Neben ihm hielt ein weiterer Lastwagen. Der schlaksige Mann mit dem langen Zopf und dem dichten Bart stand rauchend da und sah sich um. Der Fahrer stieg ebenfalls aus und grüßte. »Na, auch vollmachen?«, fragte er und deutete auf den Tank des Fahrzeugs. »Ne, nur ’ne Handvoll Wasser loswerden.«

Ein schwarzer Audi stand abseits und zwei Männer beobachteten die Lkws, zwischen denen sich der hagere Mann bewegte.

»Auch gut«, antwortete die schlanke Gestalt und zog an der Zigarette. »Wo geht’s denn hin?«, wollte er wissen. »Kopenhagen«, lautete die knappe Antwort.

»Da müssen Sie doch über Puttgarden.«

»Genau, mein Bester.«

»Können Sie mich mitnehmen? Ich muss genau dorthin.«

»Kein Problem. Steigen Sie ein. Ich bin gleich wieder da.« Der Raucher grinste und sah sich um. Keine Menschenseele zu sehen. Nur der Wagen, in dem die Männer saßen. Sie schienen ihn zu beobachten. Der Bärtige drückte die Zigarette am Boden aus und schlich auf das Auto zu. Ein dritter Mann stieg gerade in den schwarzen Audi mit Lüneburger Kennzeichen. Mit einem Satz stand er neben dem Wagen und sah die Männer durchdringend an. Dann verschwand er zwischen den Lkws, zerrte seinen Rucksack aus dem Führerhaus und öffnete die Fahrertür, sodass niemand mitbekam, dass er umstieg. Wenig später kam der Fahrer der neuen Fahrgelegenheit zurück, während der andere noch immer an der Kasse wartete, um sein Geld loszuwerden. Er grinste und wusste, dass er seinem Ziel näher kam. Die Männer in dem Audi sahen dem Lkw nach und warteten auf den Fahrer des ersten Lastkraftwagens, um die Verfolgung aufzunehmen.

*

Der nächste Morgen war wesentlich freundlicher. Der Nebel hatte sich verzogen, und die Sonne lugte zwischen dichten Wolken hervor. Der Wald lag in einem diffusen Licht und wirkte friedlich. Selbst der Wind hatte sich ausgetobt.

Die drei Freundinnen lagen auf ihren Matratzen und schliefen. Es war kurz nach 7 Uhr, als Lottas Lebensgeister erwachten. Sie reckte sich unter ihrer Decke. Ausgeschlafen blinzelte sie mit den Augen und warf einen Blick durch die Fensterluke, die direkt über ihrem Kopf im Dach eingebaut war. Vereinzelte Sonnenstrahlen, die es durch die Bäume hindurch geschafft hatten, kitzelten ihre Nasenspitze. Sie wunderte sich, dass sie überhaupt so lange geschlafen hatte. Als Krankenschwester war sie an weniger Schlaf gewöhnt. Es zeigte ihr, wie sehr sie die Ruhe brauchte. Als sie sich bewegte, um ihre Glieder auszustrecken, kam auch Leben in die anderen beiden. Tilda, absolut keine Frühaufsteherin, setzte sich auf und stieß mit dem Kopf gegen einen der dicken Dachbalken im Dachgeschoss. »Oh Mann, das gibt eine Beule«, jammerte sie, verzog das Gesicht und fuhr sich durch die zerzausten Haare. Die Freundinnen kicherten. Stina zog die Beine an und sah verschlafen in die Runde. Sie würde am liebsten unter der Decke liegen bleiben, obwohl sie normalerweise jeden Morgen joggte. Die Welt der drei jungen Frauen sah heute wesentlich freundlicher aus als gestern bei der Anreise.

Die am Vorabend unbehagliche Atmosphäre der Ferienhütte hatte sich nach dem Lüften der Räume und dem Entzünden des Feuers im Kamin aufgelöst. Selbst die Geräusche, die sie aus dem ungenutzten Nebenzimmer wahrgenommen hatten, stellten sich als Sinnestäuschung heraus. Ein Haken, der sich aus der Verankerung eines der Fenster gelöst hatte und vom Wind fortwährend knarzend gegen das Holz der Hütte schlug, war die Ursache und hatte beim Öffnen der Tür auch die Haustür zuschlagen lassen. Zwei Flaschen Wein später hatten sie die nötige Bettschwere und sich schlafen gelegt.

