Читать книгу: «Der tote Rottweiler», страница 5

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Noch im letzten Jahr ist Uromi dabei gewesen. Julika sieht sie vor sich, wie sie sich in ihrem Rollstuhl strafft, wie ihre himmelblauen Augen aus dem zerknitterten Gesicht leuchten und wie sie – wie auf jedem der Geburtstage und mit fast immer identischen Worten – anhebt, die Geschichte von der komplizierten Geburt ihres Sohnes Gunter zu erzählen, im Jahr 1943, wie damals, als sie schon im Kreissaal voller Schmerzen in den Wehen lag, die Ärzte sie untersuchten und plötzlich laut zu lachen anfingen, weil sie schon sehen konnten, dass es ein Junge war. An der Stelle kicherte Uromi immer wie ein kleines Mädchen und Opa guckte peinlich berührt, bevor Uromi wieder ernst wurde und auf den Krieg zu sprechen kam. 1943 war ja schon Krieg, aber noch nicht in ihrem Städtchen, hier fielen die Bomben erst ein Jahr später; doch die Angst, die war natürlich da. Sie hatte immerhin das Glück, dass wenigstens ihr Mann zu Hause war, wegen seiner wichtigen Position im Werk. Die schwere Zeit, die kam erst nach dem Zusammenbruch, da hatten sie buchstäblich nichts, da wurde ihnen alles genommen. Aber zum Glück sei Gunter da ja schon aus dem Ärgsten raus gewesen.

„Was war der für ein liebes Kind!“

Das liebe Kind ist jetzt ein großer, fast kahlköpfiger Mann mit fleischigen Händen und einem dicken Bauch, bedeckt von einem straff anliegenden weißen Hemd, über das wie eine fette Raupe ein grüngelbgestreifter Schlips kriecht. Opa macht sich daran, die erste Flasche Wein des Tages zu öffnen.

Dieser Wein, trötet er, ein Moselwein, sei ein ganz besonderer Jahrgang, den er extra aufgehoben habe für den heutigen Anlass. Schon während er die Weinkelche aus dem Schrank holt, fallen Worte wie Abgang und Bouquet, blumig und erdig, mit denen Julika nicht viel anfangen kann.

Opa und sein Freund Klaus verstricken sich in eine lebhafte Debatte über die Preis- und Qualitätsunterschiede zwischen Aldi und Lidl, vor allem bei Champagner, Scampis und Schinken. Von dort aus gelangen sie problemlos zum Schützenverein, nun auch mit Beteiligung von Julikas Vater, der wie die beiden anderen Männer im Vorstand des Vereins ist, und sprechen über die bevorstehenden Wettkämpfe, überlegen, wer wohl die besten Chancen hat und wie die Zukunft von Christian aussieht, der so offenkundig begabt ist fürs Schießen – dabei gucken alle zu Christian hinüber, der immer noch mit seinem Handy beschäftigt ist und nichts hören kann, da er Kopfhörer übergestülpt hat. Sie streifen kurz und achselzuckend das Thema Bello, auch ihnen ist es ein Rätsel, wie ein so großer starker Hund einfach verschwinden kann, und sie einigen sich darauf, dass sie eben abwarten müssen. Ihre Stimmen werden leiser, Julika kann das Wort Mexiko heraushören, aber der Rest bleibt unverständliches Gemurmel.

Die Frauen, die am anderen Ende des Kaffeetisches sitzen, haben inzwischen das Thema Chor am Wickel. Julikas Oma quetscht ihre Tochter nach dem Neuen aus, dem jungen Mann mit der begnadeten Baritonstimme, bei dem Astrid seit einiger Zeit Yogastunden nimmt, und Oma Barbara meint, sie überlege, ob sie nicht auch Yoga machen solle, sie werde ja nicht jünger und spüre langsam all ihre Gelenke, und vielleicht helfe Yoga da.

Bestimmt, bestärkt sie Julikas Mutter und fügt fast schwärmerisch hinzu, ja, der Mann sei wirklich wunderbar, der habe so eine fröhliche, spielerische Art, dass man sich in seiner Gegenwart ganz leicht fühle. Dazu lächelt sie still.

Julikas Vater, der ihrer Mutter gerade Wein nachschenken will, hält inne und fragt stirnrunzelnd:

„Soll ich jetzt eifersüchtig werden oder was?“

Opa Gunter hält ihm sein Glas hin, lacht glucksend auf und sagt:

„Nein, lieber Schwiegersohn, das soll ein Ansporn sein, du weißt schon, auf Händen tragen und so. Das wollen die Frauen doch!“

Worauf die Oma ihm ein schnippisches „Was weißt denn du schon von Frauen?“ hinwirft und einen kräftigen Schluck Wein nimmt.

Betretenes Schweigen.

Da denkt Julika: Jetzt. Jetzt ist der richtige Moment, jetzt sage ich es, und bevor sie es sich anders überlegen kann, spricht sie aus, was ihr die ganze Zeit durch den Kopf geht:

„Ich habe auf dem Weg hierher ein Denkmal für Zwangsarbeiter gesehen, gleich hinterm Fluss.“

Aller Köpfe wenden sich ihr zu. Die Gesichter sind verschlossen, abwartend.

„Kennt ihr das?“, fährt Julika fort. „Hier, ich hab’s auf dem Handy?“

Sie hält ihr Handy mit dem Bild hoch und zeigt es herum.

„Wusstet ihr von den Zwangsarbeitern? Dass ganz viele von denen hier gestorben sind, sogar kleine Kinder?“

Für einen Moment wird es noch stiller.

Und dann reden alle auf einmal.

„Mädchen, das Denkmal steht doch schon lange dort. Die Debatten haben wir hinter uns.“

„Ach, du großer Gott, das Thema wieder! Ich dachte, damit sind wir durch.“

„Mein Vater ist im Krieg gefallen. Ich kann mich gar nicht an ihn erinnern.“

„Jetzt verdirb Opa doch nicht seinen Geburtstag.“

„Hast du das Denkmal wirklich noch nie gesehen? Da sind wir doch schon so oft dran vorbeigefahren.“

„Ach ja, das war wirklich eine schlimme Zeit damals. Gott sei Dank ist das lange her.“

Opa setzt sich auf und trompetet:

„Ach, Kind, du hast doch keine Ahnung, wie das damals war!“

„Dann erzähl’s mir doch.“

Er zieht beide Augenbrauen hoch und blickt sie erstaunt an.

„Ja, habt ihr das denn nicht in der Schule gehabt? Die reden doch andauernd von der NS-Zeit, als gäb’s keine anderen Probleme!“

„Schon. Aber mehr so allgemein. Nicht, wie das hier bei uns war“, antwortet Julika. „Mit den Zwangsarbeitern und so.“

„Mein Kind, ich will dir mal eins sagen: Das waren damals ganz andere Zeiten, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Ohne die Arbeiter aus dem Osten wäre hier die Produktion zum Erliegen gekommen, wir hätten die Front nicht mit ausreichend Waffen und Munition versorgen können. Und dann? Hätten wir etwa Stalin und die Bolschewisten gewinnen lassen sollen? Wenn die Amerikaner uns damals nicht in den Rücken gefallen wären …“

Opa winkt ärgerlich ab.

„Aber hör mal“, fährt Julikas Vater auf. „So einfach kannst du dir das aber nicht machen. Die Amerikaner …“

Opas Freund Klaus will sich einmischen, aber Oma Barbara legt beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm, klopft mit dem Löffel an ihr Glas und hebt energisch die Stimme:

„Ich möchte keinen Streit an Opas Geburtstag. Lassen wir die alten Zeiten ruhen und stoßen wir auf Opas neues Lebensjahr an.“

Sie hebt ihr Glas.

„Denn es gibt noch etwas zu feiern.“

Sie macht eine Pause, blickt in die Runde und verkündet dann strahlend:

„Die Gewebeproben sind negativ. Opa hat keinen Krebs.“

Alle greifen erleichtert nach ihren Gläsern und prosten Opa und Oma fröhlich zu. Außer Christian, der hat nichts gehört und daddelt weiter auf seinem Handy.

Julika freut sich für ihren Opa wie alle anderen, auch wenn sie von dem Krebsverdacht gar nichts gewusst hat. Sie ärgert sich, dass Oma das Gespräch über ihre Frage einfach so abgewürgt hat, was sonst niemanden zu stören scheint. Doch Julika bringt kein Wort des Protests heraus. Alle anderen sind schnell wieder in lebhafte Gespräche vertieft. Über so wichtige Themen wie den Kauf eines neuen SUVs, den Opas Freund Klaus beabsichtigt.

In Julika wächst das schale Gefühl von Fremdheit.

6

Bobi sitzt in seinem Zimmer vor seinem Laptop und klickt sich durch die Seiten, die Manuel für alle hochgeladen hat. Unglaublich, was der Streber in so kurzer Zeit alles gefunden hat: Jede Menge Daten, Zahlen, Fakten, Artikel, Fotos, Statistiken über die Verbreitung und den Anstieg der weltweiten Waffenproduktion. Erst hat Bobi keine Lust gehabt, sich diesem Wust zu stellen, dann aber hat er überlegt, wenn Manuel sich schon so eine Mühe macht, kann er ja wenigstens mal gucken. Und je länger er guckt, desto interessanter wird es. Zum Beispiel stellt er fest, dass Deutschland zu den zehn größten Waffenproduzenten der Welt gehört. Eingesetzt werden die Waffen weltweit, in bewaffneten Konflikten, gemeinhin Krieg genannt, aber auch bei Polizeieinsätzen, bei Terrorangriffen, Überfällen und so weiter. Und es sieht so aus, als stünde die Zahl der durch Schusswaffen getöteten Menschen im direkten Verhältnis zur Zahl der vorhandenen Waffen.

Bobi versteht das so: Sind Waffen vorhanden, werden sie auch genutzt. Ganz einfach.

Und außerdem: Waffen werden hergestellt und gehandelt wie jedes andere Konsumgut, sagen wir: Kochtöpfe. Zwar gibt es Gesetze, die verhindern sollen, dass Waffen in Kriegsgebiete geliefert werden, aber das zu umgehen, scheint kein größeres Problem zu sein. Es gibt Untersuchungen, ja, aber es kommt selten wirklich was dabei heraus. Immerhin gibt es eine Menge Leute, die sich gegen die Waffenproduktion engagieren und versuchen, heimliche, illegale Deals ans Licht zu bringen. Es gibt sogar eine Anzeige gegen das Werk wegen illegaler Waffenverkäufe nach Mexiko.

Eine Behauptung ist so ungeheuerlich, dass sie sich in Bobis Kopf gräbt:

Alle vierzehn Minuten stirbt ein Mensch durch eine Waffe aus dem Werk.

Ob das stimmt? Und wenn, was bedeutet das?

Mitten in seine Überlegungen pfeift sein Handy. Amal schreibt:

Wer kommt mit ins Waffenmuseum? Morgen um 5?

Da macht sein Herz einen Hüpfer, einen ganz kleinen. Was soll das denn, denkt er verwundert, das Waffenmuseum ist doch nun wirklich nicht aufregend … Da war er schon mal, in der sechsten Klasse, es gab jede Menge Vitrinen mit Gewehren und Pistolen, Tafeln mit Texten und Bildern, so Museumskram eben.

Eines hat er aber noch ganz genau in Erinnerung: Ein uraltes Auto, mit einem Verdeck aus Stoff, das zwischen all den Waffen stand. Die Lehrerin hatte ihnen aufgetragen, sich einen Gegenstand, ein Thema genauer anzugucken, und er hat sich das Auto ausgesucht, einfach, weil es schön aussah, so blank poliert, so altertümlich. Vor allem die Fußpedale hatten es ihm angetan, das waren richtige Kunstwerke; es gab drei wie heute auch, aber anders angeordnet: Das Gaspedal war in der Mitte, die Bremse rechts, die Kupplung links. Und damit man das richtige Pedal traf, war die Trittfläche des Kupplungspedals wie ein Ring mit einem K in der Mitte geformt, die des Bremspedals mit einem B. Elegant.

Bobi sieht das genau vor sich, vielleicht hat er die Zeichnung noch irgendwo. Aber warum im Waffenmuseum ein Auto gezeigt wurde, daran kann er sich nicht mehr erinnern. Obwohl, wenn er sich das genau überlegt, können Autos ja auch Waffen sein, sogar im ganz normalen Verkehrsalltag. Aber so wird das sicher nicht gemeint gewesen sein.

Klar will er mit ins Museum! Seine Finger tippen flink: Ich und thumb up.

Kaum hat Bobi seine Nachricht abgesendet, kommt eine von Manuel:

Sorry, muss arbeiten. Moped und so. Viel Spaß.

Die nächste ist von Natalie:

Naturfreunde Meeting. Nimm die Kamera mit, Bobi.

Dazu ein trauriges Gesicht.

Amal antwortet:

Einer ist mehr als keiner. Bis morgen, Bobi.

Bis morgen!

Bobis Herz macht wieder einen kleinen Hüpfer.

Bobi ist pünktlich.

Das Waffenmuseum liegt nahe am Fluss, im Zentrum der Stadt, nicht weit von der Casa Acracia entfernt. Kleiner Fußweg.

Er zieht die Kamera aus der Tasche, macht ein paar Aufnahmen und guckt immer wieder in die Richtung, aus der Amal kommen müsste. Aber sie kommt und kommt nicht. Also liest er sich die Info-Tafel an dem riesigen Gebäude durch, in dem das Museum untergebracht ist.

Der mehrstöckige Klotz wurde vor etwa hundert Jahren gebaut, und zwar extra für die Abwicklung eines sehr großen Waffenauftrags. Was muss der für Schotter gebracht haben, überlegt Bobi, wenn sie sich dafür einfach mal eben ein so gigantisches Teil hinstellen konnten. Angefangen hatte die Waffenproduktion hier im Ort schon hundert Jahre davor, in dem Gebäude gleich gegenüber vom Museum, heute Rathaus, damals ein leerstehendes Kloster. Auf Beschluss des Königs.

König, Kloster, Kanonen – passt doch gut, denkt Bobi. Der König hat seine Waffen von Priestern segnen lassen, wenn er seine Soldaten in den Krieg schickte. Der gegnerische König natürlich auch. Wonach entscheidet Gott, wen er siegen lässt? Würfelt er? Denn es gewinnen ja nicht immer die Guten, oder? Nur die, die Waffen herstellen und verkaufen, die siegen immer. With god on their side

Als Bobi mit dem Lesen fertig ist, läuft er zappelig hin und her, wartet und wartet auf Amal. Dann studiert er noch mal die Bilder auf der Infotafel, um dann wieder vor dem Eingang auf und ab und ab und auf zu laufen, wie ein Tiger im Käfig. Hat er sich in der Zeit vertan? Er zieht sein Smartphone aus der Tasche, guckt auf die Uhr. Siebzehn Uhr achtzehn. Soll er ihr eine Nachricht schicken? Wie sieht das denn aus? Er will doch nicht drängeln. Er stopft das Teil zurück in die Tasche.

Da endlich kommt Amal auf ihrem Rad angebraust. Auch wenn Bobi wegen der langen Warterei ein bisschen angesäuert ist – kaum ist sie vom Rad gehüpft und hat ihm fröhlich lächelnd ein „Mensch, sorry, hab mich mit der Zeit vertan“ entgegengerufen, ist er einfach nur happy und sagt:

„Jetzt bist du ja da.“

An der Kasse sitzt eine grauhaarige alte Dame und lächelt den beiden freundlich entgegen:

„Schön, dass ihr jungen Leute hierherkommt“, sagt sie. „Schließlich hat unser Ort den vier Firmen, die hier ausstellen, seinen Wohlstand zu verdanken.“

Die alte Dame wünscht ihnen viel Spaß beim Rundgang, zeigt auf den Eingang gegenüber und drückt auf einen Schalter.

Neonleuchten flackern auf, in den eben noch dunklen Räumen wird es taghell. Bobi und Amal sind die einzigen Besucher.

„Hey, cool“, flüstert Bobi. „Keiner hier, wir können machen, was wir wollen!“

Amal kichert und flüstert zurück:

„Und – was willst du machen?“

„Äh, das Museum angucken, was denn sonst?“, antwortet Bobi verwirrt.

„Ach so!“, meint Amal, wirft ihm ein Lächeln zu und stellt sich dann vor das erste Ausstellungsstück.

Bobi zückt die Kamera. Da weiß er wenigstens, was zu tun ist.

„Schwanzhammer“, liest Amal laut und muss wieder kichern. „Was ist das denn?“

Die beiden stehen vor einer klobigen Maschine mit einem Holzarm, der am Ende einen Metallklotz hat.

„Damit haben die geschmiedet, Gewehrläufe“, sagt Bobi und versucht, sachlich zu bleiben. „Schlaues Teil.“

Ist es wirklich.

Die Technik fasziniert ihn. Und Amal auch. Beide schieben sich in einer Art Zeitreise von einer Vitrine zur nächsten. Wirklich erstaunlich, was Menschen so alles ausgetüftelt haben, um Feuerwaffen herzustellen und sie immer raffinierter, bedienungsfreundlicher und effizienter zu gestalten. Echte Meisterleistungen.

Die alten Waffen sind regelrechte Schmuckstücke mit ihren vielen Verzierungen, Maserungen, Schlössern, Bolzen und Läufen, stolz präsentiert, als wären sie ganz „normale“ Gebrauchsgegenstände. Auf Tafeln wird ausführlich erklärt, mit welch handwerklichem Geschick die Waffen hergestellt wurden. Dazu Bilder von findigen Ingenieuren, fleißigen Handwerkern, prächtigen Produktionsstätten und stolzen Eigentümern.

