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Die Dealer mit dem weißen Gift

Dazu noch ein paar einleitende Worte zum Thema Abhängigkeit und Eigenverantwortung, ehe ich Sie mitnehme in die Welt der Konzerne:

Denken Sie an einen Jugendlichen in Ihrem persönlichen Umfeld. Ihren Sohn. Ihre Tochter. Freunde Ihrer Kinder. Kinder von Freunden, Verwandten. Stellen Sie sich vor, jemand würde einen dieser Jugendlichen zu seiner ersten Prise Kokain verführen. Oder gleich zu Heroin.

Was würden Sie empfinden? Was denken? Wie würden Sie reagieren?

Bald schon müssten Sie erkennen, dass es zu spät ist. Oder beinahe zu spät. Weil Ihr Sohn, Ihre Tochter, das Kind Ihrer Freunde auf dem Weg in die Suchtabhängigkeit ist. Mittendrin. Dass er oder sie längst begonnen hat, nach dem Stoff zu suchen. Und ihn sich auch selbst zu organisieren. In irgendwelchen dunklen Hinterhöfen und Spelunken oder Schickimicki-Treffs.

Wie würden Sie denjenigen nennen, der den Erstkontakt hergestellt oder angeregt hat? Wie denjenigen, der die wachsende Sucht von nun an stillt und den Stoff jederzeit bereitstellt?

Zu dem einen würden Sie vermutlich Dreckskerl sagen. In der höflichen Variante. Zu dem anderen Dealer. Welcher Verbrechen machen sich die beiden schuldig? Was die Moral betrifft, gibt es ohnehin keinen Zweifel. In punkto Gesetz steht wenigstens der Dealer weit jenseits der roten Linie.

Sie wissen natürlich, welche Frage nun folgt: Wie verhält es sich mit der Sucht nach Fast Food?

Die traurige Wahrheit ist: Nehme ich mein Kind bei der Hand und gehe mit ihm ins nächste Fast-Food-Restaurant, habe ich den ersten Schritt getan. Den Rest erledigt der Dealer. Dafür ist er perfekt ausgebildet. Darauf ist er vorbereitet. Nichts anderes sind Zuckerindustrie und Fast-Food-Produzenten.

Dealer.

Kokain wird auch unter diesem Begriff geführt: weißes Gift.

Zucker trägt denselben Beinamen. Weißes Gift. Aus gutem Grund. Alle beide, Kokain und Zucker, stimulieren letztlich auch dieselben Hirnregionen, setzen dieselben Botenstoffe in Gang, lösen in uns Menschen dieselbe Art von Suchtverhalten aus.

Der entscheidende Unterschied ist: Wer mit Kokain dealt und sich erwischen lässt, wandert ins Gefängnis. Wer mit Zucker dealt, tut es vor den Augen der ganzen Welt, kommt ungestraft davon und wird sogar belohnt, weil er auf Cocktailpartys eingeladen und in Aufsichtsräte gewählt wird.

Das ist das Fantastische an der Droge Zucker und den anderen Süchtigmachern im Fast Food: Sie alle sind legal. Überhaupt herrscht in der Branche ein absolutes Weiße-Weste-Klima. Bloß nichts tun, was gegen das Gesetz ist. Das ist so etwas wie ein Mantra, ein oberstes Gebot. Bloß nichts Illegales. Lieber die Gesetze biegen, lieber dafür sorgen, dass sie entsprechend formuliert sind. Auch davon möchte ich Ihnen berichten.

Darüber hinaus, warum die so genannten Skandale in den Fast-Food-Restaurants, vom Maus-Burger bis zum Gammelfleisch, in den allermeisten Fällen gar keine sind. Und vom Umgang mit den schärfsten Kritikern. Weshalb die einen angefeindet und in den Dreck gezogen werden, andere als unbedeutend kleingeredet oder totgeschwiegen, wiederum andere umarmt wie beste Freunde.