»So, Mädels, aus dem Bett. Der Tag wartet.« Lotta schlug ihre Decke zurück und begab sich auf die Knie. Leise kroch sie bis zum kleinen Sprossenfenster, das sich neben der Leiter befand. Die zusätzlichen Schlafplätze hatten sie gestern Abend unter dem alten Giebeldach des Holzhauses entdeckt. Blau-weiß gestreifte dicke Matratzen, die fast die gesamte Fläche des Raumes bedeckten, ergaben eine urige Schlafstätte. Sie beschlossen in ihrer Weinlaune, dass sie gemeinsam auf dem Dachboden schlafen wollten.

Stina lag wohlbehütet in der Mitte des Matratzenlagers und fühlte sich sicher aufgehoben. Ihre langen blonden Haare umrahmten ihr zerknautschtes Gesicht. Tilda hatte sich wieder unter die Decke verzogen und sie so weit über den Kopf gezerrt, bis nur noch dunkle Haaransätze wahrzunehmen waren. Stina drehte sich auf die Seite und stützte sich auf einen Ellenbogen. »Lass uns Frühstück machen, später erkunden wir den Wald«, flüsterte Lotta und erhob sich. »Wirst sehen, dann sieht die Welt gleich anders aus. Hier ist es sicher und niemand wird uns stören.« Die OP-Schwester kletterte die Stufen hinunter. Sie hatte für alles eine Lösung parat und packte an, wenn es nötig war. Stina schlug die Decke zurück und folgte ihrer Freundin, während Tilda sich murrend umdrehte.

Die 28-jährige Lotta Freimann entdeckte eine Kaffeemaschine, öffnete die Türen des einzigen Hängeschrankes und hielt Ausschau nach Filtertüten. Sie fand eine Dose mit Kaffeepulver, nahm sie heraus und schüttelte sie. »Die ist voll«, strahlte sie. »Ich hatte es gehofft. Den Kaffee hatte ich vergessen. Oder hast du?«

Stina schüttelte den Kopf. »Ich hab an gar nichts gedacht. Mein Kopf ist leer. Nicht mal Zahnpasta habe ich eingepackt.« Sie zuckte die Schultern, stand wie eine Porzellanpuppe vor ihrer Freundin. »Kannst du von mir haben. Hast du wenigstens eine Zahnbürste?« Stina nickte. »Na, dann ist das doch kein Problem. Was uns fehlt, besorgen wir später, wenn wir in Burg einkaufen.« Die Studentin war erleichtert.

Lotta, die Souveräne in dieser Runde, lächelte und stellte die Kaffeemaschine an. »Komm, Lütte, wir decken den Tisch. Tilda ratzt länger, so wie ich sie kenne.« Die Krankenschwester öffnete die Tür und trat auf die Veranda. Sie reckte sich in ihrem Jogginganzug, schüttelte die langen Haare und sah um sich. Die Sonne tauchte den Wald in ein stimmungsvolles Licht. Es herrschte eine unbeschreibliche Ruhe. Nicht einmal ein Vogel war zu hören. Hoffentlich bleibt das so, dachte Lotta und machte sich daran, die Fensterläden zu öffnen. Sie empfand die Ruhe als große Erleichterung, die sie für gewisse Zeit von ihrer schweren Arbeit abschalten ließ. Stina entriegelte die Fenster in allen Räumen von innen, bis frische Waldluft die Hütte durchwehte. Anschließend inspizierten sie die wenigen Schränke auf der Suche nach Geschirr. Zehn Minuten später war ein kunterbunter Frühstückstisch gedeckt. Lotta nickte und lächelte. Sie sah selbst ungeschminkt, mit zerwühlten Haaren und im Jogginganzug faszinierend aus. Sie zog ihre Tasche zu sich, die sie gestern Abend neben dem Sofa abgestellt, hatte und öffnete den Reißverschluss. Gelassen nahm sie Brot, Margarine, Marmelade und Obst heraus. »Das hast du alles besorgt?«, staunte Stina. »Ne, ich hab nur meinen Kühlschrank geplündert. Langt fürs Erste, oder?«

Die Freundin nickte und sog den Holzgeruch der Hütte ein.