Aber nirgends, wirklich nirgends ist die Rede davon, wozu Waffen gebaut werden, was damit gemacht wird. Töten und Tod, Blut, Verletzungen und Verstümmelungen kommen einfach nicht vor. Nur indirekt. Auf einem Plakat heißt es: Statt Säbel und Bajonett kommen bei Gefechten auf kurze Distanz Faustfeuerwaffen zum Einsatz.

Also keine Berührung mehr mit dem anderen Menschen. Man muss dem anderen keine Klinge mehr in den Bauch stoßen, sondern bedient einfach den Abzug und paff fällt der andere um.

Sauber.

„Guck mal“, sagt Bobi zu Amal. „Mitte des 19. Jahrhunderts erfinden sie den Revolver. Sehr praktisches Teil! Bewährt sich bei der Landnahme im Westen Amerikas und in den Kolonialkriegen in Asien und Afrika – frühen asymmetrischen Konflikten. Was soll denn das heißen?“

Amal zuckt die Achseln, zieht ihr Smartphone aus der Tasche und guckt nach.

„Hier: Ein asymmetrischer Krieg ist eine militärische Auseinandersetzung zwischen Parteien, die waffentechnisch, organisatorisch und strategisch stark unterschiedlich ausgerichtet sind. Weil sich die asymmetrische Kriegsführung …“

„Reicht“, unterbricht sie Bobi. „Also Krieg, wo die einen Ballerwaffen haben und die anderen nur Speere oder was weiß ich?“

Amal steckt ihr Smartphone weg.

„Genau.“

„Das klingt irgendwie so neutral“, sagt Bobi. „Aber eigentlich steht da, Landklauen und die Kolonialkriege waren völlig in Ordnung. Schließlich waren die Europäer ja schlauer, weil sie die tollen Waffen entwickelt hatten. Bah, ist das ätzend. Komm, lass uns gehen, Amal, ich muss mir das nicht reinziehen.“

„Nö, ich will noch gucken“, sagt Amal und vertieft sich in weitere Tafeln über die Geschichte der Waffenproduktion und in alle Zahlen.

Alleine gehen will Bobi nicht, weiter gucken aber auch nicht. Er sucht sich was zum Sitzen, hockt sich hin und schaut Amal zu. Je länger er sie anschaut, desto schöner findet er sie. Beim Lesen bewegt sie die Lippen und die Augenbrauen, als wollte sie alles in sich aufsaugen. Am Ende stellt sie verblüfft fest:

„Krieg ist super für die Rüstungsindustrie! Garant für Arbeitsplätze, Wohlstand für alle! Krass.“

Sie wendet sich von den Tafeln ab und geht in die hinterste Ecke des Raumes.

„Aber guck mal hier, Bobi!“, ruft sie. „Komm mal hierher! Das ist toll! Was denen alles eingefallen ist, als sie keine Waffen mehr produzieren durften! Nach dem Ersten Weltkrieg!“

Sie zeigt auf Nähmaschinen, Messwerkzeuge, Rechen- und Buchungsmaschinen, alles Friedensprodukte aus den zwanziger Jahren. Und da steht auch das Auto, an das sich Bobi erinnert hat.

Er folgt Amal und fährt mit den Händen über den glänzenden Lack des Automobils. Es ist ein echter Oldtimer, fast hundert Jahre alt. Bobi hätte sich gerne mal auf den Fahrersitz gesetzt, feinstes Leder, aber leider geht keine der beiden Türen auf, auch nicht, als er kräftig dran ruckelt. Ob das Ding noch fährt?, überlegt er. Es gibt jede Menge hübsche und durchdachte Details wie die Fußpedale, die tatsächlich genauso aussehen, wie er sie in Erinnerung hat, das K mit dem Ring drum herum für die Kupplung, das Gaspedal mit der glatten Fläche und daneben das B für die Bremse. Am liebsten würde er das nochmal kopieren, aber er hat seinen Skizzenblock nicht dabei. Also überlässt er das Abbilden seiner Kamera.

„Geht doch!“, sagt Amal. „Die können auch was anderes als Waffen. Wie nennen die das? Rüstungskonversion.“

Sie tippt mit dem Finger auf das Wort.

„Könnten die heute doch auch machen, oder?“

„Klar. Aber wahrscheinlich würden sie damit nicht so viel Geld machen. Komm, lass uns gehen.“

Er versteht nicht, was Amal so fasziniert. Das Wesentliche haben sie doch gesehen! Und draußen scheint die Sonne. Und überhaupt.

Amal möchte aber noch wissen, ob sie was über die Zwangsarbeiter findet. Sie erzählt Bobi von den beiden Denkmalen und sucht auf den Tafeln über die Jahre 1933-1945 nach Informationen.

Bobi hat immer noch keine Lust, mehr zu lesen, und filmt die Tafeln ab. Und er nimmt auch Amal auf, wie sie sich zu ihm umwendet und verwundert sagt:

„Eh, hier steht, die Nazi-Zeit war die zweite Geburtsstunde für die Waffenfirmen!“

Sie zeigt mit dem Finger auf die Zahlen:

„1938, als das Werk sein 125-jähriges Jubiläum feierte, hat sich die Belegschaft in nur 5 Jahren versechsfacht, die Stadtbevölkerung ist um 55 Prozent gewachsen. Arbeitsplätze ohne Ende, alle konnten gut verdienen. Sogar Häuser wurden für sie neu gebaut, die Adolf-Hitler-Siedlung. Boah. Ich glaub, das ist heute Kastanienhof.“

Bobi nickt und nimmt weiter auf, Amals Gesicht, Amals Staunen. Er hat das Gefühl, sie nimmt alles, was sie erfährt, sehr persönlich.

Und dann findet Amal endlich was über Zwangsarbeiter. Aber nur ein paar Sätze. Weil die Rüstungsbetriebe im Krieg wegen der hohen Nachfrage nach Waffen unter Arbeitsdruck standen und die Deutschen das nicht alleine schafften, wurden Menschen aus den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten hierher zur Zwangsarbeit verschleppt. Punkt. Es wird nicht gesagt, wie viele das waren, unter welchen Bedingungen die gearbeitet haben, wie viele ums Leben gekommen sind. Nichts dergleichen. Als hätte es sich um Maschinen gehandelt, die mal eben von hier nach da gebracht wurden.

Bobi hat derweil Fotos aus der Zeit entdeckt, und die sagen ihm mehr als die Texte. Drei deutsche Soldaten in leicht gebückter Haltung auf dem Vormarsch mit den tollen Gewehren vom Werk in der Hand: So sehen Helden aus! Die Großaufnahme einer praktischen Pistole für die Hosentasche: Peng, weg mit dem Feind! Deutsche Soldaten mit einer von den hiesigen Ingenieuren entwickelten Fliegerabwehrkanone, die auch im Original aufgestellt ist. „Fremdarbeiter“ bei einer katholischen Messe im Barackenlager – alle scheinen zufrieden zu sein.

Amal überfliegt noch schnell die Tafeln mit den Informationen über das, was nach dem Krieg geschah, wie die Stadt sich „tapfer“ dem Wiederaufbau gewidmet, die ehemaligen Waffenfirmen zivile Güter hergestellt haben, bis – endlich! – im Jahr 1956 die Bundeswehr gegründet wurde und die Rüstungsindustrie wieder auf vollen Touren lief: Feinste Waffen wurden entwickelt, die sich internationaler Anerkennung erfreuten.

„Bis heute!“, sagt Amal.

„Weißt du“, sagt Bobi. „Ich glaube, das hier ist kein Waffenmuseum, sondern ein Waffen-Lob- und Waffen-Lobby-Museum. Alles nur Werbung.“

„Klar! Die Frau hat doch gesagt, das Museum haben die vier Waffenfirmen bei uns im Ort gesponsert.“

„Geschmiert, oder?“, meint Bobi. „Das heißt, die geben Geld und bestimmen, was damit gemacht wird?“

Amal nickt.

Als sie in den Vorraum kommen, schaltet die Frau an der Kasse das Licht in den Museumsräumen aus und bittet die beiden, etwas ins Gästebuch zu schreiben. Amal nimmt das Buch und liest den letzten Eintrag laut vor:

Seit 200 Jahren werden hier im Ort Waffen hergestellt. Ich bin froh, dass Waffen nicht mehr zum Einsatz kommen. Herzlichen Glückwunsch zum 200. Jahr. Cosi.

„Echt mal!“, sagt Bobi und muss an den Satz denken, der sich ihm gestern eingeprägt hat, und den schreibt er darunter:

Alle vierzehn Minuten stirbt ein Mensch durch eine Waffe aus dem Werk. Bobi.

Amal überlegt eine ganze Weile. Sie nimmt den Stift in die Hand und schreibt schließlich:

Frieden schaffen ohne Waffen! Amal.

Draußen bleiben beide einen Moment unschlüssig stehen. Es ist früher Abend, die Sonne scheint, eine Katze streicht über den Vorplatz, über die Brücke brausen Autos.

„Hast du Lust …“, sagt Amal.

Und Bobi im selben Moment:

„Eis essen?“

„Bei Luigi?“

Ihre Schritte knirschen auf dem Kies, Amal schließt ihr Fahrrad ab und schiebt es neben Bobi her.

