Читать книгу: «Ein Wandel der Gesinnung», страница 4

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Wenn dem Körper wichtige Nahrungsmittel vorenthalten werden, wird er automatisch in seiner Funktionsfähigkeit eingeschränkt. Bei mir äußerte sich dies vor allem in der ständigen Mattigkeit, welche keine größeren Aktivitäten mehr zuließ. Man war froh, abends nach Dienstschluss wieder die gewohnte, stickige Kneipenluft einatmen zu dürfen. Durch die geringe Zufuhr an frischem Sauerstoff geriet auch das Immunsystem ins Wanken. Erkältungen mit Fieberschüben, plötzliches Auftreten von Nasenbluten durch erhöhten Blutdruck oder Gelenkschmerzen bildeten nur eine Wenigkeit der durch den Alkohol bedingten Begleiterscheinungen. Mein Körper war gegen diese Fülle an gesundheitsgefährdenden Einwirkungen nicht mehr gefeit und musste sich letztendlich geschlagen geben. Aus dieser absichtlich herbeigeführten Entkräftung entstand ein schmerzhaftes Zusammenziehen der Muskeln. Selbst beim Anfassen des Bierglases oder im Verlauf einer Zigarettenpause verkrampften sich die Finger derart, dass ich sie erst mit der anderen Hand vom Objekt der Begierde lösen musste. Von diesen Krämpfen wurden ausnahmslos alle Körperteile, die irgendeinen Muskel vorzuweisen hatten, in regelmäßigen Abständen heimgesucht. Auch der Magen schreckte vor solchen Koliken nicht zurück. Besonders erschwerende Umstände lösten diese Attacken in der Einschlafphase aus. Lag man fünf Minuten ruhig auf einer Seite und die Gliedmaßen wirkten entspannt, genügte nur ein einziger Gedanke an eine Muskelverhärtung, so wurde diese prompt vom Gehirn aus auf den Plan gerufen. Aus dem ersehnten Schlaf entwickelte sich ein stetiger Kampf gegen lästige Schmerzen, welche mich dazu nötigten, das Bett für Lockerungsübungen zu verlassen. Mit den daraus entstandenen Auswirkungen in Form von Muskelkater durfte ich mich am nächsten Tag ausgiebig beschäftigen. Besonders heikel waren diese krampfartigen Anfälle vor allem während des Autofahrens. Mehrfach trat ein solcher aus unerklärlichem Grund unterhalb des Rippenbogens auf und veranlasste mich zu einem unbeschreiblichen Tanz am Lenkrad. Um das Leiden einigermaßen erträglich zu gestalten, versuchte ich es mit der Einnahme von Magnesiumtabletten. Trat dann eine Besserung auf, geriet diese Maßnahme schon bald wieder in Vergessenheit.

Da sich Alkohol und Nikotin hervorragend in ihren Eigenschaften ergänzten, gehörten Durchblutungsstörungen zu einer weiteren Folgeerscheinung meines unachtsam geführten Lebensstils. War das Entfernen vom Barhocker aufgrund eines Toilettenganges unvermeidbar, verneigte man sich unbeabsichtigt vor den anderen, da sich zumindest ein Bein noch im Tiefschlaf befand. Anstatt aus diesen Beeinträchtigungen eine heilsame Lehre gezogen zu haben, erlitt ich lieber die Peinigungen und blieb meiner eingeschlagenen Lebensführung treu. Dies nennt man erbrachte Hingabe für eine zum Scheitern verurteilte Vorgehensweise. An dieser plötzlich eintretenden Gefühllosigkeit in den unteren Extremitäten habe ich auch heute noch ab und an zu leiden. Bei längerem Sitzen in Bus oder Bahn überprüfe ich jedoch fortan vor dem Aussteigen die Tragfähigkeit und erspare mir dadurch einstige peinliche Abgänge. Die im alkoholischen Zustand davongetragenen Verletzungen veranlassten mich zu einer vorsichtigeren Gangart. Schon allein der Anblick einer Wendeltreppe ließ mein Herz im negativen Sinne höher schlagen. Alles, was nicht ebenerdig war, wurde von mir als Hindernis angesehen und ich versuchte dieses, so gut es ging zu umgehen.