Während sie gemütlich am Tisch saßen, Brot aßen und heißen Kaffee schlürften, schnupperte Tilda eine Etage höher den Duft des Wachmachers. Ausgeruht und gut gelaunt kletterte sie wenig später in langen Sporthosen und einem ausgeleierten Shirt die Stiege hinab. Ihre dunklen, ewig zerzaust wirkenden Haare legten sich um ihr blasses Gesicht und ließen es noch schmaler erscheinen. »Hm, das riecht aber lecker. Ich sehe schon, das wird ein geiler Tag«, sagte sie und kräuselte spitzbübisch die Nase, bis ausgeprägte Grübchen sich auf ihren Wangen zeigten.

Lotta zog die Augenbrauen hoch und grinste sie an.

Eine Stunde später stapften sie satt und fröhlich durch das Staberholz, um die Umgebung auszukundschaften, die für die kommende Woche ihr Zuhause sein würde. Es gab kaum Nennenswertes in dem Wald zu sehen, der mit seinen gerade mal fünf Hektar Fläche nicht groß herauskam. »Verlaufen können wir uns hier jedenfalls nicht«, frotzelte Tilda und sammelte einen dicken Ast vom Boden auf. »Nein, aber die Umgebung ist vielfältig. Ich bin mit meinen Eltern früher so oft hier gewesen. Der Wald liegt direkt an der Steilküste, das sehen wir uns nachher genau an. Und der Leuchtturm von Staberhuk ist nicht weit entfernt. Dazu kann ich euch interessante Geschichten erzählen. Aber lasst uns jetzt erst mal den Wald erkunden. Ist immer gut, wenn man weiß, wo man sich befindet und … wo das Auto abgestellt ist«, lachte Lotta.

Stina Christiansen knibbelte an ihrem Zopf. »Wieso müssen wir wissen, wo der Wagen steht? Im Dunkeln kriegen mich sowieso keine zehn Pferde aus der Hütte.« Sie schüttelte den Kopf. Das Ende ihres Zopfes schlug ihr dabei ins Gesicht. Sie zog den rosafarbenen Schal enger um ihren Hals. Ihre empfindlichen Wildlederstiefel rutschten über den feuchten Boden und verdreckten bei jedem Schritt mehr. »Die richtigen Schuhe hast du aber nicht eingepackt«, stellte Tilda belustigt fest. »Kein Problem, wir fahren heute Nachmittag in die Stadt und kaufen ein. Dann können wir uns mit Lebensmitteln eindecken und nach passenden Schuhen für Stinchen schauen«, sagte Lotta und erschrak plötzlich.

Es raschelte hinter ihr. Sie drehte sich um. »Das war sicher nur eine Taube. Ist dieses Idyll nicht wundervoll? Bringt unsere Seele ins Gleichgewicht«, lachte Tilda und sprang amüsiert zwischen den am Boden liegenden Ästen umher. »Ich hab keine Lust mehr, hier herumzustreunen. Du hast doch eben von einem Leuchtturm gesprochen. Lass uns mal da hinlaufen«, flüsterte Stina. Die Geräusche im Wald lösten Beklemmungen in ihr aus. Sie fühlte sich beobachtet. Das Staberholz verbreitete, trotz der Sonnenstrahlen, Unheimliches. Es herrschte kein Wind, wurde aber zunehmend diesiger. »Dieser verdammte Nebel, die merkwürdigen Laute«, stellte sie fest und suchte nach dem Ausgang. Sie kannte zwar die Umgebung, aber den Wald hatte sie nie wirklich ausgekundschaftet. »Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelpumpel heiß’ …«, johlte Tilda und tanzte wie ein Kind zwischen den Bäumen.

Bis Stina auf einmal schrie und ohne Vorwarnung Richtung Lichtung rannte. »Was ist denn?«, fragte Lotta.