Sie haben es nicht weit, Luigis Eisdiele ist gleich jenseits der großen Straße, kurz vor der Brücke. Luigi hat den Laden etwa zur selben Zeit aufgemacht wie Bobis Großeltern ihr Restaurant. Aber Luigi ist noch da, macht sein Eis nach wie vor selber, aber längst nicht mehr alleine. Auch hinter dem Tresen stehen jetzt andere aus der Familie, die kleine Eisdiele ernährt viele.

Es ist voll, es gibt keinen Platz mehr zum Sitzen, weder drinnen noch draußen, und vor dem Ladentisch steht eine Schlange.

Als sie endlich dran sind, bestellt Amal für sich eine Waffel mit zwei Kugeln, Kirsch und Haselnuss.

„Echt mal?“, sagt Bobi ungläubig, denn seine Lieblingssorten sind ebenfalls Kirsch und Haselnuss, und er will sie auch in der Waffel.

„Andere Sorten gehen gar nicht!“, strahlt Amal ihn an. „Und Kirsch muss immer unten sein! Weil, das ist weniger süß.“

Genüsslich fährt sie mit der Zunge über die obere Kugel und fügt hinzu:

„Haselnuss ist gut, aber Luigis Kirscheis ist genial.“

„Stimmt“, sagt Bobi. „Vor allem gibt es gar nicht überall Kirsch.“

„Komm, wir setzen uns auf die Mauer da drüben“, sagt Amal. Ihr Rad lässt sie stehen.

Sie sitzen auf dem Mäuerchen, lassen die Beine baumeln und schlecken bedächtig ihr Eis. Bobi genießt den kühlen, süßen Sahneschmelz im Mund, die warme Sonne im Rücken und Amals Arm ganz nah.

Als Amal die letzten Krümel ihrer Eiswaffel den schon nachdrücklich piepsenden Spatzen zugeworfen hat, gibt sie einen zufriedenen Seufzer von sich, als wollte sie etwas sagen, bleibt aber still.

Bobi bricht ein Stück von seiner Waffel ab und wirft den Spatzen was zu. Immer mehr von den kleinen, braungrauen Federbällchen kommen herangeflattert, breiten kurz die Flügel zum Landen aus, trippeln eifrig hin und her, picken hier und da und dort, wobei sie sich andauernd nervös umgucken. Wer einem anderen zu nahekommt, wird weggejagt. Aber woran sich festmacht, wer stärker ist und wer nachgeben muss, kann Bobi nicht ausmachen. Die ganz Schlauen, die schnappen sich sowieso ein größeres Stück und fliegen damit irgendwohin, wo sie in Ruhe speisen können.

„Muss echt anstrengend sein, das Fressen für die“, sagt Bobi. „Stell dir vor, du müsstest ständig aufpassen, dass ich nicht an dein Eis gehe!“

„Deshalb hab ich’s doch so schnell aufgegessen“, lacht Amal, und ihr Grübchen kringelt sich. „Man kann ja nie wissen!“

„Meinst du?“, fragt Bobi erstaunt. „Meinst du echt, Menschen sind auch so?“

„Heißt doch so!“, meint Amal zögernd, als sie merkt, dass Bobi das ernst meint. „Der Mensch ist des Menschen Feind. Oder so.“

„Quatsch“, sagt Bobi. „Warum denn das?“

„Ich glaub’s ja auch nicht. Aber alle sagen das!“

„Alle! Weißt du, was mein Opa da immer sagt: Fresst Scheiße! Millionen Fliegen können nicht irren!“

Amal gluckst.

„Cool.“

Dann hüpft sie vom Mäuerchen und sagt:

„Schaffst du noch ein Eis? Ich lad dich ein!“

„Aber nur eine Kugel! Kirsch!“

Er schaut ihr nach, wie sie sich anstellt, an die Reihe kommt, ein paar Worte mit Andrea wechselt, einem aus ihrer Schule, der sie bedient, wie sie bezahlt und mit dem Eis zurückkommt.

Das Kirschrot passt perfekt zu den schwarzen Haaren von Amal, denkt Bobi, zieht die Kamera aus seiner Tasche und fotografiert Amal, wie sie mit je einer Eistüte in der Hand – beide Kirsch – auf Bobi zutanzt. Federleicht.

Kaum hat sie Bobi sein Eis gegeben und sitzt wieder auf dem Mäuerchen, sagt sie:

„Ich will dich mal was fragen.“

„Ja?“, sagt Bobi, und er spürt sein Herz klopfen.