Spannend auch, was die Ware Fast Food in uns anstellt. Ganz unmittelbar. Sozusagen von jetzt auf gleich. Innerhalb der, sagen wir, ersten sechzig Minuten nach Verzehr eines derartigen Schnellgerichts. Ebenso faszinierend wie beunruhigend diese neue Erkenntnis: Dass die Folgen bereits eines einzigen Fast-Food-Menüs in den menschlichen Arterien, ausgelöst durch Zucker, Fette und andere industriell erzeugte Inhaltsstoffe, empirisch nachweisbar sind. Wie ein auf kriminelle Weise in einen Flusslauf gekippter Giftcocktail.

Natürlich heißt es auch darauf ein Auge zu werfen: Was können, was müssen wir tun, um den Lauf der Dinge doch noch zu stoppen oder wenigstens abzuändern? Wir. Das bedeutet: Jeder Einzelne. Die Gesellschaft als Ganzes. Die Politik.

Mit dem britischen Stadtrat Chris Brewis, von dem wir schon gehört haben, verbindet mich eines ganz besonders: die Innensicht. Seine ist jene auf die Materie Politik. Meine auf die Materie Fast Food. Dabei bin ich weder Arzt noch Ernährungswissenschaftler. Auch bin ich nicht Aktivist der Grünen noch Mitglied einer NGO. Ebenso wenig ein ausgewiesener Experte in Sachen Globalisierung.

Im Gegenteil. Ich habe der anderen Seite angehört. Mit Leib und Seele. Meine Karriereleiter zeigte ewige Zeiten immer nur in die eine Richtung: steil nach oben. Ich war im Management eines Ölkonzerns. Ich habe eine Bäckereikette geführt. Ich habe ein kleines Gastro-Reich in die Höhe gezogen. Ich war Kurzzeit-Präsident eines Bundesliga-Fußballvereins und habe damit so gut wie alles zerstört, was ich mir zuvor aufgebaut habe. Nur nicht meine Ehe, weil ich auf eine Frau zählen durfte und darf, die mir auch in Zeiten der schwersten Krise immer zur Seite gestanden ist.

Vor allem jedoch war ich dreizehn Jahre lang das: maßgeblicher Teil eines menschenverachtenden globalen Netzwerkes, das sich seit neuestem die Menschenliebe an die Fahnen heftet und doch nur drei Ziele kennt:

Profit.

Profit.

Und nochmals Profit.

Ich war ein Rad am Wagen. Nicht das fünfte, sondern eines, das immer stärker wurde und immer mehr trug. Erst nur in Österreich. Für Österreich. Bald schon auf europäischer, dann sogar auf globaler Ebene. Ich hatte immer mehr zu sagen im System Fast Food. Immer mehr zu entscheiden, immer mehr zu verantworten. Dann habe ich begonnen nachzudenken. Weil es dafür nie zu spät ist, nie zu spät sein darf.

Mein Name ist Harald Sükar. Ich war Spitzenmanager bei McDonald’s.

Wenn es eine zentrale Botschaft gibt, die ich den folgenden Seiten überordnen möchte, dann diese:

Geht nicht hin! Nicht zu McDonald’s. Nicht zu Burger King. Nicht zu den anderen Fast-Food-Riesen. Schon gar nicht mit euren Kindern. Nicht einmal ausnahmsweise.

Das Geständnis, das keines sein sollte:
»Wir sind Teil des Problems … ähm, der Lösung.«

Zuerst reift die Selbsterkenntnis. Im Stillen. Danach folgt die Selbstkritik. Laut und vielleicht sogar öffentlich. Sind das nicht menschliche Tugenden, die wir schätzen? Vor allem, wenn sie ehrlichen Ursprungs sind, wenn sie zur rechten Zeit am rechten Ort in Erscheinung treten?

Spitzenmanager globaler Konzerne besitzen diese menschlichen Tugenden in der Regel nicht. Wenn doch, so halten sie sich sehr bedeckt damit. Sie tragen weder Selbsterkenntnis noch Selbstkritik einfach so nach außen. Schon gar nicht, wenn sie massiv unter Beschuss stehen. Schon gar nicht in der Fast-Food-Industrie. Und schon dreimal nicht vor laufender Kamera. Wenn überhaupt, dann unter ihresgleichen. Bei einem launigen Treffen hinter verschlossenen Türen etwa. Mit dem dritten Glas Whisky in der einen und einer Havanna in der anderen Hand.

Wer beschmutzt schon gerne das eigene Nest? Und doch hat Gene Grabowski genau das getan. Ohne es zu wollen. Es ist ihm herausgerutscht. Denn er hat, mit sichtbaren Schweißperlen auf der Stirn, diesen einen Satz in die Kamera gesagt:

»Wir sind Teil des Problems …«

Als dem fünfzig Jahre alten Grabowski dieser verräterische Sager entfährt, ist er längst nicht mehr der kleine Reporter bei der Washington Times mit Spezialgebiet Weißes Haus, der er irgendwann einmal gewesen war. Grabowski hat große Karriere gemacht, ist nunmehr Vize-Präsident der GMA. Und zugleich ihr Sprecher.

Was das ist, die GMA?

Damals, im Jahr 2004, steht das Kürzel noch für Grocery Manufacturers of America. Später (und bis zum heutigen Tag) wird GMA nach einer Fusion mit der Food Products Association (FPA) dafür stehen:

Grocery Manufacturers Association.

Ein Fachverband der Lebensmittelindustrie. Aber nicht irgendwelcher Kleinkrämer oder der halbwegs potenten Gewerbetreibenden nur eines einzigen Landes, sondern der weltweit größten Markenartikel-Unternehmen für Lebensmittel, Getränke und Konsumgüter. Eine Vereinigung, der vorübergehend auch die vormalige First Lady Michelle Obama beitrat, um mit ihrer Let’s move-Kampagne gegen die ausufernde Epidemie fettleibiger US-amerikanischer Kinder anzutreten. Dass diese Epidemie längst den ganzen Globus erfasst und sich damit zu einer Pandemie ausgeweitet hat, ist mittlerweile nicht mehr von der Hand zu weisen.

Offiziell ist die GMA eine Non-Profit-Organisation. Vor allem aber ist sie eine unfassbar mächtige Lobby. Ein tausendarmiger Krake der Industrie, dessen Tentakel überallhin reichen. Bis in den letzten Winkel des kleinsten Hinterzimmers politischer Entscheidungsträger. Rund um den Erdball. Von Z wie Zypern bis A wie Afghanistan. McDonald’s gibt es schließlich auch in Kabul.

Aber was kann einen Medienprofi wie Gene Grabowski so sehr aus der Fassung bringen, dass ihm dieser Lapsus widerfährt? Diese Peinlichkeit? Unabsichtlich einzugestehen, was niemals eingestanden werden darf?

Ursprünglich (so viel kann ich Ihnen schon verraten) hat Grabowski die alte Leier abspulen wollen. Einen Text, den jemand wie er immer und überall runterbeten kann, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Einen Standardtext zur Verantwortung der Lebensmittel-Konzerne, den er so selbstverständlich intus hat, wie jeder Geistliche das Vaterunser. Sätze wie:

»Die Lösung muss im Bildungssystem liegen.«

Oder:

»Man muss den Sportunterricht fördern.«

Oder auch, was er tatsächlich gesagt hat, angesprochen auf die Rolle der Lebensmittel-Giganten im Allgemeinen und der Fast-Food-Industrie im Speziellen. Wie es in punkto Verantwortung für die Gesundheit von zig Millionen Menschen in seinem Heimatland steht. Und von Milliarden in aller Welt.

Gene Grabowski im Originalton: »Wir werden weiterhin gutes Marketing betreiben, Bildungsprogramme finanzieren, was wir ja schon im großen Stil tun. Wir informieren Eltern, um Probleme zu lösen. Das tut die Nahrungsindustrie. Wir spielen eine verantwortungsvolle, wichtige Rolle.«

Diese angesprochene Co-Finanzierung von Bildungsprogrammen bedeutet: Zwar werden Hunderttausende Kinder in den USA alphabetisiert, lernen endlich einigermaßen Lesen und Schreiben, doch um den Preis, dass die ohnehin verschwindend geringe Wochenstunden-Zahl für Sport in den Schulen weiter schrumpft. Mit dem Ergebnis, eventuell um einen Hauch gebildetere, aber mit Garantie um Längen fettere Kinder in den Bänken sitzen zu haben. Unter anderem auch, weil die Softdrink-Hersteller ihre Automaten weiterhin in den Schulgängen aufstellen und befüllen dürfen.

Das weiß ein Mann wie Gene Grabowski selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich kommt ihm aber nichts dergleichen über die Lippen. Stattdessen sagt er in die Kamera:

»Wir sind keine Polizei oder Behörde. Wir stellen günstige Lebensmittel in Mengen her, wie nie zuvor. Die Industrie übernimmt Verantwortung. Wir wollen mehr tun, weil wir erkennen: Wir haben eine Aufgabe. Wir sind Teil der Lösung.«

Und dann passiert’s eben. Weil an diesem Tag irgendetwas anders ist. Weil der ausgebuffte Medienprofi Grabowski auf dem falschen Fuß erwischt wird. Vielleicht hat er einfach nur schlecht geschlafen. Vielleicht liegt es aber doch an den verstörenden Fakten, mit denen man ihn in der Lobby der GMA konfrontiert. Ausgesprochen von diesem lästigen Ex-Kollegen, der mit allen Wassern gewaschen ist:

Morgan Spurlock.

Regisseur. Dokumentarfilmemacher. Drehbuchautor. Produzent. Versuchskaninchen im eigenen Auftrag. Und auf gewisse Weise auch Journalist wie früher Grabowski. Einer der, hat er erst einmal Fährte aufgenommen, sich verbeißt, wie ein von der Leine gelassener Kampfhund. Mit seinen nervenden Fragen, die er obendrein mit jeder Menge Hintergrundwissen unterbuttert.

Und so stottert Gene Grabowski, Vize-Präsident der großen GMA, in die Kamera:

„Wir sind Teil der Lösung

… Wir sind Teil des Problems

… ähm, Teil der Lösung.“

Monate später flimmert der fertige Film (samt Grabowskis peinlichem Versprecher) über die Leinwand: Super Size Me. Vorerst beim Sundance Festival, einem renommierten, alljährlichen US-Film-Event, das als bedeutende Plattform für unabhängige Produktionen gilt. Seien es amerikanische, seien es internationale.

Es ist Jänner 2004. Beim Sundance Festival streift der Film gleich seinen ersten Preis ein, den für die beste Regie. Eine Reihe weiterer Auszeichnungen wird folgen. Im Mai desselben Jahres kommt der Streifen in die US-amerikanischen Kinos.

In den vier Monaten zwischen Festival und Leinwandstart rumort es gewaltig hinter den Kulissen. Offiziell wird das später nie jemand bestätigen, doch die einhundert bitterbösen Minuten, die Morgan Spurlock für seine satirische Gesellschafts-Doku abgedreht hat, haben es in sich. Und sie haben Folgen. Auch wenn bis zum heutigen Tage behauptet wird, dass die Änderungen im kulinarischen Programm bei McDonald’s, die im Anschluss folgen sollten, schon lange vorher geplant waren.

Wie es sich wirklich abgespielt hat, habe ich selbst miterlebt. Damals war ich, nach knapp zweijähriger Unterbrechung, zum zweiten Mal bei McDonald’s. Nicht nur als Geschäftsführer und Chef über die damals bereits 174 Filialen in ganz Österreich, sondern obendrein als Vize-Präsident für Personalangelegenheiten in Zentraleuropa. Das bedeutete, dass ich, rein konzeptionell betrachtet, für 140.000 Mitarbeiter zuständig war.

Dann kam der Film. Im Mai in den USA. Mitte Juli in Deutschland. Ende Oktober in Österreich. Bestimmt erinnern sich viele von Ihnen noch an die eine oder andere Szene. Nein? Nur bruchstückhaft?

So begleiten Sie mich auf dieser kleinen Reise in die Vergangenheit. Fünfzehn Jahre zurück. Das erscheint im ersten Moment wie eine sehr lange Zeit. Dabei sind fünfzehn Jahre so gut wie nichts. Nicht bei diesem Film, denn er hat bis heute nicht nur keinen Funken Aktualität eingebüßt, sondern in seiner Dramatik im Gegenteil um Dimensionen zugelegt. Nichts, was mit Fast Food zu tun hat, hat sich seither zum Besseren gewandelt, alles nur noch wesentlich verschärft.

Erstaunlich war und ist dieser Film in vielerlei Hinsicht. Einmal, weil er so symptomatisch ist für den Umgang der Fast-Food-Branche mit handfesten Krisen. Dann wieder, weil es ein einzelner Mensch war, der einen Riesen der Branche ordentlich ins Schwitzen gebracht hat. Ein absoluter Low-Budget-Streifen, hergestellt für fast lachhafte 300.000 US-Dollar, was schon an der Liste der Mitarbeiter abzulesen ist:

Regie: Morgan Spurlock.

Drehbuch: Morgan Spurlock.

Produktion: Morgan Spurlock.

Kamera: Scott Ambrozy.

Schnitt: Stela Georgieva, Julie Bob Lombardi.

Besetzung: Morgan Spurlock.

Das war’s dann schon wieder. Drei für Kamera und Technik, schauspielerisch eine One-Man-Show, sieht man von Spurlocks Interview-Partnern ab. Aber die haben alle ohne Gage mitgemacht. Mehr ist da nicht an Aufwand. Minimale Mittel, die eine weltweit maximale Wirkung zeitigen.

Werfen wir also im Zeitraffer einen Blick hinein in:

»Super Size Me« – Fressen bis zum Anschlag

»Ich glaube an Gott, die Familie und an McDonald’s. Und im Büro ist diese Reihenfolge umgekehrt.«

Das ist auch eines der vielen, fast legendären Zitate von Ray Kroc. Auch wenn er 2004 schon seit 20 Jahren tot ist. Ich selbst stieg 1993 bei McDonald’s ein, erlebte Kroc als Big Boss also nicht mehr. Dennoch war seine eiserne Hand, sein Generalkonzept, weder die Auswahl der Produkte, noch die Vermarktung und überhaupt keinen einzigen Handgriff eines Mitarbeiters dem Zufall zu überlassen, auch für mich von Anbeginn spürbar. Jederzeit. Das war immer schon so. Und das hat sich bis zum heutigen Tag nicht geändert. In jeder der knapp 37.000 Filialen. Für jeden der rund 1,8 Millionen McDonaldianer.

Überhaupt sind viele von Krocs Philosophien und Vorgaben bei McDonald’s so etwas wie ungeschriebene und zugleich eherne Gesetze. Unantastbare Fixpunkte, Maximen, an denen nicht zu rütteln ist. Weltweit heilige Kühe. Selbst wenn sie nicht mehr zeitgemäß sein mögen, oder hinderlich, weil eben die Betriebsabläufe im 21. Jahrhundert andere sind. Ich komme noch darauf zurück.

Der Film Super Size Me präsentiert zu Beginn allerdings ein anderes Zitat. Eines, das uns bereits begegnet ist:

»Kümmere dich um die Kunden,

und das Geschäft wird sich um sich

selbst kümmern.«

Zuvor werden wir noch für ein paar Sekunden auf eine Weise in die Materie eingestimmt, sodass uns zum ersten Mal der Atem wegbleibt. Weil die allerersten Bilder diese sind: eine Schar von Schulkindern, im Freien aufgefädelt, in mehreren Reihen sitzend. Fröhliche Buben und Mädchen, die ein Lied singen. Nicht irgendeines. Der Text geht so:

»A Pizza Hut …A Pizza Hut.

Kentucky Fried Chicken and a Pizza Hut.

McDonald’s …McDonald’s!

Kentucky Fried Chicken and a Pizza Hut.

I like food … I like food …

Kentucky Fried Chicken and a Pizza Hut.«

Die Worte werden ergänzt durch ausladende Gesten der Kinder, die auf einfachste Weise die angesprochenen Fast-Food-Riesen darstellen sollen. Die Schülerinnen und Schüler sind allesamt etwa zehn bis zwölf Jahre alt, und viele mit deutlich zu viel Gewicht an den Rippen. Sehr viele sogar. Einige richtiggehend fett, sodass einem das Herz stockt in einer Mischung aus Schock und Mitgefühl.

Dann, schwarz unterlegt, das erwähnte Zitat mit den Kunden.

Jetzt erst, zu Bildern einer wehenden US-Flagge, setzt die Stimme des Sprechers ein. Wir bekommen zu hören, was wir ohnedies wissen: dass die USA das Land der Superlative ist, weil alles um einen Tick größer ist als anderswo. Autos. Häuser. Von da bis dort. Bis hin zu den Portionen auf den Tellern.

Dann: »Die USA sind heute die fetteste Nation der Welt. Herzlichen Glückwunsch.«

Ein Filmprofi wie Spurlock weiß natürlich genau, an welchen Schrauben er drehen muss. Doch um billige Effekthascherei geht es letzten Endes gar nicht, weil das, was danach kommt, ohnedies für sich spricht.

Wir erfahren, dass sechzig Prozent aller US-Amerikaner übergewichtig oder stark übergewichtig sind, sprich: fettleibig. Halten wir an dieser Stelle den Film kurz an.

Adipositas
die Mutter (fast) aller Fast-Food-Krankheiten

Fettleibigkeit. Fachbegriff: Adipositas.

Auf Englisch: Obesity.

Als Gradmesser dafür, ob jemand bloß übergewichtig, oder schon fettleibig ist, gilt der altbekannte Body-Mass-Index, kurz: BMI. Dieser BMI war lange Jahre das Maß aller Dinge, wird mittlerweile aber kritisch gesehen. Für die Definition von Adipositas allerdings ist er nach wie vor hilfreich.

Die Berechnung ist überaus einfach: Körpergewicht in Kilo, geteilt durch das Quadrat der Körpergröße. Wer also 1,85 m groß ist und 85 Kilo wiegt, kommt auf 85:1,852 = 24,85. Wobei Alter und Geschlecht auch noch eine Rolle spielen.

Wie schädlich überschüssiges Körperfett für die Gesundheit ist, wie sehr es dazu beiträgt, eine oder mehrere der zahlreichen Folgekrankheiten auszulösen, die uns in Zusammenhang mit Fast Food noch begegnen werden, hängt natürlich auch von der Verteilung am Körper ab. Stichwort Apfeltyp oder Birnentyp. Mehr müssen wir an dieser Stelle nicht wissen.

Ein BMI-Wert von 18,5 bis 25 gilt üblicherweise als Normalgewicht. Zwischen 25 und 30 herrscht Übergewicht. Und ab 30 Adipositas. Mit diesen Abstufungen:


Adipositas Grad I: BMI 30 – 35
Adipositas Grad II: BMI 35 – 40
Adipositas Grad III: BMI 40 +

Bei Grad III spricht man auch von morbider Adipositas.

Viel bedeutender jedoch sind Antworten auf diese Fragen: Woher stammt Adipositas? Wen betrifft Adipositas? Was bedeutet das für den einzelnen Menschen? Was für die Gesellschaft?

Definiert wird Adipositas so: eine Ernährungs- und Stoffwechselkrankheit mit starkem Übergewicht.

Eine der möglichen Ursachen für das Auftreten von Fettleibigkeit sind Erbfaktoren. Extrem dicke Menschen gab es schließlich immer schon. Bestimmt kennen Sie jemand, der davon betroffen ist. Und bestimmt haben Sie auch schon dieses Erklärungsmodell gehört, das jedoch in den allermeisten Fällen an der Realität vorbeizielt:

»Ich würde wirklich gerne anders … ich tue auch alles, damit es anders wird … aber das sind eben die Gene.«

Früher, bis vor rund 11.000 Jahren, als der Mensch noch überwiegend Jäger und Sammler war und erst allmählich sesshaft wurde, war das Anlegen von Körperreserven ein absolutes Überlebensmerkmal. Entscheidend war das Spiel aus Grundumsatz, Nahrungsverwertung und Fettverteilungsmuster. Wer Überschüsse in den Fettzellen ablagern konnte, konnte in Zeiten des Mangels darauf zurückgreifen und dadurch überleben.

Die rasende Zunahme von Adipositas quer über den Erdball hat aber erst in den vergangenen Jahrzehnten so richtig eingesetzt. Die genetische Ausstattung von uns Menschen hat sich in dieser, evolutionstheoretisch betrachtet, extrem kurzen Zeitspanne allerdings nur minimal verändert. Genau genommen, so gut wie gar nicht.

Diese Art genetischer Ursache kann es also nicht sein. Ebenso wenig jener Fakt, dass es sich bei Adipositas ja auch um eine Stoffwechselerkrankung handelt. Weil lediglich zwei Prozent der Menschheit überhaupt an diversen Stoffwechselerkrankungen leiden, von welchen eine auch Adipositas ist. Bis heute ist völlig ungewiss, wie hoch unter diesen zwei Prozent der Anteil derer ist, die nur aufgrund ihrer Gene fettleibig sind. Selbst wenn es alle wären, so wäre es im Verhältnis zur Gesamtzahl aller Fettleibigen ein sehr geringer Prozentsatz.

Anfang der Nullerjahre des 21. Jahrhunderts, zu jener Zeit also, da Morgan Spurlock auf die Idee mit seinem Film verfiel und zu recherchieren begann, hatte sich die Zahl der Fettleibigen in den USA im Vergleich zu 1980 bereits verdoppelt. Innerhalb von nur zwanzig Jahren. Doch was der Filmemacher damals schon, völlig zu Recht, als mittlere Gesellschaftskatastrophe skizzierte, liest sich heute wie der Rückblick auf die guten, alten Zeiten.

Dazu folgende Grafik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, kurz OECD, aus dem Jahr 2017:


Quelle: OECD

Auf den ersten Blick zu erkennen: Die USA hat ihren Spitzenreiterplatz nicht abgegeben, doch Ungarn ist ihr auf den Fersen. In derselben Liga, auf der Grafik nicht ausgewiesen, spielen auch die Mexikaner und die Neuseeländer. Der OECD-Schnitt ist auch schon bei sehr beunruhigenden knapp zwanzig Prozent angelangt. Das bedeutet also, dass jeder fünfte Erwachsene der 36 Mitgliedstaaten bereits als adipös gilt. In sehr vielen Ländern außerhalb der OECD sieht es allerdings nicht viel besser aus.

Was sind also, abgesehen von den ungünstigen Genen, die Ursachen dieser Seuche, die unsere Erde erfasst hat? Um kein falsches Bild zu erzeugen, führe ich hier alle an, die üblicherweise genannt werden. So gering manche in ihrer tatsächlichen Auswirkung auch sein mögen. Allfällige Auslöser für Fettleibigkeit sind also unter anderem:

• Essstörungen (Sucht)

• Schlafgewohnheiten: Eine Studie an Kindern (acht bis elf Jahre) ergab, dass jene, die mehr schliefen, weniger Gewicht haben. Das soll mit unserem Leptin-Haushalt zu tun haben. Leptin, ein Hormon, das Signale aussendet, um das Essen einzustellen und Energie aus den Speichern (zum Beispiel Fettdepots) zu gewinnen. Neuerdings gilt dieses Leptin in der Wissenschaft als möglicher Verursacher von Übergewicht. Vor einigen Jahren noch wurde es hingegen als Wundermittel gegen Übergewicht gefeiert. Wirklich gesichert ist weder das eine noch das andere.