»Da war ein Schatten!«

Kapitel 3


Hauptkommissar Dirk Westermann, Leiter der Oldenburger Mordkommission, saß am Schreibtisch seiner Dienststelle und las einen Bericht. Die Tür öffnete sich, und sein Kollege Thomas Hartwig betrat das Büro. Der Hauptkommissar sah ihn fragend an: »Wo ist dein Wolf?«

»Mein Wolf ist ein top ausgebildeter Polizeihund, was selbst dir nicht entgangen sein dürfte und wir haben soeben die letzte Prüfung absolviert.« Seine Augen leuchteten, und er wedelte mit dem Zertifikat in seiner Hand. »Unser Watson ist seit heute als staatlich geprüfter Polizeihund in Sachen Drogen und Leichen unterwegs.« Der durchtrainierte, smarte Kommissar konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, während er sich mit der Hand durch die dunklen, bis in den Nacken reichenden Haare fuhr. »Ich habe ihn hinten im Wagen und wollte wissen, ob du mit uns eine Runde durch den Wald laufen willst.«

»Welchen Wald?«, fragte Westermann, schob die Brille aus alter Gewohnheit in die nackenlangen, weißen welligen Haare, obwohl er die Lesebrille im letzten Herbst durch eine Gleitsichtbrille ersetzt hatte. Der schwarze Rahmen stand ihm gut zu Gesicht und ließ ihn markant erscheinen. Er warf einen Blick auf die Sportklamotten des jüngeren Kollegen. »Ich dachte, wir könnten Richtung Eutin, kurz vorm Kellersee ist ein Waldgebiet. Ich hab das Gefühl, ich muss unbedingt raus und eine Runde joggen. Hast du Lust?« Westermann nickte, stand auf und griff zu seinem Caban. »Ja, ich brauche auch dringend frische Luft. Dieser Mief hier drinnen macht mich zurzeit platt. Nur Routine ist nicht die große Herausforderung. Unendlich viel Aktenkram führt zur Stumpfsinnigkeit. Und bei den Cold Cases kommen wir auch nicht richtig voran. Außerdem habe ich, gelinde gesagt, riesigen Kohldampf.« Dirk Westermann rieb seine Hand über den flachen Bauch, dann kraulte er seinen weißen Dreitagebart. »Kohl, da sagst du was. Wenn wir gelaufen sind, können wir am Kellersee leckeren Kohleintopf essen. Ich kenne da ein nettes Lokal.«

»Kiek mol einer an. Du kennst ein nettes Restaurant am Kellersee?«

»Was dagegen? Komm!« Westermann stand auf, klappte die Akte zu und ging um den Schreibtisch. Er zog die Ärmel seines grauen Sweatshirts nach unten und schob ein Feuerzeug, das neben dem Computer lag, in die Tasche seiner Jeans.

Der Kommissar zog seine Jacke an, und die beiden Polizeibeamten verließen die Dienststelle. »Wir sind per Handy zu erreichen, wenn etwas sein sollte!«, rief Westermann seinem Kollegen Evert zu, der gerade auf den Eingang zukam. Der nickte. Thomas Hartwig öffnete die Heckklappe, Watson sprang heraus und lief mit wedelndem Schwanz auf den Hauptkommissar zu. Der einjährige tschechoslowakische Wolfshund hatte an ihm anscheinend einen Narren gefressen. Thomas Hartwig holte die Leckerlis aus der Tasche seiner verwaschenen Jeans und beobachtete die begeisterte Begrüßung zwischen Westermann und dem Diensthund. Seine Wangenknochen traten hart hervor. Ihm missfiel, wie der Hund an seinem Chef hing. Schließlich hatte er die komplette Ausbildung mit Watson absolviert und teilte mit ihm seine Junggesellenbude in Neustadt. »Vielleicht hättest du dir den Hund anschaffen sollen«, grummelte Thomas. »Steig ein, Verräter«, lotste er Watson zurück in den Hundekäfig.

»Wann fährst du nach Fehmarn?«, wollte Hartwig wissen, während er den Wagen lenkte.

»Am Wochenende. Katrin möchte zu einer Vernissage, und ich begleite sie. Nettes Event mit Kanapees und Champagner.« Thomas prustete los. »Soll ich dir Watson zur Verstärkung mitgeben? Der räumt mit Sicherheit den Laden auf.«

Dirk lachte und schüttelte den Kopf. Er hatte im eigenen Wagen miterlebt, dass der Hund, sobald er nicht unter Kontrolle war, ein Flegel seiner Zunft war und jede Menge Schaden anrichten konnte. »Ne, lass mal. Ich werde allein mit denen fertig. Außerdem haben wir ja Charlotte dabei, die wird uns schon rechtzeitig da rausholen.« Dirk Westermann dachte daran, wie er der Fotokünstlerin Charlotte Hagedorn das Leben gerettet hatte, während Hartwig und er gemeinsam auf Fehmarn ermittelten. Und er musste schmunzeln, als er daran dachte, dass er durch sie ihre Nichte Katrin kennen und lieben gelernt hatte. Es war damals sein erster Mordfall auf der Insel, und er würde den grausamen Überfall auf die Künstlerin niemals vergessen.