Besonders nervenaufreibend und schweißtreibend gestaltete sich die Fahrt zum Therapieplatz nach Wilhelmsheim. Mit schlottrigen Beinen und einer inneren Unruhe erreichte ich zusammen mit den zwei Koffern und einer Tragetasche das erste Etappenziel Augsburg. Zu meinem Entsetzen hatte weder die ab- noch aufwärtsführende Treppe eine Geländerstange zum Festhalten. Da stand ich nun wie ein gebrochener Mann vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Erst einmal ließ ich alle Reisenden passieren und bewunderte ihre Leichtfüßigkeit, mit der sie sich in die Tiefe stürzten. Danach nahm ich einen Koffer und stützte mich während des Abstiegs mit der rechten Körperhälfte an der Mauer ab. Nach einiger Zeit hatte ich das ganze Hab und Gut unterhalb von Gleis 7 deponiert und bewegte mich nach kurzem Verschnaufen in Richtung Bahnsteig 1. Dort konnte ich den mittlerweile eingespielten Ablauf dann treppauf wiederholen. Als ich schließlich im ICE nach Stuttgart saß, benötigte mein Körper über eine Stunde, um sich von diesem Stress einigermaßen zu erholen. In dieser Phase verfluchte ich erstmals den Alkohol, der mich zu einer gehbehinderten Person gemacht hatte. In der Hoffnung, dass dieses Leid bald ein Ende finden sollte, verließ ich in Stuttgart den Zug, wo eine noch größere Belastungsprobe auf mich wartete. Aufgrund von Wartungsarbeiten befand sich der Personenaufzug ins Untergeschoss zur S-Bahn außer Betrieb und die Rolltreppe abwärts war wegen technischen Defekts gesperrt. Als ich so hilflos in die Tiefe blickte, nahmen sich zwei Bahnbedienstete meiner an und trugen das gesamte Gepäck die Steintreppe hinab. Es war wie ein Wink von irgendwoher, welcher mir zeigte, dass der von mir eingeschlagene Weg der Richtige sei.

Die einstige Verunsicherung bei der Fortbewegung hinterließ Folgeschäden, mit denen ich noch heute zu kämpfen habe. Da das Gleichgewicht von vielen körperlichen Funktionen abhängig ist, entstanden durch die Fremdeinwirkung durch übermäßiges Trinken verschiedene Störungen, welche zu unkontrollierten Bewegungsabläufen führten. Daher genügte ein einziger Blick gen Himmel, um die Balance zu verlieren. Nach einem ausgiebigen Kneipenbesuch war das Gehirn nur noch bedingt einsatzfähig und dadurch kam es unweigerlich zu Unstimmigkeiten bei der Absprache mit der Motorik. Die Beine wollten nicht so wie der Kopf und deshalb kam es beim Laufen zum Verkanten der Füße, welches entweder einen Sturz zur Folge hatte oder aber in einer Serie von ausgreifenden Schritten endete.

In dem Wirrwarr der letzten Monate vor der Heilbehandlung schmiedeten die Organe einen Komplott gegen mich, um wieder Vernunft walten zu lassen. Allen voran erwies sich die Fettleber durch ein Stechen unterhalb des rechten Rippenbogens als zuverlässiger Peiniger. Sobald ich wieder einmal das Maß überschritt, setzte es sofort schmerzhafte Seitenhiebe, welche mich bei anfallenden Tätigkeiten stark beeinträchtigten. Auch das Herz stand dieser Quälerei in nichts nach und versuchte mir durch starkes Klopfen sowie Reißen Angst einzujagen. Zu meinem Erstaunen kündigte auch das Zahnfleisch den Pachtvertrag mit dem Gebiss und die Zähne machten sich selbstständig. Wer nicht freiwillig seinen Platz räumte, wurde vom Dentisten ohne großes Aufsehen entfernt. Auch im Gesicht zeichneten sich die bei Alkoholikern typischen Gefäßspinnen ab. Die anfangs noch rötlichen Äderchen verfärbten sich zum Ende hin blau und gaben Anlass zu lästigen Fragen: „Hast du eins auf die Nase bekommen oder eine Mauer abgeküsst?“ Solche und ähnliche musste ich über mich ergehen lassen, bevor ich selbst eine Bestandsaufnahme vom Gesicht machte. Tatsächlich fanden sich in dem aufgedunsenen Aussehen farbliche Kontraste, die besonders bei Kälte Wirkung zeigten.

Diese Auswahl an seelischen und körperlichen Gebrechen, verursacht durch den unkontrollierten Umgang mit Alkohol, gab schließlich den Ausschlag für eine sofortige therapeutische Maßnahme, welche ich dann zu meinem Wohlergehen ergriff.

Impressionen aus Wilhelmsheim

Vom richtigen Weg abzuweichen, ist einfacher,

als einen Ausweg zu finden.