• Nebenwirkungen von Medikamenten: Hier zu nennen sind Insulin, medikamentöse Verhütungsmittel, Antidepressiva, Betablocker und andere, bei denen die Gewichtszunahme nachgewiesen ist.

• Infektion durch das Adenovirus Typ AD-36: Dieses (Schnupfen-)Virus verfügt über die zweifelhafte Fähigkeit, Stammzellen in Fettzellen umzuwandeln. US-Forscher haben erstmals 2010 veröffentlicht, dass Kinder, die irgendwann einmal mit dem Virus in Berührung gekommen sind und Antikörper ausgebildet haben, tendenziell mehr auf die Waage bringen würden als andere. Im Fachmagazin Pediatrics wurde auch einer der Forscher zitiert, Jeffrey Schwimmer: »Die meisten Menschen sind der Ansicht, wer dick ist, sei daran selber schuld. Die Ergebnisse dieser Studie belegen aber, dass die Hintergründe komplizierter sein können.«

• Sein können. Weil die Studie ebenso gut den Umkehrschluss zulässt. Dass ohnehin zu dicke Kinder einfach bloß anfälliger sind für diese Art von Erkältungsvirus. Dass AD-36 ausgerechnet in den vergangenen Jahrzehnten aus der Spur geraten und seine vollen Kräfte am Menschen entwickelt haben soll, seit es auch den Fast-Food-Boom gibt, erscheint doch einigermaßen weit hergeholt.

Was bleibt? Die echten, breitenwirksamen Ursachen für die weltweit so enorme Zunahme von Übergewicht und Fettleibigkeit müssen demnach anderswo begraben liegen. Vielleicht doch darin?

• Sitzende Tätigkeiten bei gleichzeitig wenig Bewegung (Auto, Fahrstuhl, Rolltreppe)

• Viel passive Zeit vor Fernseher und Computer

• Essen als Übersprungshandlung, sprich, aus Frust und Langeweile

• Ein Überangebot an Nahrung

• Ersatz-Essen (als Ausgleich für Liebesmangel)

• Erziehung (»Iss deinen Teller leer, sonst …!«)

• Unregelmäßige Mahlzeiten (zum Beispiel durch beruflichen Stress et cetera)

• Mahlzeiten unterwegs anstatt in Ruhe bei Tisch

• Fast Food anstatt frisch gekocht

• Zu schneller Verzehr von Nahrung

• Portionsgrößen

• Zu hoher Zucker-, Fett- und Salzgehalt bei zugleich nicht anhaltend sättigender, hochwertiger Nahrung

• Glutamat und andere Geschmacksverstärker

• Einfluss durch Werbung für zucker- und fetthaltige Nahrung

• Frühkindliche Prägung auf Zucker (Babynahrung, gesüßter Tee, Softdrinks, gesüßte Fleischprodukte und so weiter)

• Jo-Jo-Effekt nach Diäten

Wir sehen schon: Mit Ausnahme der ersten beiden Faktoren haben alle dieser auch als sozio-kulturell bezeichneten Faktoren unmittelbar mit Nahrungsaufnahme zu tun. Übergewicht als erwünschtes Schönheitsideal (zum Beispiel bei Sumo-Ringern) ist in unserem Kulturkreis praktisch auszuschließen.

Was fällt noch auf? Es hat überwiegend mit billig hergestellter, industrieller Nahrung zu tun. Fast Food eben.

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9783990013465
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