»Ich muss dringend tanken«, murmelte Hartwig und fuhr von der Straße ab. Westermann nickte und sie hielten an den Zapfsäulen. Auf dem Gelände standen nur zwei Pkws und ein Lkw. Der Hauptkommissar blieb im Wagen sitzen und unterhielt Watson, der sich fiepend bemerkbar machte. Neben dem Lkw stand ein Mann mit dichtem grauem Bart und Zopf, der den Rauch seiner Zigarette so intensiv inhalierte, als sei es die erste nach langer Zeit. Dirk beobachtete den schlanken, trotzdem muskulösen Mann, der Jeans trug, die ihm irgendwann mal gepasst haben mussten. Überhaupt sah er angeschlagen aus. Die blasse Haut und der ungepflegte Bart verstärkten die tiefliegenden Augenringe. Er hatte etwas an sich, das bedrohlich wirkte. Seine dunklen Augen hatten einen lauernden Blick, der Westermann an ein jagendes Tier erinnerte. Selbst Watson knurrte verhalten, als er den Mann aus dem Fond heraus beobachtete. »Westermann, du spinnst. In jedem Kerl siehst du einen potenziellen Mörder. Mensch, lass gut sein. Watson, sei ruhig, alles in Ordnung.« Hartwig kam zurück und stieg ein. Er reichte Dirk ein Eis und packte sich selbst eines aus. Im hinteren Teil des Wagens fing es an zu rumoren. Der Hund knurrte leise bei jedem Bissen, den die Männer sich genehmigten.

Auf einmal stand der Bärtige unmittelbar neben dem Wagen und starrte die Kommissare mit eisigem Blick an.

*

»Da hinten kann man den Leuchtturm sehen, zumindest seine Umrisse«, rief Stina und fing an, ihre Schritte zu beschleunigen, nachdem sie sich beruhigt hatte. Ihre Fantasie hatte ihr einen Streich gespielt, und sie war froh, auf einer Wiese zu stehen und nicht mehr im Wald umherirren zu müssen.

Lotta erreichte die Freundin, und sie stapften weiter Richtung Leuchtturm. »Müsst ihr so schnell gehen?«, maulte Tilda, die hinter ihren Freundinnen her stolperte. Ihr Mantel wehte bei jedem Schritt auseinander und sah aus wie schlagende Flügel, als sie sich um die eigene Achse drehte, um den Wind durch ihre Haare wehen zu lassen. Die schmale Straße zum Turm erschien ihr endlos, und sie verspürte überhaupt keine Lust mehr, noch weiterzugehen. Sie hätte es vorgezogen, sich auf eine Bank zu setzen. Sie steckte gähnend die Hände in die Manteltaschen und schlurfte hinterher.

Der Nebel wurde dichter und zog vom Wasser aus über die Felder ins Landesinnere. Es war zwar kein bisschen Ostsee zu sehen, aber das Rauschen der Wellen klar und deutlich zu hören. Um die Frauen herum entstand eine milchige Suppe, die sich zäh ausbreitete. Lotta und Stina hatten das Gelände des Leuchtturms erreicht und begutachteten die Umzäunung. Sie warteten auf Tilda. »Sag mal, hast du eigentlich noch andere Klamotten als deine Grufti Outfits?«, fragte Stina.

»Nö«, war die knappe Antwort. »Lass uns ums Grundstück rumlaufen, dann kommen wir runter ans Wasser. Direkt zum Turm können wir sowieso nicht«, schlug Lotta vor. Stina folgte ihr auf dem Wanderweg Richtung Strand. Hinter sich hörte sie leises Knarzen und drehte sich mit unsicherem Gefühl um. Dann sah sie erleichtert, dass Tilda über das grün gestrichene, hüfthohe Metallgeländer kletterte. »He, warum sind wir denn hier? Stellt euch nicht so an! Ihr wolltet doch zu diesem Leuchtfeuer der Historie.« Mit einem Satz landete sie auf der anderen Seite des Zauns. »Bist du wahnsinnig? Das ist verboten!«, fluchte Lotta. »Wenn uns hier jemand sieht. Das gibt richtig Ärger. Dieses Grundstück ist fast historisch. Hier hat der Maler Ernst Ludwig Kirchner einige Sommer verbracht, um seine Bilder zu malen. Unglaublich. Da springt man nicht mal eben über den Zaun.«