Hanspeter Götze

Der heutige Tag (27. September 2012) ist Anlass für einen Rückblick auf meine Therapiezeit in Wilhelmsheim. Exakt vor einem Jahr verließ ich meine chaotische Wohnung und ging ungelenkig und unsicher mit zwei Koffern bepackt in Richtung Bushaltestelle. Schon auf diesem kurzen Weg wurde mir bewusst, dass es für meinen Körper höchste Zeit war, dem Alkohol abzuschwören. Die erste Etappe im Zug nach Augsburg durfte ich im Stehen verbringen, wobei mir zunehmend die Knie wackelten und bei den sommerlichen Temperaturen der Schweiß in meiner Winterjacke herunterlief. Den Blicken der Mitreisenden nach zu urteilen, passte ich mit meinen Aufzug nicht in deren Gesellschaft, da diese mit Sonnenbrillen und T-Shirts bestückt den schönen Herbsttag genossen. Doch dies alles ignorierte ich und konzentrierte mich vollends auf die bevorstehenden sechzehn Wochen, die mein Leben verändern sollten.

Ich erinnere mich noch genau an die Bilder und Gedanken, die während der Zugfahrt in meinem Kopf abwechselnd als Zeitvertreib vorbeiflogen: Da war der Anblick eines verurteilten Straftäters in seiner kargen Zelle, beschäftigt mit seiner Buchhaltung, nämlich für jeden neuen Tag einen Strich an die Wand zu zeichnen. Verglichen damit war das mir Bevorstehende eher eine Art Kur mit täglicher Kopfwäsche und Aussicht auf Besserung. Den Ablauf einer Therapie kannte ich von meinem ersten therapeutischen Aufenthalt in Wolfsried (Oberstaufen) vor zehn Jahren und reiste nun mit dem festen Vorsatz an, das Thema Alkohol endgültig aus meinem Leben zu streichen.

Nach viereinhalb Stunden Zugfahrt erreichte ich den Zielbahnhof Oppenweiler und wurde dort von dem hauseigenen Fahrdienst abgeholt. Der erste Eindruck des Gebäudekomplexes erinnerte mich an ein Internat aus meiner Jugendzeit und lag auf einer Anhöhe mit einem schönen Rundumblick auf die hügelige Landschaft. Nachdem ich eingecheckt hatte, bekam ich alle notwendigen Unterlagen (Hausordnung, Gebäudeplan, Therapiemaßnahmen etc.) und einen Laufzettel. Ein mulmiges Gefühl hatte ich beim Alkoholtest im Stationszimmer, wohl wissend, dass ich am Vortag zum Abschied meiner Trinkerära noch fünf Bier getrunken hatte. Vorher wollte man noch von mir wissen, in welchem Krankenhaus ich die Entgiftung vorgenommen hatte, die ein wesentlicher Bestandteil der Aufnahmekriterien für die Klinik darstellte. Diese Frage musste ich verneinen, da ich eine Entgiftung nie in Betracht gezogen hatte. Der Alko-Test ergab zu meiner Erleichterung den für die Aufnahme erforderlichen Wert von 0,00 Promille. Das Einzige, was den Arzt nachdenklich machte, war der hohe Blutdruck, der sich aber nach einer Stunde wieder normalisierte. Danach bekam ich von einem Gruppenmitglied (Pate) die Räumlichkeiten und mein Zimmer gezeigt.

Die Vorfreude auf das Mittagessen wurde je getrübt, als ich erfuhr, dass es dienstags (Tag meiner Anreise) nur vegetarische Kost gab. Vorbei war die Fiktion eines Wiener Schnitzels und gleichzeitig verkleinerte sich mein Magen beim Anblick der vegetarischen Kohlroulade. Den Rest des Tages verbrachte ich mit Kofferauspacken, Kennenlernen des Zimmernachbarn und der Besichtigung des Domizils, in dem ich die nächsten sechzehn Wochen verweilen würde. Gleichzeitig nutzte ich die freie Zeit, um noch einmal über meine Ziele und Wünsche nachzudenken, die da gewesen wären: absolute Abstinenz für eine unbestimmte Zeit, die Wiedererlangung der körperlichen Fitness, aufrichtig und ehrlich mit meiner Krankheit umzugehen und mir selbst zu beweisen, wie willensstark ich sein kann. Ich wollte nicht wieder die Fehler begehen wie nach meiner ersten Therapie, als ich – anstatt mir ein neues Umfeld zu suchen – in das alte Milieu zurückgekehrt war. Nachdem ich noch einige Worte mit meinem Zimmernachbarn gewechselt hatte, legte ich mich seit langer Zeit wieder in ein fremdes Bett und konnte erleichtert und ohne schlechtes Gewissen einschlafen.