„Also, ich will wissen …“, fängt Amal an, sagt aber nichts, sondern konzentriert sich auf ihr Kirscheis.

Bobi wartet ab und sagt nichts. Die Stille zwischen ihnen kann er gut aushalten. Es ist eine vertraute Stille, auch wenn er selber angespannt ist und unbedingt erfahren will, was sie wohl von ihm wissen möchte.

Amal braucht lange, bis sie endlich mit der Sprache rausrückt.

„Was meinst du, Bobi?“, sagt sie schließlich und guckt Bobi so intensiv an, dass er spürt, wie ihm das Blut ins Gesicht schießt. „Sind alle, die im Werk arbeiten, Schuld am Tod von Menschen, die mit den Waffen, die im Werk gemacht werden, verletzt oder getötet werden?“

Bobi ist so verblüfft, dass er erstmal kein Wort herausbekommt. Das hat er nun wirklich nicht erwartet.

„Ich will das wissen, echt“, sagt Amal und schlürft den letzten Rest Eis aus der Waffel.

„Puuh“, sagt Bobi. „Weiß nicht. Erstmal sind doch die Schuld, die mit den Waffen schießen, oder?“

Amal nickt.

„Stimmt.“

„Na ja“, fügt Bobi hinzu. „Außer, sie verteidigen sich. Dann wäre das Notwehr. Oder sie sind bei der Polizei. Die dürfen schießen, wenn es sein muss.“

„Klar. Aber mal angenommen, es gibt keine Waffen, dann kann keiner schießen. Egal, aus welchem Grund. Dann müssten alle ihren Stress irgendwie anders lösen.“

„Genau. Ist doch unser Thema: Frieden schaffen ohne Waffen“, sagt Bobi und schaukelt mit den Beinen. „Aber wie das gehen soll … Keine Ahnung. Ich glaub, darüber haben sich schon ganz andere den Kopf zerbrochen. Und nix ist passiert.“

Amal schweigt. Dann sagt sie:

„Und was ist mit Ghandi?“

„Stimmt. Der wollte keine Gewalt, keinen Krieg. Und ich glaub, die Inder hatten Erfolg damit.“

„Ja. Indien wurde unabhängig“, sagt Amal. „Aber dann gab’s Krieg mit Pakistan. Richtig fett.“

„Was du alles weißt!“, staunt Bobi.

„Ich hab einen Dokumentarfilm gesehen.“

„Willst du deshalb wissen, ob die Leute, die im Werk arbeiten, Schuld haben an Krieg, oder warum?“, fragt Bobi.

„Weil …“, antwortet Amal sofort, zögert dann aber und fügt erst nach einer Pause hinzu: „Na, wegen dem, was Patrick gesagt hat: Dass wir hier alle von der Waffenproduktion leben, weil es sonst nicht viel Arbeit gibt in der Gegend. Natalie und ihre Eltern zum Beispiel, die Eltern arbeiten auch im Werk.“

„Genau … Eh, mit denen können wir doch ein Interview machen!“, sagt Bobi und ist sofort begeistert von seiner Idee. Etwas tun ist ihm tausendmal lieber als reden. „Und wir fragen, was die davon halten!“

„Cool“, sagt Amal. „Wenn Natalie mitmacht …“

Sie blickt auf ihre Uhr.

„Ach, du Scheiße! Ich muss los!“

Sie zerbröselt ihr restliches Stück Waffel und wirft die Krümel auf den Weg.

„Guck mal“, sagt sie zu Bobi, lässt sich vorsichtig von der Mauer runter und zeigt auf die eifrig pickenden Spatzen. „Wenn genug da ist, gibt’s keinen Stress!“

„Aber aufpassen tun sie trotzdem“, lacht Bobi. „Guck!“

„Na, die haben ja auch Spatzenhirne!“

Bobi springt von der Mauer, alle Spatzen flattern hoch.

„Soll ich dich nach Hause bringen?“

„Nee, sorry, geht nicht, dauert zu lange. Muss mich beeilen! Bis Morgen!“

Mit schnellen Schritten schnappt sie sich ihr Rad, winkt Bobi noch einmal zu und saust los. Die Spatzen flattern wieder auf den Weg runter und fressen weiter.

„Danke fürs Eis!“, ruft Bobi Amal hinterher.

Auf dem Heimweg erwischt er sich dabei, wie er Amals tänzelnde Schritte nachmacht. Ohne Eistüten in der Hand. Er freut sich schon darauf, die Bilder runterzuladen und anzugucken. Amal ist so schön.

Erst hält Natalie nicht viel von der Idee, ihre Eltern zu interviewen.

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