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3. Maja - Freitag

»Du bist aber spät, Kleines«, begrüßt mich mein Großvater, als ich den Flur betrete. »Du hättest mich ruhig anrufen können!«, tadelt er mich.

»Entschuldige, Opa!«, antworte ich und verpasse ihm einen Wangenkuss, der seinen Blick weicher werden lässt. »Heute war der Teufel los. Der Küchenchef ist von der Leiter gefallen und musste ins Krankenhaus. Er will, dass ich ihn vertrete.«

»Wirklich?«, fragt er und grinst mich an. »Du hast jetzt das Kommando?«

»Ja, sieht so aus«, antworte ich und reiche ihm die Dosen mit den Essensresten, um mir die Jacke auszuziehen.

Mein Großvater schnüffelt aufgeregt daran. Für ihn ist es das Highlight des Tages, wenn ich Essen mit nach Hause bringe. Er verhält sich dann, wie ein kleiner Junge zu Weihnachten, der es kaum erwarten kann, seine Geschenke zu öffnen.

»Soße und Fleisch?«, hakt er nach.

»Ja, Schmorbraten mit Kartoffeln, Gemüse und Soße.«

»Oh, fein«, sagt er freudig und verschwindet in der Küche.

Hastig hänge ich meine Jacke an die Garderobe, schlüpfe aus meinen Schuhen und folge meinem Großvater.

An der Küchentür begrüßt mich Waldi mit einem trägen Schwanzwedeln. Früher kam er angerannt und ist an mir hochgesprungen. Inzwischen ist es ein Wunder, wenn er überhaupt sein Körbchen verlässt, um jemanden zu begrüßen.

»Hast du Waldi schon gefüttert?«

»Natürlich!«, sagt mein Opa.

Der Küchentisch ist bereits gedeckt. Mein Opa hat die Dosen auf den Tisch gestellt und sich hingesetzt.

»Ich wärme es uns schnell auf«, schlage ich vor und nehme das Essen vom Tisch.

»Aber nicht in dem Ding da!«, erwidert mein Opa und deutet auf die Mikrowelle.

Ich muss schmunzeln. Ich bin auch nicht der größte Fan von Mikrowellen, allerdings spricht meiner Meinung nichts dagegen, darin Essen aufzuwärmen. Mein Großvater ist ein Gegner davon. Er mag im Allgemeinen keine Technik. Ihm ist alles suspekt, was nach seiner Jugend entwickelt wurde.

Ich hatte mal versucht, ihm ein Handy zu schenken, damit wir besser miteinander kommunizieren können. Erst hatte er es ungeachtet im Wohnzimmer liegen gelassen. Dann entsorgte er es einfach heimlich im Hausmüll samt SIM-Karte. Natürlich fand ich das erst Wochen später heraus und musste die Karte sofort sperren lassen. Zum Glück war das Handy nicht in die falschen Hände geraten. Das hätte sonst böse für mich enden können, da es sich um eine Partnerkarte meines Vertrags handelte.

Seitdem versuche ich, ihm keine technischen Neuerungen mehr aufzuschwatzen. Es ist schon ein Wunder, dass er die Mikrowelle noch nicht entsorgt hat. Vielleicht liegt es nur an ihrer Größe. Ihr Verschwinden würde schnell auffallen.

Mit der Anschaffung hatte ich nichts zu tun. Kurz vor ihrem Tod hatte meine Oma sie gekauft. Womöglich ist sie auch aus diesem Grund noch im Haus.

Ich hole zwei Töpfe aus dem Schrank. In einen gebe ich das Fleisch samt Soße und Kartoffeln und in den anderen schütte ich das Gemüse hinein.

Durch die Küche zieht ein leckerer Duft.

»Und wie war der erste Tag als Küchenchefin?«, fragt mein Opa, während er den Duft des Essens inhaliert.

»Verdammt anstrengend und ein Ende ist lange nicht in Sicht. Eduards Bein muss operiert werden. Er wird mindestens eine Woche im Krankenhaus bleiben und sich danach schonen müssen.«

Für mich ist es eine wertvolle Chance, die Eduard mir gegeben hat. Zum ersten Mal ist mir bewusst, dass die Führung eines eigenen Ladens mehr ist, als nur gut zu kochen.

Während mir die Mitarbeiterführung noch relativ leicht von der Hand geht - vielleicht weil ich die Leute schon eine Weile kenne und ich es auf freundschaftlicher Basis versuche - ist der Papierkram die Hölle für mich.