Der nächste Tag war ein Schaulaufen durch die einzelnen Abteilungen. Termin bei der Oberärztin, psychologischer Test, Gespräch mit dem Physiotherapeuten anlässlich meiner Schuppenflechte, die sich durch den Alkoholmissbrauch sichtlich verschlechtert hatte. Zu erwähnen ist auch die Einhaltung der vom Körper verlangten Raucherpausen, welche nebenbei die Option bot, andere Patienten kennenzulernen.

Am Nachmittag traf ich dann bei der ersten Gruppentherapiestunde auch auf die anderen Patienten. Nach einer kurzen Vorstellung meiner Person ging es dann reihum und jeder nannte seinen Namen, die Beweggründe seines Aufenthaltes und die bisher absolvierten Wochen. Die Therapeutin war Frau Pö. als Vertretung für Frau Q. Die Themen der Therapiestunden waren spezifisch auf den Missbrauch von Alkohol und dessen körperliche Folgen aufgebaut, beinhaltete aber auch die Möglichkeit, über eigene Probleme innerhalb der Gruppe zu sprechen. Jede erdenkliche Pause zwischen den einzelnen Gesprächsthemen wurde zum Rauchen in den eigens dafür errichteten Zonen genutzt. Gleichzeitig dienten diese Plätze als idealer Treffpunkt, um die einzelnen Charaktere der Patienten kennenzulernen und sie auch wahrzunehmen.

Gleich in den ersten Wochen fiel mir die hier herrschende Klassifizierung auf: Hier unterschied man zwischen den schon länger Einsitzenden und den kurz vor der Entlassung Stehenden und denen, die sich als Neuankömmlinge etablieren mussten. Manche fühlten sich gar in der Rolle des „guten Alkoholikers“ im Gegensatz zu den „schlechten Suchtkranken“. Viele Gespräche, insoweit man sie so nennen konnte, ähnelten in Art und Weise dem Geschwätz aus meiner Stammkneipe, nur mit dem Unterschied, dass statt Bier literweise Kaffee und Cola getrunken wurden.

Da Ende September und auch teilweise im Oktober noch sommerliche Temperaturen herrschten, verbrachten die meisten der Klinikinsassen die Zeit mit Sonnenbrille und Handy auf den bereitgestellten Stühlen rund um den Raucherplatz im Hof von Haus 3, in dem auch ich untergebracht war. In diesem Gebäude gab es sogar Doppelzimmer mit Balkon, der – trotz Verbot – als idealer Ort zum Paffen diente und so das lästige Treppensteigen ersparte. Um nochmals auf die Sonnenanbeter zurückzukommen, herrschte auch in dem so geselligen Kreis eine Sitzplatzhierarchie. Unterteilt in die verschiedenen Therapiegruppen (Alkohol- und Spielsucht), wurde auch innerhalb der eigenen Gruppe (B3) durch Gesten und mündliche Zuweisung die Sitzordnung hergestellt. Weitgehend erinnerte mich das ganze Verhalten an meine Zeit, als ich für sechs Wochen als Praktikant im Kindergarten meiner Heimatstadt tätig war, ausgehend von der Fachoberschule im sozialen Zweig. Und ich muss feststellen, dass sich die Zwerge von damals gesellschaftlich viel besser verhielten als die meisten der in Wilhelmsheim stationär behandelten Patienten.

Der Gesprächsinhalt hätte bei so manchem Therapeuten beim zufälligen Mithören Zweifel an seiner Berufswahl hervorgerufen. Da ging es um einen Suchtkranken, der dieses Jahr seinen eigenen aufgestellten Rekord an Entgiftungen in seinem Stammkrankenhaus überbieten wollte. Ein anderer Patient musste sich vor der Aufnahme zur Therapie noch einmal richtig die Kante geben, um dann mit 2,0 Promille hier aufzukreuzen. Bei manchen Insassen konnte man schon nach dem Zuhören annehmen, dass der Sinn und Zweck der Therapie nur darin bestand, sich auf Kosten anderer für sechzehn Wochen zu erholen, um dann gestärkt wieder die beliebte Bahnhofskneipe aufzusuchen. Ein Patient aus unserer Gruppe durfte sich schon als Stammkunde in Wilhelmsheim fühlen, da er diese Fachklinik in regelmäßigem Abstand von zwei Jahren zum dritten Mal aufsuchte.

Um aber an meinen eigenen Zielen und Selbstansprüchen festzuhalten, waren gerade diese Wahrnehmungen von äußerster Wichtigkeit. Mehr und mehr zog ich mich in mein Zimmer zurück und widmete mich der schreibenden Kunst oder führte sinnvolle Gespräche mit meinem Zimmernachbarn Bernd. Er war aus eigenem Antrieb hierhergekommen, da sein Arzt bei ihm eine Leberzirrhose diagnostiziert und ihm ein striktes Alkoholverbot auferlegt hatte. Im Gegensatz zu mir hatte er auch eine nette sympathische Lebensgefährtin, die ihn in dieser nicht gerade leichten Zeit tatkräftig unterstützte und ihm Mut zusprach. Sie sorgte auch dafür, dass wir mit den wichtigen Sachen wie Tabak und Süßigkeiten versorgt wurden, da wir beide noch keinen Ausgang hatten. Ich dagegen hatte niemanden, keine Familie oder Freundin. Dies klingt zwar im ersten Moment bemitleidenswert, stellte sich später aber als Glücksfall heraus, da ich mich voll und ganz auf die Therapie konzentrieren konnte, die letztendlich auch nur zu meiner Heilung dienen sollte.

Wie sehr diese Behandlung aus dem Gleichgewicht geraten konnte, zeigte sich meist dienstags und donnerstags. Dies waren die Ankunftstage für die Neuankömmlinge. Wilhelmsheim beherbergt sowohl Männer als auch Frauen und so ergab es sich, dass an diesen Tagen die Möchtegerncasanovas fein gestriegelt Spalier standen, um Ausschau nach einer zu ihnen passenden Säuferbraut zu halten. Während meines später auf fünfzehn Wochen verkürzten Klinikaufenthaltes zählte ich über zwanzig feste Beziehungen – ohne dabei die kurzzeitigen Techtelmechtels mit einzubeziehen. Über diese Affären und deren Auswirkungen auf die Heilbehandlung werde ich später noch näher eingehen.

Eine Berücksichtigung in meinem Rückblick findet natürlich auch die Verköstigung und deren Ablauf: Jeder Patient erhielt nach der Untersuchung durch die Oberärztin eine dem Gesundheitszustand angepasste Essenskarte, die sich farblich von den anderen unterschied und für das Küchenpersonal mit einem Vermerk gekennzeichnet war. Ich erhielt die Farbe blau, obwohl ich gerade diesen Zustand ändern wollte. Doch diese Karte war das Nonplusultra bei der Essensausgabe und ich behielt diese bis zu meiner Entlassung. Sie berechtigte den Inhaber zur freien Auswahl bei den täglich angebotenen Speisen. Da nur einige im Besitz dieser Karte waren, verkürzte sich für mich automatisch die Wartezeit.

Die Essenszeiten waren genau festgelegt und einige Patienten, die anscheinend nur wegen der Mahlzeiten die Therapie angetreten hatten, stellten sich teilweise schon 45 Minuten vor Öffnung des Speisesaals vor die verschlossene Tür, während andere Leidensgenossen noch in den einzelnen Therapiestunden ausharrten. Zehn Minuten bevor sich die Schiebetür öffnete, bildete sich dann die tägliche Menschenschlange. Diese reichte bis zum Ende des langen Ganges und selbst der Treppenaufgang war immer gut besetzt. Das Bild ähnelte dem früheren Obsteinkauf vor Weihnachten bei einem HO-Geschäft in der einstigen DDR. Bevor der Chefkoch die Tür öffnete, kontrollierte er noch mal alle vorhandenen Fluchtwege, um nicht von der hungrigen Masse niedergetrampelt zu werden. In der Warteschlange stehend, merkte man die Anspannung, die sich bei den Patienten auftat. Kaum hörten sie das Geräusch der Schiebetür, zuckten einige regelrecht zusammen. Andere wiederum beendeten abrupt das Gespräch mit dem Nachbarn, um sich voll und ganz auf die Sättigung zu konzentrieren.

Bei vielen führte der erste Gang zum Salatbuffet. Dort stand man dann mit gefülltem Teller, um die anderen bei deren Handhabung zu beobachten und sicherzugehen, dass man beim Aufladen nichts vergessen hatte. Dabei bemerkten diejenigen nicht einmal, dass sich ihr Teller in Schräglage befand und somit unfreiwillig eine Kostprobe von dem ausgewählten Dressing auf die Schuhe des Nachbarn abgab. Bei der Verköstigung handelte es sich keineswegs um ausgehungerte Kreaturen, die nach tagelanger Flucht aus ihrem eigenen Land endlich wieder etwas Essbares in den Händen hielten. Nein, hier versammelten sich gestandene Männer und Frauen im Kampf um die Gewichtszunahme. An Tagen, an denen Pudding als Dessert auf der Tageskarte stand, wurde der Buffettisch mehrmals aufgesucht. Befand sich dann nur noch eine geringe Menge des leckeren Nachtischs in der Schüssel, wurde peinlichst darauf geachtet, dass der Hintermann auch ja nichts davon abbekam.

Im Speisesaal selbst herrschte ebenfalls eine bestimmte Sitzordnung. Einzelne Therapiegruppen saßen vereint an einem langen Tisch, Pärchen nahmen bevorzugt und zurückgezogen in den Ecken Platz und es gab auch einen Tisch für die sogenannten „Aussätzigen“, die in ihrer Wesensart und im Aussehen nicht dem Standard eines Normalalkoholikers entsprachen. Beim Essen selbst wurde dann argwöhnisch jeder Bissen des Tischnachbarn beobachtet, um möglichst noch vor ihm einen Nachschlag beim Koch zu holen. Bei all diesen Aktionen waren die Patienten hellwach und nutzen die Möglichkeit eines Mittagsschlafes lieber später bei der anstehenden Gruppentherapie. Gesitteter verlief es an den Wochenenden, da der Großteil der Behandelten entweder Ausgang oder Heimurlaub hatte und man dann in Ruhe die Mahlzeiten zu sich nehmen konnte.

Die ersten Stunden in der Bezugstherapie ähnelten meist einem Stummfilm, in dem nur einem Darsteller eine Stimme verliehen wurde und diese erhielt die Therapeutin. Die Gruppenmitglieder selbst verharrten eine Zeit lang regungslos, bis dann der Erste auf Toilette musste. Dies gab den anderen gleichzeitig die Möglichkeit, ihre Sitzpositionen zu ändern und einen Blick auf die Uhr zu werfen, um die verbleibenden Minuten bis zur nächsten Zigarettenpause auszurechnen. Um nicht weiter als Alleinunterhalterin fungieren zu müssen, beschloss Frau Pö., die noch offenen Fragen auf der uns bekannten Liste in drei Gruppen aufgeteilt zu bearbeiten. Bei dieser Problematik ging es um Situationen und deren Bewältigung während der Abstinenz. Also wurde rundum bis drei abgezählt, um eine Gruppenbildung unter den elf Patienten herzustellen. Dies schien auf den ersten Blick die vernünftigste Lösung für die gescheiterte einseitige Konversation zu sein. Doch schon bei der Abzählung geriet der Ablauf immer wieder ins Stocken, da der eine oder andere mit seinen Gedanken noch bei der Verdauung des Mittagessens war und man ihm erst einmal den Grund des Durchzählens erklären musste. Letztendlich fanden sich drei Gruppen, die sich dann auch umgehend ins Freie begaben, um sich erst einmal eine Zigarette anzuzünden.

In jeder Gruppierung befand sich ein Schreiber, der sich von den vorgeschlagenen Lösungen für die drei zu bearbeitenden Punkte aus der Liste Notizen machte, um sie dann nach Beendigung der fünfzehnminütigen Überlegungsphase der gesamten Therapiegruppe vorzulesen. Bei einem Thema ging es beispielsweise um die Freizeitgestaltung ohne Alkohol. Dann trug der Auserwählte der ersten Gruppe die zusammengetragenen Lösungsmöglichkeiten vor, während die Schreiber der beiden noch ausstehenden Teams eifrig die bei ihnen nicht gelisteten Alternativen auf ihren Zetteln nachträglich hinzufügten, um mit ihren Gruppen am Ende besser dazustehen. Die anderen Patienten verfolgten das Szenarium mit einer Begeisterung, die sonst nur bei einem Trauerzug zu erkennen ist. Bevor wir zu dem zweiten Punkt auf der Liste kamen, war die Zeit der Therapiestunde vorüber und der Raum leerte sich schneller, als er sich vorher gefüllt hatte.

