Читать книгу: «Der tote Rottweiler», страница 3

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Julika schläft. Die Sonne scheint durchs offene Fenster in ihr Zimmer, doch Julikas Bett steht im Schatten, denn Julika schläft gerne und lange. Und abends bleibt sie ebenso gerne lange auf und liest, bis ihr die Augen zufallen.

Obwohl Julika heute erst zur dritten Stunde muss und das abends auch laut verkündet hat, wird sie schon um sieben von ihrer Mutter geweckt, erst vorsichtig, dann energisch, weil Julika sich nicht gleich rührt. Endlich macht sie die Augen auf, guckt auf den Wecker, schließt die Augen sofort wieder und brummt:

„Hab heut später.“

„Ich weiß“, antwortet ihre Mutter. „Aber Christian ist krank, er hat Fieber. Ich hab Sanya angerufen, die hat zum Glück Zeit und kommt gleich.“

„Super“, sagt Julika und dreht sich auf die andere Seite.

„Bitte, steh auf Julika. Wenn irgendwas ist mit Christian … Bitte! Ich muss jetzt los, bin schon spät dran.“

„Der stirbt schon nicht so schnell“, murmelt Julika, aber das hört ihre Mutter nicht mehr. Denn sie ist bereits auf der Treppe, auf dem Weg nach unten und aus dem Haus.

Julika macht keine Anstalten aufzustehen. Ihre Mutter hat die Zimmertür aufgelassen, die von Christian ist mit Sicherheit auch auf; also würde sie ihn hören, wenn er was braucht.

Julika bleibt mit geschlossenen Augen liegen und versucht, sich an den Traum zu erinnern, aus dem ihre Mutter sie gerissen hat. Aber nichts da, alles weg, keine Erinnerung, kein Bild, nur ein vages Gefühl von Verunsicherung. Irgendwie war alles wirr, wackelig, unentschieden, unklar. Aber was? Worum ging es? So sehr sie auch grübelt, die Traumbilder heraufzubeschwören sucht, es bleibt eine große Leere.

Träume faszinieren Julika. Am Wochenende, wenn sie kein Wecker weckt und sie nach dem Aufwachen liegen bleiben kann, kann sie sich meistens an das erinnern, was sie geträumt hat, kann noch einen Zipfel des Traumgeschehens festhalten und dem nachspüren, was in ihrem Kopf vorgegangen ist. Sie versucht immer, sich einen Reim drauf zu machen, was ihr allerdings nur selten gelingt. Oft sind die Bilder so abstrus, die Ereignisse so eigenartig, dass Julika nicht draufkommt, was sie bedeuten könnten, was der Traum ihr sagen will, wenn er das denn überhaupt will. Denn Julika ist sich gar nicht sicher, ob Träume etwas bedeuten oder ob sie nicht einfach nur der Mülleimer der Seele sind, in den alles reingepackt wird, was einem zu schaffen macht. Dann wäre das Aufwachen die Löschtaste? Aber die Erinnerung an schlimme Erlebnisse lässt sich ja nicht so einfach auslöschen, sonst gäbe es ja keine Alpträume.

Unten klappt die Haustür. Das heißt, Sanya ist gekommen, Sanya, die Perle, die gute Seele des Hauses, jedenfalls sagt Oma das immer. Seit Julika auf der Welt ist, putzt Sanya bei der Familie Schaaf. Früher hat sie Julika und später auch Christian gehütet, wenn die Mutter arbeiten ging und der Vater auf Dienstreise war. Und wenn die Eltern abends ausgingen, hat Sanya die Kinder ins Bett gebracht und ist dageblieben, bis die Eltern zurück waren.

Julika und Christian lieben Sanya heiß und innig. Wenn sie da ist, scheint die Sonne. Sanya kann fröhlich sein wie sonst niemand, mit ihr gibt es immer was zu lachen – selbst wenn eigentlich Schimpfe angesagt wäre. Wenn die Kinder ihre Zimmer nicht aufgeräumt haben, so dass Sanya nicht richtig putzen kann, sind ihre Ermahnungen so witzig, dass sich die beiden sofort an die Arbeit machen und Besserung schwören. Wenn Christian ganz betrübt eine Vier nach Hause bringt, fragt Sanya ihn mit ernster Miene, ob es denn nicht zur Fünf gereicht hätte, und schon erhellt sich Christians Gesicht. Als die Kinder kleiner waren, nahm Sanya sie auf den Schoß, auch heute noch nimmt sie sie ganz selbstverständlich in die Arme, wenn sie Kummer haben. Sie hört ihnen immer zu, wenn sie was zu erzählen haben, und hilft ihnen suchen, wenn sie was verloren haben. „Kinderseele ist wichtiger als sauberer Fußboden“, sagt sie augenzwinkernd, wenn ihre Zeit nur noch zum Fegen und nicht mehr zum Wischen reicht. Den Unterschied sehen die Eltern sowieso nicht.

Als Julika erfuhr, dass Sanya für ihre Arbeit bezahlt wird, also auch fürs Ins-Bett-Bringen und Gute-Nacht-Geschichte erzählen, war sie erst sehr enttäuscht. Wenn Sanya das für Geld macht, dachte Julika, hat sie sie vielleicht gar nicht wirklich lieb, sondern nur bezahlt lieb. Doch den Zahn hat ihr Sanya schnell gezogen.

„Ich muss arbeiten, ich brauche das Geld zum Leben, ich habe auch zwei Kinder. Aber bin ich doch Mensch, nicht Maschine“, hat sie gesagt und Julika in den Arm genommen. Das hat Julika verstanden.

Julika hört, wie Sanya die Treppe heraufkommt, in Christians Zimmer verschwindet und leise mit ihm redet, hört das Wort Wadenwickel, Sanyas unfehlbare Fiebersenk-Methode, hört sie ins Bad gehen, die Tücher nass machen.

Wenig später steckt Sanya kurz den Kopf in Julikas Zimmer und sagt:

„Steh auf, ich mach uns Frühstück!“

Das wirkt sofort. Julika wälzt sich aus dem Bett, duscht, zieht sich an und läuft die Treppe runter in die Küche, wo der kleine Tisch schon für zwei gedeckt ist und Sanya Kaffee kocht, den starken, süßen, krümeligen Sanya-Kaffee.

„Guten Morgen, meine Schöne“ sagt Sanya und begrüßt Julika mit einem Küsschen links, einem Küsschen rechts. „Wie geht’s dir? Was ist mit Bello?“

„Der ist immer noch weg.“

Julika setzt sich an den Tisch und erzählt Sanya, dass sie mehrmals im Wald und beim Schützenhaus nach ihrem Hund gesucht hat, dass sie beim Tierarzt nachgefragt hat, dass sie Zettel mit einem Foto von Bello an die Bäume gepinnt hat, dass sie sein Foto im Internet gepostet und alle gebeten hat, es weiter zu teilen, dass sie andauernd grübelt und nach einer Erklärung sucht. Und dass ihr Bello so sehr fehlt – und nicht nur, weil sie jetzt nachts die Alarmanlage anmachen müssen.

„Weißt du, als Bello da war, hab ich mich gar nicht mehr so viel um ihn gekümmert“, sagt sie. „Er war ja da! Aber jetzt … Ich versteh das nicht!“

„Vielleicht hat jemand Bello geklaut?“, meint Sanya und schenkt den Kaffee in die kleinen Tassen.

„Meinst du?“, überlegt Julika.

Zwei Toastbrote springen aus dem Toaster, sie legt eins auf ihren, eins auf Sanyas Teller.

„Klar, ein reinrassiger Rottweiler ist schon was wert. Aber wer will Bello fangen? Der geht doch nicht einfach mit jedem mit.“

Julika schüttelt den Kopf.

„Kann ich mir nicht vorstellen. Aber ich kann ja mal checken, ob irgendwo ein Rottweiler in seinem Alter angeboten wird. Wenn, dann läuft sowas doch übers Netz, oder?“

Sanya hebt die Schultern, zieht die Augenbrauen hoch und rückt ihren Pferdeschwanz zurecht.

„Keine Ahnung.“

Sie trinkt ihren Kaffee und schmiert Marmelade auf ihren Toast. Als sie fertiggegessen und den Kaffee ausgetrunken hat, holt sie vier Orangen aus dem Kühlschrank und die Saftpresse vom Regal. Orangensaft ist für sie ein Lebenselixier, den wird sie für Christian machen, denkt Julika und fragt:

„Wie geht’s Christian?“

„Nicht gut“, sagt Sanya. „Will nicht essen. Ich bring ihm gleich Saft, trinken muss er.“

Nachdenklich fügt sie hinzu:

„Der hat was, der Junge.“

„Na klar, Grippe oder sowas!“, meint Julika.

„Vielleicht. Vielleicht aber auch anderes. Der Junge ist mehr empfindlich, als ihr denkt.“

„Meinst du, wegen Bello?“

Das kann sich Julika nun gar nicht vorstellen, dass Christian krank wird, weil Bello verschwunden ist. Dem fehlt der Hund garantiert nicht.

„Ach, was“, sagt sie. „Der hat sich einfach irgendwo angesteckt. Der hatte ja schon am Sonnabend Kopfschmerzen, da war Bello noch gar nicht weg.“

Sanya nickt, sagt aber nichts, sondern drückt Julika einen Umschlag in die Hand.

„Lag auf dem Tisch. Von deiner Mama.“

Auf dem Umschlag steht:

Julika, bitte fahr nach der Schule bei Uromi vorbei und bring Darina das Geld in dem Umschlag. Ich schaff das heute nicht.

„Okay, mach ich“, sagt Julika.

„Bleib ein bisschen bei ihnen“, sagt Sanya. „Sie sind so viel alleine.“

Julikas Uromi lebt immer noch dort, wo auch Julika früher gewohnt hat, in Kastanienhof, der Werkssiedlung auf dem Hügel. Das kleine Haus der Urgroßeltern gehört zu der Familiengeschichte, die Julika inzwischen in- und auswendig kann. Wer nicht weiß, wo er herkommt, weiß auch nicht, wo er hinsoll, pflegt ihr Opa zu sagen, der in diesem kleinen Werkshaus aufgewachsen ist.

Die Saga beginnt mit dem Schwiegervater ihrer Uromi, dem alten Ritter, der sich im Werk vom Lehrling zu einem leitenden Ingenieur hochgearbeitet hat und maßgeblich an der Entwicklung neuer Produkte beteiligt war. Er war der erste Bewohner des kleinen Hauses der Siedlung Kastanienhof, die in den dreißiger Jahren für Angestellte und Arbeiter des Werks errichtet wurde. Der alte Ritter überließ das Haus seinem Sohn Hermann, Julikas Uropa, der auch im Werk schaffte, und seiner jungen Ehefrau, der lebenslustigen Offizierstochter Renate – Julikas Uromi. Die beiden bekamen noch im Krieg ihren Sohn Gunter, Julikas Opa, der wie sein Vater und sein Großvater sein Berufsleben im Werk begann und beendete. Und jetzt ist es seine Tochter Astrid, Julikas Mutter, die diese Familientradition fortsetzt, auch sie arbeitet in leitender Position im Werk, genau wie ihr Mann. Das Werk, Familie Ritter bzw. jetzt Schaaf und das kleine Städtchen sind seit Generationen eine unverbrüchliche Einheit. Zu der Julika dazugehört, ob sie will oder nicht.

Julika ist gespannt, ob Uromi sie heute erkennt. Die alte Frau hat gute Zeiten und schlechte Zeiten. Mal ist sie vergnügt und gut gelaunt, mal mürrisch und überhaupt nicht ansprechbar. Ihr Gedächtnis ist ein Sieb, sagt sie selber, wenn sie einen hellen Moment hat. Und wenn sie gar nichts mehr weiß, presst sie die Lippen zusammen und schweigt laut.

Alleine versorgen kann sie sich nicht mehr. Deswegen wurde Darina engagiert, über eine slowakische Firma, preisgünstig. Darina wohnt bei Uroma und kümmert sich Tag und Nacht um sie, gibt ihr ihre Medikamente und ausreichend zu trinken, wäscht und windelt sie, kauft ein, richtet ihr die Mahlzeiten, kocht, putzt. Drei Mal in der Woche hat Darina vier Stunden frei, in der Zeit muss jemand von der Familie bei Uromi sein. Julika ist froh, dass sie das nicht zu machen braucht. Auf Windeln wechseln ist sie nicht scharf, auch wenn sie Uromi ganz gerne mag.

Uropa Hermann ist schon einige Jahre tot, Julika kann sich kaum noch an ihn erinnern. Eine Begegnung aber wird sie nie vergessen, und sobald sie daran denkt, spürt sie wieder den Zorn von damals: Der große Mann mit dem kahlen Kopf und der riesigen Nase hatte sich zu ihr heruntergebeugt und sie gefragt, wie alt sie denn schon sei. „Sieben“, hat sie ihm stolz geantwortet und wollte ihm gerade zeigen, dass sie ihren ersten Eckzahn verloren hat, da erwiderte er: „Was denn – Jahre oder Kartoffeln?“, und zwar so streng, dass Julika sofort antwortete: „Jahre“, obwohl sie sich hinterher am liebsten auf die Zunge gebissen hätte. Was für eine blöde Frage!

Ein oder zwei Jahre danach ist Uropa bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Eigentlich hätte er längst nicht mehr fahren dürfen, alle in der Familie wussten, dass er nur noch schlecht sah und hörte, dass er Schwierigkeiten hatte, Abstände einzuschätzen, aber niemand hatte sich getraut, ihm zu sagen, er solle seinen Führerschein und damit auch seinen geliebten, exzellent gepflegten Daimler Oldtimer abgeben.

So geschah es dann, dass er in einer Rechtskurve zu weit nach links geriet und frontal gegen einen entgegenkommenden Laster krachte. Dessen Fahrerin kam mit dem Schrecken und leichten Schäden am Wagen davon, doch Uropa war tot, und Uroma, die neben ihm gesessen hatte, wurde schwer verletzt. Die Brüche sind zwar zusammengewachsen, die Wunden verheilt, aber so lebenslustig wie vorher wurde sie nie wieder. Also ist eigentlich Uropa dafür verantwortlich, dass es Uroma so schlecht geht, denkt Julika. Oder? Oder die Leute, die wussten, dass er nicht mehr fahren konnte, und nichts gesagt haben? Schwierig. Denn eigentlich ist doch jeder Mensch selbst für das verantwortlich, was er tut. Oder gibt es da Ausnahmen? Kinder sind ja auch erst ab 14 strafmündig. Alte dann irgendwann nicht mehr?

Darina macht Julika die Tür auf und lächelt froh:

„Besuch! Komm rein. Wird sich Uroma freuen, sie ist klar heute!“, sagt sie und fügt hinzu: „Ich bin in der Küche.“

Julika legt den Umschlag mit dem Geld auf die Kommode im Flur und geht weiter ins Wohnzimmer, wo seit einiger Zeit das Pflegebett von Uroma steht, an der Stelle, wo früher ihr Fernsehsessel stand. Auf dem Couchtisch steht ein Strauß Freesien, Uromas Lieblingsblumen, deren Duft das Zimmer füllt. Aber leider nicht ganz, ein unangenehmer Mief dringt doch irgendwie durch. Zum Glück gewöhnt sich Julika immer recht schnell daran. Nur beim Reinkommen ist es ziemlich heftig.

Die Gardinen der Fenster zum Garten sind zur Seite gezogen, so dass Uromi das Blumenbeet, ihren geliebten Apfelbaum und das Vogelhäuschen sehen kann. Sie kennt alle Vogelarten und ihre Gesänge.

Uromi hat den Kopf schon Richtung Tür gewandt, als Julika auf sie zugeht. Über das faltige, eingefallene Gesicht der alten Frau huscht ein vorsichtiges Lächeln. Ihre himmelblauen Augen gucken erst fragend, dann leuchten sie.

„Julika“, sagt sie mit dünner Stimme. „Meine Kleine, wie schön, dass du kommst!“

Julika ist erleichtert, dass Uromi sie erkannt hat und sie nicht lang und breit erklären muss, wer sie ist. Sie nimmt die faltige, mit braunen Flecken übersäte Hand in ihre, beugt sich zu der alten Frau hinunter und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. Weich fühlt sich die Haut an, aber auch ein bisschen wie Papier.

„Was gibt’s Neues?“, fragt Uromi, hält Julikas Hand fest und blickt ihre Urenkelin erwartungsvoll an. Die Pupillen ihrer hellen Augen zittern ein bisschen.

Julika angelt mit dem Fuß nach dem Stuhl hinter sich, setzt sich und erzählt, dass Bello verschwunden ist, dass Christian krank ist, dass das neue Schuljahr angebrochen ist, ihr vorletztes, und was ihr sonst noch einfällt. Nach einer Weile merkt sie, dass der aufgeräumte Ausdruck im Gesicht der alten Frau verschwindet. Sie guckt nur noch starr geradeaus in den Garten und hört oder versteht vermutlich nicht mehr, was Julika sagt. Julikas Hand aber, die hält sie ganz fest.

So bleibt Julika ruhig sitzen, guckt sich im Zimmer um, betrachtet das Sammelsurium von Medikamenten und Pflegemitteln auf dem Nachttisch neben dem Bett, studiert ausführlich das große Bild vom Werksgelände, das Uropa vom Vorstand zu seiner Pensionierung bekommen hat, sein ganzer Stolz, und überlegt, welche Gebäude bis heute dazugekommen sind, mustert die gerahmten Fotos auf der Anrichte, die Bilder von Hochzeiten, Taufen, Firmenjubiläen, auf denen Uromi jung ist und älter und alt, aber immer voller Leben und fit.

Wie mag das sein, wenn man krank im Bett liegt und nicht aufs Gesundwerden, sondern auf den Tod wartet?, überlegt Julika. Tut Uromi das überhaupt? Denkt sie ans Sterben, will sie überhaupt noch leben? Uromi hat nie über so etwas gesprochen, auch nicht, als sie klarer war, jedenfalls nicht in Julikas Beisein. Und nun liegt sie nur noch im Bett, Tag für Tag, angewiesen auf die Hilfe Darinas oder anderer. Was mag ihr da alles durch den Kopf gehen? Oder läuft da gar nichts mehr, weil sich das Gehirn schon aufs Abschalten einstellt?

Uromi atmet tief und regelmäßig, die Augen sind ihr zugefallen, ihr Gesicht ist entspannt, auch der Druck ihrer Hand hat nachgelassen. Vorsichtig löst Julika ihre Hand heraus und legt den Arm der Uroma aufs Bett.

„Schlaf schön“, flüstert Julika und geht hinaus.

4

Bobi fährt mit dem Fahrrad. Er weiß genau, wo der Schrebergarten von Natalie ist. In derselben Siedlung hatten seine Großeltern früher auch ein Grundstück. Nachdem sie das Restaurant aufgemacht hatten, konnten sie den Garten allerdings nicht mehr so pflegen, wie die Gartenordnung es verlangte, und gaben den „Strebergarten“ auf, wie Abuelo Victor ihre Parzelle nannte. Bobi ist sich nicht sicher, ob das an seinem schlechten Deutsch lag oder ob er das Wort mit Absicht gewählt hatte. Als Bobi jetzt auf den Weg zur Gartenanlage Unsere Scholle einbiegt, denkt er, es wird wohl Absicht gewesen sein.

Das Gelände ist von einem hohen Zaun umgeben. Neben dem Eingang hängt ein Schild mit der Gartenordnung. Alle Gärten sind einheitlich groß und erstklassig gepflegt. Pro Grundstück gibt es einen oder zwei Bäume, Hecken und Beete mit Nutzpflanzen oder Blumen, die ordentlich in Reih und Glied stehen, kein fremdes Kraut dazwischen. Die kleinen Rasenflächen sind sorgfältig gemäht, die Wege geharkt, die Zäune dazwischen in Schuss. Doch, Strebergarten passt, denkt Bobi, als er auf die Parzelle von Natalie zuradelt. Zwei Fahrräder lehnen schon am Zaun, Manuels Moped steht daneben.

Alle pünktlich da.

Natalie führt die drei in ihrem Garten herum, auch der ist recht gepflegt, allerdings wächst hier mehr durcheinander als in anderen Gärten.

„Wir stellen die Pflanzen so zusammen“, sagt Natalie, „dass Schädlinge abgehalten werden, ohne Chemie. Meine Mutter macht eine richtige Wissenschaft daraus“, lacht sie. „Aber es klappt! Könnt alles unbesorgt essen.“

Amal bückt sich und zupft was aus einem Beet, das Bobi für Unkraut hält. Aber dann sieht er, dass eine Möhre dranhängt.

„Meine Oma hat auch einen Garten“, sagt Amal, wischt die Erde von der Möhre und beißt rein. Als sie Bobis neugierigen Blick sieht, hält sie ihm die Möhre hin:

„Abbeißen?“

Ehe er sich versieht, hat er genickt und zugegriffen. Eigentlich mag er Möhren nicht besonders, aber Amals Lächeln ist stärker. Er beißt ab, kaut und verzieht das Gesicht. Zwischen seinen Zähnen knirscht Erde.

„Na ja“, lacht Amal, als sie es bemerkt. „Naturkost!“

Und Bobi lacht auch.

Unter dem Apfelbaum liegen ein paar grüne Äpfel, die Natalie aufsammelt und auf den Holztisch vor der Hütte legt. „Den Tisch hat mein Vati selbst gebaut“, sagt Natalie und packt das Filmequipment aus, „die Hütte auch.“

Da es ein bisschen windig ist, montiert sie einen Windkorb ans Mikrofon. Bobi prüft derweil das Licht. Am blauen Himmel stehen ein paar Wolken, also wählt er einen Schattenplatz neben der Hütte, damit die Lichtunterschiede nicht so groß sind, wenn die Sonne mal hinter einer Wolke verschwindet. An der hölzernen Hüttenwand ist auch der Hintergrund einigermaßen ruhig, deshalb stellt er den Stuhl, den Natalie aus der Hütte holt, dort hin und überlegt dabei schon, welche Bilder er für Zwischenschnitte aufnehmen könnte.

Manuel und Amal schauen den beiden fasziniert, aber auch ein bisschen irritiert zu, weil sie nicht so recht wissen, was sie tun sollen.

Natalie montiert das Mikro mit dem Windkorb an die Angel und schlägt vor, dass alle Fragen aus dem Off kommen sollen. Bobi nickt und schraubt die Kamera aufs Stativ.

„Was?“, fragt Manuel.

„Na ja, wer dran ist, setzt sich auf den Stuhl, und wer eine Frage hat, hebt den Finger, und ich halte das Mikro hin und los geht‘s. Ganz einfach.“

„Ja“, sagt Bobi. „Dann muss ich nicht immer mit der Kamera hin und her.“

„Aber ey, wenn wir nun stottern oder Scheiße reden? Mann, ich bin noch nie interviewt worden“, sagt Manuel, der sich nervös eine Zigarette anzündet. Inzwischen ist ihm die Sache etwas unheimlich.

„Das wird doch hinterher montiert“, beruhigt ihn Bobi. „Alles kann wieder rausgeschnitten werden. Und wenn du dich verhaust, hörst du einfach auf und fängst noch mal von vorne an. Ich mach ein paar Bilder von der Umgebung, die können wir dazwischen packen, dann gibt’s keine Sprünge.“

„Außerdem ist das doch erst mal nur für uns“, sagt Natalie leicht gereizt, weil sie endlich loslegen will. „Ob wir davon was für die Präsentation benutzen, wissen wir noch gar nicht. So ein Film entsteht doch erst im Schnitt.“

„Natalie! Du weißt, wie das geht, aber wir doch nicht!“, versucht Amal zu vermitteln. „Also: Wir setzen uns auf den Stuhl, sagen, wer wir sind, warum wir das Projekt machen wollen und so, ja?“

„Genau“, sagt Bobi lächelnd. „Genau so. Und wer fragen will, hebt die Hand und fragt.“

Seine Kamera steht, er kennt seine Aufgabe und freut sich auf die Interviews.

„Können wir?“

Manuel nickt, Amal nickt. Natalie stülpt sich die Kopfhörer über, Bobi stellt sich hinter die Kamera und fragt, wer anfangen will. In dem Moment stellt der Nachbar seinen Rasenmäher an. Alles auf Stopp. Aber noch ehe sie sich richtig ärgern können, ist es schon wieder vorbei. Natalie meint trocken:

„Die sind echt wie Wunderkerzen: Anstecken, abbrennen, fertig“, und setzt ihre Kopfhörer wieder auf.

Aber es ist noch nicht vorbei, der Nachbar auf der anderen Seite muss erst von Natalie begrüßt werden und danach dringend drei Hölzer schreddern, so dass sie wieder warten. Genau wie die Kinder am Zaun, die neugierig zur Kamera rübergucken und denken, das Fernsehen wäre da. Zum Glück sind die Kinder weit genug weg und werden gehen, wenn’s langweilig wird. Und das wird es sicher bald, denn vom Zaun aus können sie nichts hören, auch nicht, als der Schredderer endlich fertig ist.

Manuel will anfangen, damit er es schnell hinter sich hat. Er drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus, setzt sich breitbeinig auf den Stuhl und fährt sich mit beiden Händen durch die halblangen, rötlichbraunen Haare. Er benetzt die Lippen mit der Zunge, beißt sich auf die Unterlippe, kneift seine blitzblauen Augen zu und reißt sie auf, sagt aber nichts, bringt keinen Ton heraus.

„Hallo?“, sagt Natalie und schwenkt das Mikro vor ihm hin und her. „Kann losgehen!“

Amal hebt die Hand, Natalie schwenkt das Mikro zu ihr, und Amal sagt:

„Manuel, du kannst das! Erzähl doch erst mal was von dir, so wollten wir doch anfangen.“

Erwartungsvolles Schweigen.

Endlich macht Manuel den Mund auf, bringt aber nur ein wütendes: „Scheiße, nein, kann ich nicht“, heraus und springt auf.

„Mach du erst mal, Amal.“

„Gut.“

Amal nimmt seinen Platz ein, ruckelt sich zurecht, bis sie bequem sitzt, und legt die Hände auf dem Schoß zusammen. Bobi betrachtet sie im Display seiner Kamera und bemerkt verblüfft, dass ihm noch nie aufgefallen ist, wie rund alles an ihr ist, der Kopf, das Gesicht, das Grübchen in der linken Wange, der Leberfleck unter dem linken Auge, die Nase, das Kinn, die Fingerkuppen. Nur ihre Haare, die sind borstig und kurz. Eigenartiger Gegensatz. Ihre Haut ist ockerfarben, die Haare sind blauschwarz, die Augen rabenschwarz, die dunklen Wimpern ewig lang und seidig. Die Augenbrauen sehen aus wie mit Kohle gezeichnet. Bobi sorgt dafür, dass ihr Grübchen gut ins Bild kommt, wenn es sich zeigt. Denn das gefällt ihm so gut, dass er sich glatt reinfallen lassen könnte.

„Also“, fängt Amal an, ihre Stimme ist leise aber fest. „Ich heiße Amal, bin sechzehn Jahre alt und gehe in die zehnte Klasse. Ich will Industriekauffrau werden, weil … keine Ahnung, wahrscheinlich, weil ich schon einen Ausbildungsplatz hab. Genau. Und, das ist total cool, weil ich … dann kann ich Geld verdienen …, weil, egal. Bloß … also ich …“

Sie zögert, hält inne, streicht sich mit der Hand über den Kopf, will weiterreden, unterbricht sich aber selbst mit einem energischen:

„Egal.“

Bevor jemand nachfragen kann, spricht sie schnell weiter:

„Genau. Also der Beruf, den ich will, der muss was mit Zahlen zu tun haben. Zahlen mag ich. Zahlen sind so klar, so eindeutig, da kann man nix dran drehen. Mit Zahlen kann man viel ausdrücken, und manchmal geht das schneller als mit Worten. Zahlen sind überall und für alle gleich. Zehn ist zehn ist zehn. Klar, zehn kann viel sein oder auch wenig, je nachdem, wofür die Zehn steht. Das muss man natürlich definieren. Bilder und Wörter kann man immer so oder so sehen, Zahlen nicht. Zahlen sind verlässlich. Ich glaube, verlässlich sein ist für mich was ganz Wichtiges.“

Sie lächelt verlegen. Sie sieht dabei aber nicht unsicher aus, findet Bobi, sondern tatsächlich: verlässlich.

„Na ja. Und das mit dem Projekt, also ich … ich bin wegen Krieg hier. Meine Eltern kommen aus Jugoslawien, also so hieß das früher, das gibt‘s ja nicht mehr. Meine Mama ist Bosniakerin, mein Papa Serbe, die Familie von meiner Mama muslimisch, die von meinem Papa serbisch-orthodox. War aber meinen Eltern egal, denn die sind nicht religiös, beide nicht, die waren nie in der Moschee oder in der Kirche, mein Papa ist nicht mal getauft. Aber dann kam der Krieg und Jugoslawien ging kaputt, oder Jugoslawien ging kaputt und der Krieg kam, keine Ahnung, jedenfalls war’s auf einmal wichtig, wer Serbe war oder Bosniake oder Kroate oder Muslim oder orthodox oder katholisch oder was weiß ich.“

Sie schiebt die Hände unter die Beine und guckt auf den Boden, so dass ihr Gesicht nicht mehr zu sehen ist. Bobi will gerade mit den Fingern schnipsen, da blickt sie schon wieder hoch und redet weiter. Jetzt sehr ernst. Ihre dunklen Augen schimmern. Ihre Stimme wird leiser, Natalie verstellt was an ihrem Aufnahmegerät.

„Alles wurde anders. Viel weiß ich nicht, weil … meine Eltern reden nicht darüber. Papa wollte nicht Soldat sein, wollte nicht auf seine Verwandten und Freunde schießen, bloß weil die auf einmal Feinde sein sollten. Er ist erst untergetaucht und dann abgehauen, nach Deutschland, zu Verwandten. Hat Asyl gekriegt, war aber schwer. Mama war schwanger mit meinem Bruder und ist später nachgekommen, mit dem Baby, das muss schlimm gewesen sein, aber auch sie redet nicht. Wenn ich sie frage, lacht sie und nimmt mich in die Arme und sagt: ‚Das ist vorbei, Kind, wir leben, und wir leben gut, und wir haben noch dich dazubekommen, mein Herzblatt, was wollen wir mehr?‘ Aber ich weiß, dass hinter ihrem Lachen eine Trauer wohnt. Ihr Papa ist getötet worden, damals, und ihr Bruder auch. Viele sind erschossen worden, ganz viele. Zum Glück lebt ihre Mama noch, und wir können sie in den Ferien besuchen, im Dorf. Jetzt ist ja kein Krieg mehr.“

Sie atmet einmal tief durch. Niemand sagt etwas. Das müssen sie erst mal verdauen. In der Schule hat Amal noch nie darüber gesprochen. Bobi stellt fest, dass er eigentlich sehr wenig von den anderen weiß. Dabei hocken sie jeden Tag viele Stunden im selben Raum, seit Jahren schon. Merkwürdig.

Natalie hebt die Hand, hält sich das Mikro vors Gesicht und fragt:

„Erzählt deine Oma dir was?“

„Ja, aber nur von früher, von vor dem Krieg. Vom Krieg selber nicht. Sie sagt, das will ich gar nicht hören. Und sie will es vergessen.“

„Ist vielleicht besser“, murmelt Manuel und steckt sich eine neue Zigarette an.

„Ich weiß nicht“, meint Amal. „Wenn alle immer schweigen, ändert sich doch nix. Dann fängt alles immer wieder von vorne an.“

Sie zieht die Stirn kraus.

„Jedenfalls will ich deswegen bei dem Projekt mitmachen. Wenn die Waffen nicht gewesen wären, wäre das vielleicht alles nicht passiert, oder? Das will ich rauskriegen. So, das reicht – wer will jetzt?“

Sie steht vom Stuhl auf, nimmt sich einen Apfel vom Tisch und schnuppert daran, bevor sie reinbeißt. Das Apfelgrün passt gut zu ihrem Gesicht, stellt Bobi fest.

„Schön“, sagt Natalie und drehte an ihren Knöpfen. „Manuel? Du jetzt? Oder du, Bobi?“

„Okay, ich probier’s“, sagt Manuel.

Er pflanzt sich auf den Stuhl, legt den Kopf zur Seite, wirft die Haare aus dem Gesicht, räuspert sich dreimal, lässt alle Finger einzeln knacken, schlägt ein Bein übers andere, lässt sich im Stuhl so tief runterrutschen, dass sein Gesicht aus dem Display zu verschwinden droht. Aber dann kriegt er sich ein, stellt die Füße nebeneinander, richtet sich auf, guckt in die Kamera und legt los:

„Ich heiße Manuel, bin sechzehn Jahre alt, gehe in die zehnte Klasse Realschule. Schule find ich blöd, aber ohne Abitur kann man nix werden, das hab ich jetzt kapiert, und deswegen will ich‘s aufs Gymnasium schaffen.“

Er kneift die Augen zusammen.

„Auch wenn alle ‚Streber‘ sagen. Is mir egal. Ich will Tierarzt werden. Erstens, weil ich das mag, so mit Tieren was machen. Ich finde das total geil, wenn ich es schaffe, einem Riesenköter einen Dorn aus der Pfote zu pulen, und der frisst mich nicht auf.“

Er grinst. Seine anfängliche Scheu ist verflogen.

„Hab ich neulich gemacht. Echt, das war voll geil! Meine Mutter, die arbeitet beim Tierarzt als Sprechstundenhilfe, und ich jobbe da manchmal, Moped abstottern. Ich möchte alles machen, was der Tierarzt macht, also operieren und so, das stelle ich mir total cool vor. Und zweitens: Ich will später mehr haben als die paar Mäuse, die meine Mutter verdient – also, verdient, das ist echt ein blödes Wort, verdient hat sie bestimmt mehr. Ihr Lohn reicht gerade so für sie und mich, kleine Wohnung, kleines Auto, kleines Leben. Ihr Chef aber, der streicht jede Menge Kohle ein, großes Auto, großes Haus, Karibikurlaub. Ihr glaubt gar nicht, wie viel Geld die Leute für Haustiere ausgeben. Ich will Kohle machen. Glasklare Sache. Ja.“

Er räuspert sich.

„Und dein Vater?“, fragt Natalie.

„Äh, mein Vater?“

Manuel streicht sich die Haare aus dem Gesicht.

„Na ja, was soll ich sagen. Ich hab keinen.“

Er lacht auf.

„Mich hat der Storch gebracht, hat mir meine Oma immer erzählt. Weil meine Mutter so gerne einen kleinen Jungen wollte und sich extra einen mit himmelblauen Augen bestellt hat.“

Doofe Geschichte, denkt Bobi. Totale Verarsche.

„Also, keine Ahnung, wer mein Vater ist. Aber ich brauche keinen, ich versteh mich echt gut mit meiner Mutter. Die lässt mich machen und stresst überhaupt nicht. Da muss ich sie nicht mit blöden Fragen stressen.“

Er blickt Natalie scharf an.

„Okay, sorry“, sagt Natalie und hebt eine Hand.

„Na ja, und was das Thema betrifft. Ich denk darüber nach, warum Leute andere erschießen, aber jetzt nicht im Krieg, sondern im Frieden. Polizisten, Gangs, Amokschützen, sowas. Weil, mein Cousin, in dem seiner Schule war so’n Amokschütze gewesen, und mein Cousin, der hat das alles voll mitgekriegt, 14 war der da. Voll krass, was der mir erzählt hat, echt voll krass.“

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9783948675721
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