Falls ich den Chef länger vertreten muss, werde ich um die Abrechnung nicht herumkommen. Einerseits freue ich mich, wenn Eduard so schnell wie möglich zurückkommt und mir die Verantwortung wieder abnimmt. Andererseits wird das kein Zuckerschlecken, solange er noch nicht vollständig einsatzfähig ist. Ich sehe ihn schon vor mir, wie er in der Küche auf einem Stuhl sitzt und uns antreibt. Diese Vorstellung lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen.

»Wo ist denn meine Brille?«, murmelt mein Großvater, der sich eine Zeitschrift geholt hat und darin herumblättert. Er schaut sich suchend um.

Auch ich lasse meinen Blick durch die Küche schweifen. »Mmh, hast du schon im Wohnzimmer nachgesehen?«

»Ja, da ist sie nicht.«

»Na ja, das Essen ist sowieso gleich fertig. Danach suchen wir sie in Ruhe. Sie kann ja nicht weg sein.«

Mein Opa brummt etwas Unverständliches vor sich hin und schmeißt die Zeitschrift auf die Anrichte.

Ich belade die Teller mit Essen. Eigentlich habe ich keinen Hunger mehr. Wenn ich den ganzen Tag Gerichte abschmecken muss, habe ich am Abend kein Hungergefühl mehr. Entsprechend klein fällt meine Portion aus. Ich würde auch komplett darauf verzichten, aber ich möchte meinem Opa Gesellschaft leisten. Er ist ohnehin tagsüber schon mit Waldi alleine. Zum Mittag scheint er nie etwas zu essen. Entweder vergisst er es oder er isst ungern allein.

Als meine Oma noch da war, hatte es das nie gegeben. Sie hatte darauf geachtet, dass es ihm gut ging.

Sie fehlt mir so sehr. Ich vermisse sie jeden einzelnen Tag. Seit meiner Kindheit waren sie und mein Opa die Menschen, die mir am nächsten standen.

Als mein Vater starb, waren meine Großeltern diejenigen, die mich ohne zu zögern zu sich nahmen. Für sie muss es genauso schlimm gewesen sein, wie für mich. Immerhin hatten sie ihren Sohn verloren.

Ich erinnere mich an den Morgen vor meinem zehnten Geburtstag, als wäre es erst gestern gewesen. An diesem Tag war ich bei meinen Großeltern. Ich hatte bei ihnen übernachtet, damit mein Vater einen Männerabend mit seinem besten Freund machen konnte. Die beiden hatten jede Menge Spaß, bevor mein Vater sich auf den Heimweg machte. Nur leider kam er nie zu Hause an. Unterwegs sah er, wie sich zwei Kerle über eine Frau hermachten. Wie er nun mal war, überlegte er nicht lange und griff ein. Die Typen wandten sich sofort ihm zu, dadurch konnte die Frau fliehen. Sie hatte die Polizei gerufen. Kurz nach ihnen traf auch ein Krankenwagen ein. Doch für meinen Vater kam jede Hilfe zu spät. Seine Verletzungen waren zu schwer. Die beiden Schläger traten noch nach ihm, als er bereits bewusstlos am Boden lag.

Wir saßen gerade beim Frühstück, als die Polizei eintraf und meinen Großeltern den Verlust ihres einzigen Sohnes mitteilte. Ich hatte das Gespräch belauscht. Anfangs fand ich es so aufregend, dass wir Besuch von zwei Polizisten hatten. Das ging aber vorbei, sobald ich erfuhr, warum sie da waren. Ich brach in Tränen aus und konnte mich stundenlang nicht beruhigen.

Die Täter wurden nie geschnappt. Sie laufen irgendwo da draußen ungestraft herum und dürfen ihr Leben einfach so weiterführen, nachdem sie meinem Vater seines nahmen.

Bei dem Gedanken spüre ich Wut in mir hochkochen. Wut auf die Kerle, Wut auf die Frau und Wut auf meinen Vater. Warum musste er sich einmischen und den Helden spielen? Er hätte sich auch zurückziehen und die Polizei rufen können. Genauso wie die Frau um diese Uhrzeit nicht allein zu Fuß unterwegs sein musste. Wenn sie nicht dort gewesen wäre, würde mein Vater vielleicht noch leben.

Ich weiß, wie mies und falsch diese Gedanken sind und auch, dass die alleinige Schuld bei den beiden miesen Kerlen liegt, aber ich kann nicht anders. Diese Wut ist die einzige Möglichkeit, mit der Trauer besser umgehen zu können.

Wenn ich meinen Opa anschaue, denke ich automatisch an meinen Vater. Die beiden sehen sich so verdammt ähnlich. Auch ich habe ihre Augen. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich meinen Vater. Er ist immer präsent.

Schweigend sitzen wir nebeneinander. Während ich mein Essen von der einen auf die andere Seite schiebe, verschlingt mein Opa seine Portion.

***

»Oh nein, nicht jetzt«, fluche ich, als mein Handy klingelt.

Meine Hände sind mit Creme verschmiert, weil ich gerade dabei bin, mir das Gesicht einzucremen.

Hastig wische ich die Creme an meinen Oberschenkeln ab und haste in mein Schlafzimmer. Auf dem Nachtisch leuchtet mein Handy. Das Display zeigt das Bild einer wunderschönen schwarzhaarigen Frau mit schokoladenbraunen Augen. Es ist meine Freundin Ginette. Ich muss lächeln.

»Hallo Süße«, begrüße ich sie.

»Hi Maja«, erklingt ihre Stimme traurig.

»Was ist los?«, frage ich.

Am anderen Ende der Leitung ist ein Schniefen zu hören.

»Gini?«

»J-Ja, ich bin noch da.«

»Was ist passiert?«

»Pascal … Er hat eine andere«, schluchzt sie.

»So ein Mistkerl!«, fluche ich. »Woher weißt du das? Hat er es dir gesagt?«

»Nein, ich habe sie gesehen.«

»Was? Wann? Wo?«

»Eben habe ich sie Händchen haltend im Park gesehen.«

»Was? Händchen haltend? Kennst du sie?«

»Nein. Keine Ahnung, wer sie ist, aber die beiden sahen so vertraut miteinander aus.«

»Hast du Pascal zur Rede gestellt?«

»Nein. Ich habe mich versteckt.«

»Du hättest ihn zur Rede stellen sollen.«

»Vielleicht …«

»Wo bist du?«

Am anderen Ende der Leitung herrscht Stille.

»Gini?«

»Äh, ich sitze im Auto.«

»Wo?«

»Keine Ahnung. Als ich die beiden gesehen habe, bin ich nach Hause gefahren und habe meine Sachen gepackt.«

»Was? Wieso hast du deine Sachen gepackt? Es ist eure gemeinsame Wohnung!«

»Ich weiß, aber ich will da nicht mehr sein.«

»Verstehe. Willst du herkommen?«

Wieder ist es still in der Leitung.

»Gini! Komm her! Es sei denn, ich soll zu dir kommen.«

»Nein, ich komme … Danke, Maja.«

»Fahr vorsichtig, Süße. Wenn du da bist, klingelst du mich auf dem Handy an, ja? Mein Opa schläft schon.«

»Klar, danke.«

Bevor ich antworten kann, hat Gini aufgelegt.

Ich atme tief durch und mache mich auf eine lange Nacht gefasst.

Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass Pascal Gini hintergehen könnte. Die beiden waren für mich das absolute Traumpaar. Insgeheim habe ich sie immer beneidet und mir gewünscht, auch einem Mann wie Pascal zu begegnen.

Ich schleiche die Treppe nach unten und mache mich auf die Suche nach Alkohol und Fresskram. Waldi sieht mich gelangweilt an, als ich an ihm vorbei in die Küche zum Kühlschrank gehe, um die Flasche Sekt zu holen. Eigentlich steht sie dort für besondere Anlässe, aber Liebeskummer scheint mir auch ein Anlass zu sein. Mal davon abgesehen ist es der einzige Alkohol, der da ist.

Dann schaue ich ins Tiefkühlfach, ob noch Eis da ist. Gini liebt Schokoeis. Normalerweise habe ich immer eine Packung vorrätig. Doch statt Schokoladeneis finde ich die Lesebrille meines Opas, die wir nach dem Abendessen erfolglos suchten. Dabei hatte ich das ganze Haus auf den Kopf gestellt.

Mein Opa war so frustriert, dass er nach ein paar Minuten bereits aufgegeben hatte und lieber schlafen gehen wollte.

Also musste ich mit Waldi vor die Tür. Heute war er besonders stur, weil es ein bisschen genieselt hatte. Es dauerte ewig, bis er sein Abendgeschäft verrichtete.

Ich frage mich, wie die Brille in das Eisfach gelangen konnte. Langsam mache ich mir wirklich Sorgen um die Vergesslichkeit meines Großvaters. Wenn ich ihn doch nur zu einem Arztbesuch überreden könnte.

Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, vibriert das Handy in meiner Hand. Ohne drauf zu schauen, weiß ich, wer es ist.

Ich haste zur Tür und nehme eine verheulte Gini in Empfang. Ohne ein Wort zu sagen, lässt sie sich in meine Arme sinken und schluchzt.

Ich drücke sie fest an mich und streichle ihr sanft über den Rücken, bis sie sich von mir löst.

»Lass uns nach oben gehen!«, flüstere ich.

Gini nickt und steigt die Treppe hinauf.

»Ich komme gleich nach«, sage ich leise und gehe in die Küche zurück.

Ich schnappe mir die Flasche Sekt und finde in einem der Hängeschränke noch eine Tüte Chips und eine Schachtel Pralinen. Beides nehme ich mit nach oben und mache mir gedanklich eine Notiz, die Vorräte wieder aufzufüllen.

Zuerst schaue ich in meinem kleinen Wohnzimmer nach meiner Freundin, doch es ist leer.

Im Schlafzimmer finde ich sie dann in meinem Bett liegend.

Ich lege die Vorräte auf dem Nachtschränkchen ab, setze mich neben Gini und streichle ihr über den Kopf.

Mit verheulten Augen schaut sie mich an. »Wie konnte er mir das antun?«, flüstert sie.

Mir fehlen die Worte. Was soll ich auch dazu sagen? Ich an ihrer Stelle hätte Pascal zur Rede gestellt, statt einfach davon zu laufen. So ein überstürzter wortloser Auszug wäre nicht mein Stil gewesen, aber was weiß ich schon. Ich bin seit zwei Jahren Single und ein schlechter Ratgeber in Beziehungsfragen.

Gini geht es ohnehin mies genug, da muss ich sie nicht auch noch mit meinen Ansichten weiter hinunterziehen. Stattdessen höre ich ihr einfach zu und bin für sie da.

4. Maja - Samstag

Leise schleiche ich mich nach unten in die Küche. Obwohl ich heute etwas länger liegen geblieben bin und auf meine morgendliche Joggingrunde verzichtet habe, bin ich todmüde.

Es ist kein Wunder. Bis um vier Uhr morgens musste ich meine beste Freundin trösten. Dann ist sie in einen tiefen Schlaf gefallen.

Pascal hatte einige Male versucht, mich telefonisch zu erreichen. Nach dem ersten Versuch stellte ich mein Handy auf lautlos. Ich hatte keine Lust, mich mit ihm auseinanderzusetzen.

Gini hatte ihr Handy sofort ausgeschaltet, als sie bei mir war. Zu dem Zeitpunkt hatte Pascal noch nichts von ihrem Auszug bemerkt. Seine Kontaktversuche begannen erst kurz vor Mitternacht.

Der gestrige Tag schlauchte mich. Obwohl ich völlig fertig war, lag ich eine Weile wach, bis ich endlich einschlafen konnte. Die Ereignisse der letzten Stunden beschäftigten mich sehr.

»Waldi, komm!«, rufe ich und gehe zur Tür, um sie zu öffnen.

Der Dackel macht keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen.

»Na los, komm schon!«, sage ich ein weiteres Mal und klatsche in die Hände. »Los! Die Sonne scheint, du kannst heute dein Geschäft im Trockenen verrichten.«

Als ob er mich verstanden hätte, erhebt er sich schwerfällig und kommt auf mich zu. Noch bevor er mich erreicht hat, gehe ich nach draußen. Waldi folgt mir.

Es dauert nicht lange, bis er fertig ist und wieder zurück ins Haus trottet. Ich folge ihm. Mein Weg führt mich in die Küche.

Ich schalte die Kaffeemaschine ein und decke den Tisch.

»Guten Morgen«, brummt mein Großvater. Er kommt in die Küche geschlürft und lässt sich an seinem Stammplatz fallen.

»Ich habe Waldi schon rausgelassen«, sage ich.

Mein Opa nickt. »Kriegen wir Besuch zum Frühstück?«, fragt er mit festem Blick auf das dritte Gedeck.

»Gini hat bei mir übernachtet«, erkläre ich.

»Aha.« Sein fragender Blick durchbohrt mich. Er will wissen, ob es einen Grund dafür gibt, aber er würde mich nie danach fragen.

»Sie hat Ärger mit Pascal«, sage ich und winke ab.

»Ärger?«, kreischt meine Freundin, die plötzlich hinter mir steht.

Ich zucke vor Schreck zusammen.

»Ich habe keinen Ärger mit dem Mistkerl! Er betrügt mich!«, sagt sie wütend und geht zu meinem Opa und drückt ihm einen Kuss auf die Wange.

Meine Großeltern mochten Gini schon immer. Sie war für sie fast wie eine zweite Enkelin.

Wir kennen uns seit dem Kindergarten. Anfangs hätte wohl niemand gedacht, dass wir irgendwann Freundinnen werden könnten. Am ersten Tag in unserer Kindergartengruppe hatten wir uns angezickt. Wir schlugen uns gegenseitig mit Sandkastenschippen und beschmissen uns mit Sand. Unsere Erzieherin hatte alle Hände voll mit uns zu tun.

Unser Krieg ließ erst nach, als wir beide von einem Jungen geärgert wurden. Er zog uns immer an den Haaren und beleidigte uns, sobald unsere Kindergärtnerin nicht hingesehen hatte. Alleine hatte keine von uns eine Chance, aber irgendwann taten wir uns im Kampf gegen ihn zusammen. Um genau zu sein, half sie mir. Als er mir mal wieder an den Haaren gezogen hatte, schlich sich Gini von hinten an und zog ihm einfach die Hose runter. So schnell, wie er mich losgelassen hatte, konnte ich gar nicht gucken. Anschließend hatte er noch wenige Male versucht, eine von uns zu ärgern. Jedoch war die andere sofort zur Stelle. Meist lief es aufs Hoserunterziehen hinaus. Ihm gefiel das überhaupt nicht. Deshalb hörte er schnell auf, uns zu piesacken und suchte sich neue Opfer.

Seitdem sind Gini und ich miteinander befreundet. Wir merkten damals, dass die jeweils andere doch nicht so doof ist, wie wir dachten.

Ginis Kindheit war kaum besser als, meine. Obwohl sie bei ihren Eltern aufgewachsen war, sie beide Elternteile bis heute noch hat, war sie viel allein. Sie war ein sogenanntes Schlüsselkind. Ihre Eltern waren nie da. Gini musste sich um sich selbst kümmern.

Ich hätte es ja verstanden, wenn die Zimmermanns so viel gearbeitet hätten, um über die Runden zu kommen. Doch sie hatten keine Geldsorgen. Sie wollten einfach Karriere machen. Das war ihnen wichtiger als ihre eigene Tochter. Deshalb war Gini oft bei uns. Als ich noch bei meinem Vater wohnte, nahm ich sie nachmittags mit zu mir. Wir machten unsere Hausaufgaben zusammen und unternahmen dann etwas.

Nachdem mein Vater nicht mehr da war und ich bei meinen Großeltern lebte, kam sie mit dorthin. Sie wurde wie ein weiteres Familienmitglied integriert.

Spätestens um neun Uhr am Abend wollte sie immer zu Hause sein, damit ihre Eltern nichts merkten. Aber ich glaube kaum, dass sie gemerkt hätten, wenn Gini komplett bei uns eingezogen wäre.

»Dann schmeiß ihn raus!«, brummt mein Großvater. Sein Blick ist zornig. Ich bin mir sicher, wenn Pascal jetzt vor ihm stünde, würde mein Opa ihm die Hölle heißmachen.

Er findet sowieso keinen Kerl gut genug für eine von uns. Das ist auch einer der Gründe, warum ich nie jemanden mitbringe. Das hatte ich ein Mal versucht, damals lebte meine Oma noch. Es dauerte keine fünf Minuten, bis ich es bereute. Mein Opa stellte David, dem armen Kerl, so viele Fragen. Es hatte nur noch gefehlt, dass er seine Fingerabdrücke genommen und eine DNA-Probe verlangt hätte.

David verschwand unter einem Vorwand und meldete sich nie wieder bei mir. Dabei fand ich ihn nett. Wir waren gerade in der Kennlernphase. Mehr als ein bisschen Rumgeknutsche und Händchenhalten lief bei uns nicht.

Nach dieser Erfahrung traf ich mich mit Jungs nur an neutralen Plätzen. Aus Angst, mir könnte ebenfalls so eine Befragung blühen, traute ich mich nicht, zu einem der Jungs nach Hause zu gehen. Es sei denn, derjenige hatte sturmfreie Bude.

»Ich bin gegangen«, antwortet Gini verlegen. Inzwischen ist ihr klar, dass sie ihn hätte rausschmeißen sollen, statt selbst zu gehen.

Mein Opa nickt ihr zu. »Du kannst hier bleiben, solange du willst. Maja macht dir bestimmt das Gästezimmer fertig.« Er sieht mich fragend an.

Ich nicke ihm zu und schau dann zu Gini. »Wenn du möchtest?«

»Gerne.« Gini lächelt gequält. Sie schaut zwischen mir und meinem Opa hin und her. »Danke, ich wüsste nicht, was ich ohne euch machen würde.«

»Hey, das ist doch klar. Wir sind schließlich Freunde«, sage ich und bin froh, dass sie das Angebot meines Großvaters annimmt.

Gini kann unheimlich stolz sein. Sie lässt sich nicht von jedem helfen und schon gar nicht von ihren Eltern. Eher würde sie in ihrem Auto schlafen, als sie um Asyl zu bitten. Dabei hätte sie das Haus die meiste Zeit für sich allein. An den Karriereplänen der Zimmermanns hat sich bis heute nichts geändert. Sie arbeiten nach wie vor rund um die Uhr. Zu Hause sind sie nur zum Schlafen.

Gini hat den Kontakt zu ihren Eltern drastisch reduziert. Sie gratuliert ihnen noch zu ihren Geburtstagen und ruft zu den Feiertagen an, geht aber selten vorbei. Um sie zu besuchen, muss Gini schon eingeladen werden. Das passiert sogar ein paar Mal im Jahr, wenn die Zimmermanns Partys schmeißen. Zu den Anlässen darf die eigene Tochter nicht fehlen, damit sie die Vorzeigeeltern spielen können.

Gini hat sich mit dieser Situation arrangiert. Was soll sie auch sonst machen? Schließlich kennt sie es nicht anders.

Umso mehr tut es mir leid für sie, dass es mit Pascal nicht funktioniert hat.

»Was machst du heute? Hast du frei?«, frage ich, als mir einfällt, dass Gini jetzt eigentlich schon arbeiten müsste. Sie arbeitet als Zahntechnikerin.

Gini schaut mich irritiert an, so als wäre ich verrückt. »Heute ist Samstag. Da habe ich für gewöhnlich frei.«

»Oh«, antworte ich und klatsche mir die Hand gegen die Stirn. In meinem Beruf als Köchin gibt es kein klassisches Wochenende. Dadurch komme ich häufig durcheinander.

Meine Freundin lächelt mich zaghaft an. »Ähm, ich kann mir ja das Zimmer zurechtmachen und meine Sachen auspacken«, schlägt sie verlegen vor.

»Das wäre toll«, antworte ich. »Ich weiß nämlich noch nicht, wie spät es heute bei mir wird. Seit gestern bin ich die stellvertretende Küchenchefin.«

»Was?«, quietscht Gini. »Warum hast du denn nichts gesagt. Das ist ja …«

»Anstrengend«, unterbreche ich sie.

»Ja, aber du wolltest doch schon immer deinen eigenen Laden haben.«

»Ja, klar. Im Moment habe ich nur eine Menge Verantwortung, ohne kreative Entscheidungen treffen zu können.«

»Es ist doch eine gute Gelegenheit für dich, in die Selbstständigkeit hineinzuschnüffeln.«

»Das stimmt. Ich weiß jetzt, dass ein eigenes Restaurant nicht nur kochen bedeutet.«

»Du schaffst das!«, motiviert mich Gini. Dann dreht sie sich zu meinem Großvater. »Ich … Ich möchte aber nicht umsonst hier wohnen.«

»Du brauchst keine Miete zahlen«, winkt mein Großvater ab. »Wenn du unbedingt etwas beisteuern willst, kannst du hin und wieder einkaufen gehen.«

Gini schaut mich fragend an.

Ich nicke ihr zu.

»Na schön«, stimmt sie zu.

»Ich muss mich langsam fertigmachen«, sage ich und springe auf. »Könnt ihr bitte den Tisch abräumen?«

»Klar«, sagt Gini. »Ich habe heute jede Menge Zeit.«

»Danke, du bist ein Schatz.«

Ich drücke erst Gini einen Kuss auf die Wange, dann meinem Großvater, bevor ich nach oben verschwinde.

Während ich immer zwei Stufen auf einmal nehme, fällt mir wieder der Brillenfund im Tiefkühlfach ein. Ich wollte Gini von dem Vorfall erzählen und sie bitten, ein Auge auf meinen Opa zu haben. Ich werde ihr später eine Nachricht schreiben.

Obwohl ich die Sache mit Gini und Pascal traurig finde, bin ich froh, meine Freundin jetzt hier zu haben. Seit Eduards Ausfall fühle ich mich etwas überfordert. Ich muss mich um so viele Dinge kümmern, da belastet mich die Vergesslichkeit meines Großvaters besonders stark.

Wenn ich ihn doch nur zu einem Arztbesuch überzeugen könnte.

Ich stehe gerade mit einem Fuß im Badezimmer, als mein Handy klingelt. Nach dem Aufstehen habe ich den Ton wieder angeschaltet, falls es etwas Wichtiges gibt.

Hastig laufe ich ins Schlafzimmer und greife nach meinem Mobiltelefon, das auf dem Nachttisch liegt. Auf dem Display leuchtet eine Nummer auf, die ich nicht kenne. Normalerweise nehme ich ungern Gespräche mit unbekannten Rufnummern an.

»Hoffentlich ist es nicht Pascal«, murmle ich. Ich bin drauf und dran, den Anrufer einfach wegzudrücken. Da ich jetzt aber stellvertretende Küchenchefin bin, kann ich mir das nicht leisten.

»Hallo?«, frage ich.

»Maja«, schreit mir eine bekannte Stimme ins Ohr. »Bist du schon im Laden?«

Mein Ohr schmerzt. Ich halte das Telefon etwas von meinem Ohr weg, bevor ich Eduard antworte. »Nein, ich mache mich gleich auf den Weg. Was gibt es denn?«

»Heute Nachmittag kommt Gregor Sander, um das Menü für übernächste Woche zu besprechen. Ich …«

»Was?«, unterbreche ich ihn. Bisher habe ich noch nie Menüabsprachen mit Kunden getroffen.

»Maja!«, herrscht er mich an. »Gregor Sander ist ein wichtiger Kunde. Er möchte sich Essen für einhundert Personen außer Haus liefern lassen. Wenn wir ihn zufriedenstellen, lässt er uns zukünftig alle seine Veranstaltungen beliefern. Wir dürfen das mit ihm nicht verpatzen!«

»Für einhundert Personen? Außer Haus? Wie sollen wir das stemmen?«, erkundige ich mich schockiert.

»Wir schaffen das! Sander ist wirklich wichtig!«

»Schon klar, aber ist es dann nicht besser, wenn wir den Termin verschieben und du mit ihm alles besprichst?«

»Normalerweise würde ich ja sagen, doch das ist zu kurzfristig. Also musst du das übernehmen.«

Ich atme tief durch. »Na schön. Ich schätze, du hast etwas ausgearbeitet, was ich ihm zeigen muss?«

»Ja. Ich habe einige Menüvorschläge vorbereitet. Du müsstest dich aber um die Koordination der Zubereitung kümmern, falls ich bis dahin noch nicht zurück bin.«

»Was? Wie stellst du dir das vor? Ich bin Köchin und keine … keine …«

»Beruhige dich! Du schaffst das schon. Heute ist erst mal das Gespräch. Auf meinem Schreibtisch findest du eine Mappe mit Vorschlägen. Herr Sander wird um vierzehn Uhr da sein. Bis dahin solltest du dich einlesen.«

»Eduard, du bist verrückt! Warum muss ausgerechnet ich das machen?«

»Du schaffst das, Maja! Ich muss jetzt Schluss machen.«

Bevor ich etwas erwidern kann, hat Eduard aufgelegt.

Ich starre mit offenem Mund die Wand an und fühle mich völlig überrumpelt.

Natürlich hat Eduard irgendwann mal den Gedanken geäußert, auch Veranstaltungen zu beliefern. Die Restaurantküche ist groß genug, um eine Ecke nur für die Cateringvorbereitungen zu nutzen. Allerdings hatte ich keine Ahnung, wie konkret seine Pläne sind. Er verlor bisher kein Wort darüber, dass übernächste Woche bereits der erste Kunde beliefert werden soll. Ich weiß noch nicht mal, ob auch Geschirr benötigt wird und wenn ja, ob sich Eduard darum gekümmert hat.

Das ist wieder einer der Momente, in denen ich meinem Chef den Hals umdrehen könnte. Bisher fand ich meinen Küchenjob ziemlich monoton. Was mir an Abwechslung gefehlt hatte, prasselt nun auf mich ein.

In meinem Kopf dreht sich alles. Es dauert einen Augenblick, bis ich mich gefangen habe.

***

»Du bist ganz schön spät! Nicht, dass der Job als Küchenchefin dir zu Kopf steigt«, rügt mich John, als ich völlig abgehetzt die Restaurantküche betrete.

»Haha«, erwidere ich und ziehe einen Schmollmund.

»Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?«

»Eduard«, antworte ich.

John schaut mich fragend an. Als ich nichts weiter sage, räuspert er sich. »Und? Was ist mit ihm?«

»Er hat mich gerade angerufen und mich darüber in Kenntnis gesetzt, dass wir übernächste Woche den ersten Kunden mit Essen für einhundert Personen beliefern müssen. Er kommt heute für die Menübesprechung vorbei.«

»Oh«, ist alles, was John dazu einfällt.

»Du sagst es. Kommt ihr eine Weile ohne mich zurecht? Ich muss mich in Eduards Unterlagen einlesen.«

»Ähm, klar. Es nützt ja nichts.«

»Danke.«

»Nicht dafür. Ich frage mich nur, wie Eduard sich das vorstellt. Wenn er zusätzlich Essen außer Haus liefern möchte, muss er mehr Personal einstellen. Ich glaube kaum, dass wir das auch noch hinbekommen.«

Ich seufze. »Ich weiß. Bevor ich ihn fragen konnte, hat er einfach aufgelegt. Ich versuche, den Termin heute irgendwie zu bewältigen und danach mache ich mir Gedanken, wie wir das schaffen sollen.«

John nickt und widmet sich seiner Arbeit.

Ich verlasse die Küche und gehe in Eduards Büro. Sein Schreibtisch ist ein einziges Schlachtfeld. In der Küche ist er so ordentlich und hier liegt alles kreuz und quer herum.

Wieder klingelt mein Telefon. Ich zucke vor Schreck zusammen und krame es aus der Hosentasche. Der Name auf dem Display lässt mich aufstöhnen. Es ist Pascal. Ich schwanke, ob ich den Anruf einfach wegdrücken oder annehmen soll. Die Aussicht, er könnte mich den ganzen Tag belästigen, bringt mich dazu auf das grüne Symbol zu drücken.

»Was willst du?«, frage ich schroff und verzichte auf eine Begrüßung.

»Na endlich, Maja! Ist Ginette bei dir? Sie ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen und ihr Telefon ist ausgeschaltet.«

»Ach, sag bloß!«, stelle ich mit trockener Stimme fest.

»Maja, bitte! Wenn du etwas weißt, musst du es mir sagen!«

»Muss ich das?«

»Maja, bitte!«

»Hör zu, Pascal! Ich habe dir nichts zu sagen. Gini übrigens auch nicht. Also hör auf, mich zu terrorisieren. Ich will weder Anrufe noch Besuche von dir, klar?«

»Maja, was ist los?«

»Das fragst du Allenernstes mich? Gini hat euch gesehen.«

»Oh.«

Es herrscht Schweigen.

Pascal weiß genau, worum es geht, sonst würde er nachhaken.

»War es das?«, erkundige ich mich nach einer Weile. »Ich habe zu tun.« Ohne eine Antwort abzuwarten, lege ich einfach auf.

Ich wühle mich durch einen Berg Papiere, bis ich tatsächlich einen Schnellhefter mit der Aufschrift Sander - Software Construction entdecke. Neugierig klappe ich den Hefter auf und lese, was Eduard sich ausgedacht hat. Bereits nach dem ersten Vorschlag weicht mir die Farbe aus dem Gesicht. Das Menü besteht aus vielen aufwendigen Komponenten. Der Aufwand, es für einhundert Personen zuzubereiten, übersteigt unsere Kapazitäten. Wenn wir es in der Stammbesetzung schaffen sollen, müssen wir das Restaurant für mindestens einen Tag schließen. Jetzt, wo Eduard ausfällt, vielleicht sogar für zwei Tage. Es ist nahezu unmöglich, das Tagesgeschäft und den Cateringauftrag unter einen Hut zu bekommen.

Ich lese weiter. Insgeheim hoffe ich auf einen Menüvorschlag, der schnell geht. Aber jedes, der fünf Angebote ist gleich aufwendig.

Meine Hoffnung, am Ende des Hefters Hinweise zu finden, wie Eduard sich den Ablauf vorgestellt hat, ist ebenso geplatzt.

Ich überlege, ob ich mir noch etwas anderes ausdenken soll, was leichter zu bewältigen ist, doch wenn ich das mache, wird Eduard mich köpfen.

Andererseits, wenn er nicht da ist, merkt er es nicht.

Mit der Mappe hetze ich in die Küche.

»John!«, rufe ich.

Mein Kollege dreht sich zu mir um und schaut mich fragend an.

»Wir haben ein Problem.« Ich deute auf den Hefter. »Die Menüvorschläge sind alle viel zu aufwendig. Wenn wir eines davon kochen müssen, schaffen wir das Tagesgeschäft nicht.«

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