Den Grund, warum die Konversation gerade bei dieser Therapeutin immer wieder stagnierte, erfuhr ich am eigenen Leib. Es ging um die Frage, wie jeder mit der Abstinenz umgehen wird. Da meldete ich mich und erzählte von den Erfahrungen von Bekannten, die es auch versucht hatten, dann aber doch wieder rückfällig geworden waren. Dann wurde ich von Frau Pö. unterbrochen und sie gab mir zu verstehen, dass ich über mich sprechen solle und nicht von anderen und dass diese Aussage hier fehl am Platz sei. Wie bei einem Arztbesuch kam der Nächste an die Reihe. Danach sprach ich mit einem unserer Patienten und wollte wissen, warum sich so wenige von unserer Gruppe während der Therapiestunde zu Wort meldeten. Er meinte, das Beste sei, man halte den Mund und lasse bei Fragen die beiden Dienstältesten Rede und Antwort stehen.

Die nächsten Therapiestunden verbrachte ich als stiller Zuhörer, bis es einmal um das Thema „Körperliche Schäden durch Alkohol“ ging. Da meldete ich mich zu Wort und gab Folgendes zum Besten: „Als ich den letzten Vortrag über das gleiche Thema hörte und die Schädigungen auch anhand von Bildern gezeigt wurden, dachte ich mir im Stillen, es wäre besser gewesen, wenn ich früher auf Alkohol verzichtet und stattdessen lieber die Beziehung mit meiner Freundin fortgesetzt hätte. Die dann entstandenen Schäden im seelischen Bereich wären nicht so schlimm gewesen.“ Darüber musste sogar Frau Pö. schmunzeln und fortan wurde ich als Patient akzeptiert.

Die Anfangswochen waren richtungweisend für den weiteren Verlauf der Therapie. Das Programm bot eine Vielfalt an Möglichkeiten, um sich intensiv mit seiner Krankheit zu befassen und eine Auseinandersetzung mit seinem Körper zu haben. Konzentriert verfolgte ich die verschiedenen Vorträge über die Themen: Sucht, Abstinenz, Schädigung der inneren Organe und des zentralen Nervensystems, gesunde Ernährung, Rauchentwöhnung etc. Hierbei wurden wir durch die vortragenden Therapeuten mit der Wirklichkeit konfrontiert, die man vorher einfach nicht wahrhaben wollte oder von der man einfach nichts wusste. Bei den Rednern gab es kurioserweise eine namentlich alphabetische Reihenfolge. Während man bei dem Therapeuten C. immer gegen das Einschlafen kämpfen musste, erweckte Herr Y. mit seiner überzeugenden und jedem verständlichen Vorgehensweise das Interesse und die Sympathie der Anwesenden. Bei jedem Vortrag gab es unter den Patienten einige, die durch unsachgemäße Fragen den Ablauf störten, um sich vor den anderen zu privilegieren. Doch diese Vorhaben scheiterten meist an der Kompetenz des wortführenden Therapeuten. Für mich waren diese Vorträge wichtig für die Selbsterkenntnis und zugleich eine Überlieferung von Fachwissen, die ich für meine tägliche Aufarbeitung des Problems benötigte.

Ein anderes Kapitel war die Einführung in den Fitness- und Kraftraum. Dort wurden einem die ganzen Gerätschaften erklärt, die jedem Patienten zur Körperertüchtigung in seiner Freizeit zur Verfügung standen. Da ich nach meiner Entlassung nicht mit „Arnold“ angesprochen werden wollte, interessierte mich das Ganze genauso wenig wie der Speiseplan am Dienstag – der Tag des vegetarischen Essens. Von mir genutzt wurde dieser Raum nur auf Anraten der Ärztin für das zweimal wöchentliche Ergometer-Training. Die dabei zurückgelegten Kilometer hätten beinahe für eine Teilnahme an der „Tour de France“ gereicht.

Eine weitere Abwechslung bei der Freizeitgestaltung außer dem ständigen Rauchen war Tischtennisspielen mit anderen Patienten in einem eigens dafür vorgesehenen Raum. Anfangs ging man dieser sportlichen Ertüchtigung mit Ehrgeiz und Euphorie nach, doch zunehmend verflachten diese und schließlich verschwand dieser Zeitvertreib ganz aus der Planung. Eine positive Sache ergab sich trotzdem aus diesen Sporttreffen, da ich bei dieser Gelegenheit Peter kennenlernte und wir bis zum heutigen Tag in Kontakt geblieben sind.

Um meine Motorik, die durch den übermäßigen Alkoholkonsum arg gelitten hatte, wieder einigermaßen zu stabilisieren, wurde mir von der Ärztin die Teilnahme an sportlichen Therapiemaßnahmen zugeteilt. Doch sowohl die Hüpfübungen auf einem Minitrampolin als auch die Gymnastikübungen waren Gift für meine Gleichgewichtsstörungen. Dies erkannten auch die dafür zuständigen netten Sporttherapeutinnen und so wurde ich letztendlich durch die Ärztin von diesen Maßnahmen befreit.

Nach den ersten drei Wochen sogenannter Eingewöhnungsphase hatte ich auch das Glück, unsere wahre Therapeutin Frau Q. kennen- und schätzen zu lernen. Endlich kam Schwung in den müden Haufen. Natürlich gab es in unserer Gruppe einige Unbelehrbare, die durch ihre Teilnahmslosigkeit während einer Diskussion für unnötige Wartezeiten sorgten. Viele haderten noch mit ihrem Schicksal und sahen in der Therapie eine Art Bestrafung für die in ihrem Leben angeblich zwei nachweisbar begangenen Alkoholexzesse. Dafür gleich als Alkoholiker abgestempelt zu werden, sei eine gemeine Intrige unserer Gesellschaft. Für die wenigen, die mit solch einer Einstellung anderen, wirklich Hilfebedürftigen den Platz in der Klinik wegnahmen, hätte anstelle der Therapeutin auch eine Holzpuppe als Ansprechpartner genügt. Doch das Gros der Gruppe erkannte die Notwendigkeit der auferlegten Heilbehandlung und zeigte Interesse am Gesamtablauf der Bezugsgruppenstunden.

Eine Woche später stand ein gemeinsamer Tagesausflug nach Ludwigsburg auf dem Plan. Zum einen konnte ich seit meiner Ankunft in Wilhelmsheim das Klinikgelände verlassen, zum anderen führte der Weg direkt in das erste Strafvollzugsmuseum Deutschlands in Ludwigsburg. Danach ging es zum Stadtarchiv, wo uns der Archivar die spektakulärsten Mordfälle im Bereich Ludwigsburg anhand von originalen Polizeiberichten ausführlich schilderte. Bis zur Zugabfahrt konnte dann jeder die freie Zeit für persönliche Einkäufe nutzen. Insgesamt gesehen, war dieser Ausflug eine interessante Abwechslung zu dem wöchentlichen Programm in Wilhelmsheim. Annäherungen an die Gruppe selbst blieben jedoch aus. So bildete der alte, eingesessene Kreis eine eigene Clique.

Im Nachhinein bin ich froh, dass ich bis zu deren Abreise keinen näheren Kontakt hatte. So blieb mir mehr Zeit, um sie zu observieren und den Müll, den sie bei Gesprächen von sich gaben, besser sortieren zu können. Den Ältesten unserer Gruppe musste ich glücklicherweise nur zwei Wochen ertragen. Seinen Schilderungen zufolge betrachtete er den Aufenthalt in Wilhelmsheim als Erholung vor seinem nächsten Urlaubsflug zusammen mit seiner Frau in die USA. Unvorstellbar diese seelische Belastung, die auf ihm lasten musste, da es danach zum x-ten Mal wieder auf die Malediven gehen sollte. Dagegen ist doch eine fünfzehnwöchige Entziehungskur nur ein Klacks. Tatsächlich gab es unter den fast sechzig Prozent arbeitslosen Patienten einige, die ihm diese Fantastereien abkauften. Ein anderer wiederum bestand bei seiner Aussprache auf den urfränkischen Dialekt und den im Frankenland vollzogenen Lebensstil. Für ihn hätte ich höchstens eine Verwendung als Vogeljakob auf dem Münchner Oktoberfest.

Es ist schon erstaunlich, wie viele Charaktere in einer Gruppe von zwölf Männern vertreten sind. Ein jüngerer Patient aus unserem Kreis teilte sich zurückgezogen den Klinikaufenthalt mit einer attraktiven, älteren Mitpatientin bis zu deren Entlassung. Eine Woche später war sein Abreisetermin und er bekundete noch vor der Gruppe, er habe die Möglichkeit, als Flugbegleiter bei der Lufthansa in München anzufangen. Komischerweise verwechselte er München mit Wilhelmsheim und den Flugplatz mit dem Bett einer jüngeren Mitpatientin aus einer anderen Gruppe. Als er mir dann eine Woche nach seiner Entlassung aus ihrem Zimmer kommend begegnete, fragte ich ihn verdutzt: „Du hier und nicht in München?“ Er antwortete sichtlich überrascht, er müsse noch seine Handykarte für das D2-Netz in der Klinik aufladen, da woanders keine Möglichkeit dafür bestehe. Ich nickte und glaubte ihm jedes Wort.

399
461,17 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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400 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783957449627
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Правообладатель:
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