»Mann, nun stellt euch nicht an wie Püppchen. Ihr wolltet Abenteuer und Erholung. Wo erholt man sich besser als an einem Leuchtturm. Wir beschreiten den Weg der alten Seebären.«

Sie winkte ihre Freundinnen heran, die an einem kleinen Haus stehengeblieben waren, das sich auch auf dem Grundstück befand. »Ich geh da nicht rüber«, murmelte Stina. »Sei kein Frosch. Wir wollten was erleben oder etwa nicht? Tilda hat recht«, antwortete Lotta und zog ihre Freundin hinter sich her.

Entschlossen liefen sie zum Metallzaun und kletterten ihr nach. Erleichtert rannten sie Tilda hinterher, die mit verschränkten Armen vor dem Leuchtturm stand und ihre Fingernägel begutachtete. Prustend blieben sie vor dem zweifarbig gemauerten Bauwerk stehen. »Das sieht aber urkomisch aus. Ist denen das Geld für die anderen Steine ausgegangen?«, kicherte Stina und betrachtete die farblich unterschiedlichen Mauersteine. »Ne, soweit ich weiß, war der Turm anfangs komplett aus gelben Steinen. Die haben dem Wetter wohl auf der Westseite nicht standgehalten, sodass sie ausgetauscht werden mussten. Ich finde, das hat was«, lachte Lotta und stiefelte einmal um den Leuchtturm von Staberhuk herum. »Es ist toll, auf den Spuren Ernst Ludwig Kirchners zu wandeln, oder?« Stina sah sie fragend an und stapfte in ihren vom Dreck versauten Stiefeln weiter über das Grundstück. Sie entdeckte eine hölzerne Pforte, die auf ein Portal führte. Von dort aus hatte man einen fantastischen Blick über die Ostsee. Der Riegel des quietschenden Tores schlug, nachdem sie hindurchgeschlüpft war, in einem Schnappschloss ein. Die zarte Person betrat eine vorgelagerte Empore, die einem Balkon ohne Geländer glich und jetzt nur einen kleinen Ausblick auf Teile der Ostsee und den Strand bot. Sie war enttäuscht, dass sie nur einige Findlinge sehen konnte, die verstreut im Sand lagen. Das Meer war weitgehend vom Nebel verschluckt worden. »Das müsst ihr euch ansehen!«, rief sie. »Das ist der Hammer.« Sie trat einen Schritt zurück und setzte sich auf eine verwitterte Holzbank, die im geschützten Teil der etwa acht Quadratmeter großen Plattform vor einer Hecke aufgestellt war. Lotta und Tilda kamen über das Rasenstück angelaufen. Sie staunten, als sie die Freifläche betraten. »Wow, da kann man sicher weit gucken, wenn klare Sicht ist, und das Meer bis zum Horizont bestaunen«, flötete Tilda. Sie näherte sich der Felskante, die zum Strand hin senkrecht in die Tiefe abfiel, und wedelte mit den Armen, während Lotta bei Stina stehen blieb. »Halt Abstand, oder willst du den Abgrund runterfliegen«, mahnte sie und presste die Hand auf ihr Herz. Tilda grinste sie an und tänzelte weiterhin gefährlich nahe der Felsklippe herum. »Tanz auf dem Drahtseil«, flötete sie ausgelassen. Der Mantel flatterte wie Fledermausflügel. Es schien, als würde sie jeden Moment abheben. »Lass das! Findest du das cool?«, rief Stina und wurde blass. Ohne Vorwarnung geriet Tilda in ihrer unbekümmerten Art gefährlich ins Straucheln. Sie ruderte mit den Armen und schien das Gleichgewicht zu verlieren. Starr vor Angst standen die Freundinnen da, unfähig, sich zu bewegen und auch nur einen Schritt auf sie zu zu machen. Tilda riss erschrocken die Augen auf, als ein Stück des Bodens unter ihrem Fuß wegbrach. Ein markerschütternder Schrei hallte über die Ostsee.

1 057,94 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
422 стр. 37 иллюстраций
ISBN:
9783839267608
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают