Читать книгу: «Die Macht des Tunnels», страница 2

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Sie blieben zwei Schritte vor ihm stehen. „Was machst du da“, fragte er. Die Antwort befriedigte ihn nicht und deshalb bohrte Dennis weiter. „Hast du Patrick gekannt?“ Der Reporter schwieg. Also wiederholte Dennis seine Frage etwas lauter. Vielleicht hatte er Dennis nicht verstanden. Dennis kannte das von den Erwachsenen.

„Hast du Patrick gekannt“, bohrte er.

Einige der Eltern hatten sich umgedreht. Einer der Väter machte Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. Die Sache konnte einen unangenehmen Verlauf nehmen. Der Reporter hatte schon einige gute Bilder im Kasten. Vielleicht war es Zeit zu gehen.

Susi war direkter. „Wir brauchen dich hier nicht“, sagte sie bestimmt, und fügte hinzu: „Hau ab.“

„Darf ich von euch noch ein Bild machen“, fragte der Reporter, um des Fragens willen. Er hätte das Bild ohnehin gemacht.

Aber Dennis antwortete schon: „Ist schon gut“ und er schloss: „Und dann hau ab. Du störst.“ All das aus den Mündern von zwei dreijährigen Knirpsen belustigte den Fotografen. Er machte zwei Schritte zurück, ging in die Hocke, die Kamera machte klick klick klick klick. Er grinste abschließend, drehte sich um und ging davon. Das würde eine gute Geschichte werden.

Inzwischen war Susis Vater herangekommen. Er nahm die beiden Knirpse an der Schulter, drehte sie um und sagte. „Kommt. Wir warten.“ Und er fügte noch hinzu: „Gut gemacht.“

Nachdem Patricks Sarg in die Erde versenkt wurde, versammelten sich die Kinder um die Öffnung, und ließen ihre Bilder auf den Sarg hinunter flattern. Der Pfarrer erzählte davon, dass Patrick nun in den Himmel fliegt und auf alle Kinder herabsieht. Das gehörte zum Ritus. Georg und Carola, die ebenfalls zur Kindergruppe gehörten, schauten verstohlen nach oben, aber weit oben zog nur ein Flugzeug seinen Kondensstreifen in den blauen Himmel.

Die schönste Abschiedsrede war kurz. Dennis Mama stand vor dem offenen Grab. „Hier auf dem Friedhof sind auch die Gebrüder Grimm beerdigt“, sagte sie. „Du warst noch so klein. Wir haben nie die Gelegenheit bekommen, dir eine Gutenachtgeschichte vorzulesen“. Es klang fast wie eine Entschuldigung. „Wenn es einen Gott gibt, dann wünsche ich, dass die Gebrüder Grimm im Himmel das nachholen, was wir nicht für dich haben tun können.“ Und dann begann sie den Anfang einer Geschichte zu erzählen. Leise und mit brüchiger Stimme. „Es war einmal ein kleiner Junge…“, fing sie an…

Sie schloss ihre Erzählung mit den Worten: „Jetzt schlafe und träume etwas schönes.“

Niemand hatte bemerkt, dass sich der Reporter noch einmal herangeschlichen hatte. Mit dem Teleobjektiv hatte er auf den Film gebannt, wie die Bilder der Kinder in das offene Grab flatterten, und er hatte ein paar verweinte Gesichter „geschossen“.

Der Redakteur der Tageszeitung war vorsichtig. Es hatte keine Genehmigung für die Bilder gegeben. Die Trauergruppe war nicht prominent, so dass man sich als Zeitung mit dem Argument des öffentlichen Interesses darüber hinwegsetzen konnte. Aber die Geschichte war gut. Das Bild der zwei Knirpse auf dem Friedhof, die Hand in Hand mit herausfordernden Gesichtern und kecken Augen vor der Trauergruppe standen war preisverdächtig. So etwas brauchen die Leser. Also wurde im Lokalteil das Bild der beiden Knirpse, und ein kurzer Text über die Beerdigung abgedruckt. So ärgerlich solch eine Verletzung der Privatsphäre ist, der Artikel hatte auch etwas Gutes.

Alle Verdächtigungen gegen die Ärzte oder die Eltern hätten sich als völlig grundlos erwiesen, stand da. Das Verfahren sei eingestellt worden. Damit waren Dennis Eltern zumindest öffentlich als unschuldig am Tod von Patrick beschrieben worden. Das Bild der beiden mutigen Knirpse verursachte viel schmunzeln bei den Lesern. Das Bild machte die Runde. Das war die berühmte „Berliner Schnauze“.

Einige andere Reporter versuchten sich an die Geschichte dran zu hängen, aber Dennis Eltern und auch die Eltern der Kindergruppe waren eisern. Jetzt ist Schluss.

Patricks Beerdigung war zugleich die letzte gemeinsame Handlung der ganzen Gruppe. Das Kindergartenalter war erreicht, die Gruppe siedelte fast komplett in den nahe gelegenen Kindergarten um. Nur Bernd und Edgar gingen nicht mit. Edgars Eltern fanden einen neuen Job in Frankfurt. Bernds Mutter bekam Nachwuchs und beschloss bis zur Einschulung ihrer Kinder zu Hause zu bleiben.

7.

Man hätte denken können, dass sich das Leben von Dennis Familie in den nächsten Tagen und Wochen wieder völlig normalisiert. Dass Mama ihre Halbtagsarbeit sofort wieder aufnimmt, und Papa mit seinen Kollegen wieder in die Tunnel fährt, wie immer. Dass Dennis jeden Tag in den Kindergarten geht. Aber der Tod eines Kindes ist ein einschneidendes und nachhaltiges Erlebnis. Nicht alle Menschen verarbeiten Schicksalsschläge gleich.

Mama war tief geschockt. Der Verlust des eigenen Kindes ist für eine Mutter immer tragisch. Nur wenige Menschen sind so gestört, dass sie das kalt lässt. Es war auch der Verdacht der Staatsanwaltschaft, der sie tief gekränkt hatte. Irgendwo wusste sie, dass das nur eine Formsache war, dass die Staatsanwaltschaft das tun musste. Aber sie war dennoch verletzt. Außerdem machte sie sich selbst Vorwürfe. Hatte sie erste Anzeichen nicht ernst genommen? Was hatte sie falsch gemacht? Hätte sie die Waschzettel der Medikamente besser lesen müssen? Warum hatte Sie Patrick damals nicht länger in der Klinik gelassen und warum hatte sie nicht auf weiteren Untersuchungen bestanden?

Schließlich drückte Sie auch der Verlust. Sie hatte das Kind 9 Monte lang ausgetragen. Das Kind war geplant gewesen. Sie hatte sich darauf gefreut. Sie hatte Patrick an ihrer Brust genährt, ihn gewickelt und sein Lachen genossen. Sie war da, wenn Patrick nachts aufwachte. Sie hatte ihm den blauen Himmel, die Sonne und die zwitschernden Vögel im Park gezeigt. Es blieb eine Leere zurück. Natürlich hatte sie noch Dennis. Aber Patrick fehlte ihr.

Sie kümmerte sich zunächst darum, all die Formalitäten abzuwickeln, die mit dem Tod eines Familienangehörigen einhergehen. Es gab Behördengänge. Das Kinderzimmer blieb erst mal, wie es war. Sie wollte diese Erinnerung behalten.

Außerdem war der Umzug der Kindergruppe in den Kindergarten zu begleiten. Die angemietete Wohnung wurde aufgegeben und ausgeräumt. Überflüssiges wurde zum Sperrmüll gestellt. Die Leiterin der Krabbelgruppe wurde entlassen.

Das Verhältnis zu ihrem Mann war anders. Wenn sie im Bett lagen, dann blieben sie oft eng umschlungen bis zum nächsten Morgen. Der gemeinsame Schmerz wütete. Aber es gab auch Momente, da lag jeder auf seiner Seite des Bettes. Allein mit seinen Gedanken. Ein paar Mal hatte Dennis Papa auf der Wohnzimmercouch übernachtet.

Nach drei Wochen begann Mama ihre Teilzeitarbeit in dem Büro wieder aufzunehmen. Es war ein kleines Büro. Sie half dort bei der Buchführung. Sie wurde nach ihrer längeren Abwesenheit schon dringend erwartet.

Dennis Papa blieb nach der Beerdigung noch einen Tag zu Hause, dann ging er wieder zur Arbeit. Er musste „raus“. Er stürzte sich in die Arbeit. Aber bei seiner Arbeit war er nicht immer konzentriert. Seine Kollegen nahmen anfangs Rücksicht. Aber die Arbeit erforderte hohe Aufmerksamkeit.

Es ging schließlich um die Sicherheit der U-Bahn Passagiere und um hohe Geldbeträge. Dennis Papa nahm sich zusammen. Er wollte seinen Job nicht verlieren.

Kapitel 2. Freunde halten zusammen. (Dennis. Oder: Rivalitäten machen das Leben schwer)

1.

Kleine Kinder verkraften solche Ereignisse meist gut. Sie leben im „Jetzt und Heute“. Sie haben ihre Bezugspunkte.

Auch wenn Dennis jetzt in den Kindergarten ging, so war der größte Teil seiner Krabbelgruppe mit umgezogen. Seine engsten Freunde waren da. Sie sahen sich regelmäßig an den Vormittagen. Nachmittags traf sich Dennis oft mit Susi und Allan. Bei den neuen Kindern gab es einige, die er mochte. Andere fand er uninteressant. Aber es gab auch zwei Jungen, die ziemlich streitsüchtig waren. Mit einem der Jungen, mit Roman, geriet Dennis gleich am ersten Tag aneinander. Roman fühlte sich wie der „King“ der Gruppe. Man musste den Neuen zeigen, dass sie sich unterordnen müssen. Er hatte Dennis ein Bein gestellt und nachgeschubst, so dass Dennis hinfiel. Dennis löste das auf seine Weise. Er ging zu Roman, funkelte ihn an und fauchte: „Wenn du das mit mir oder mit meinen Freunden noch mal machst, dann raucht’s.“ Bevor schlimmeres passierte, hatte die Kindergärtnerin die beiden getrennt. Es war noch zu früh, um viel mehr darüber zu sagen. Aber zwischen Roman und Dennis war die Luft ab sofort „dick“.

Roman war größer und kräftiger als Dennis, aber Dennis war flink. Seine spielerischen Balgereien mit Jochen in der Krabbelgruppe hatten in geschickt im Raufen gemacht. Dennis fürchtete sich nicht. Notfalls konnte er auf die Freunde zählen. Vor allem aber auf Allan, Susi und Jochen.

Der Kampf um die Führung der Gruppe wird bei Kindern sehr direkt ausgetragen, doch es gibt auch subtile Formen in der Verteilung der Rollen. Der Kampf war aufgenommen. Dennis war nicht streitsüchtig und er war bisher immer fair gewesen.

Er hatte keine Ambitionen auf eine bewusste Führerschaft der Gruppe. Man würde sehen, wie sich das entwickelt. Da konnte noch einiges passieren.

Es mochte im Kindergarten einzelne Übergriffe geben, aber Prügeleien wurden nicht geduldet.

2.

Dennis konnte das letzte Erlebnis am Krankenbett seines sterbenden Bruders nicht vergessen. Er war dreieinhalb und er war hellwach.

Einige Tage nach Patricks Tod bat er Papa darum, ihm eine Gutenachtgeschichte zu erzählen. Aber bevor Papa irgendeines der Bücher hervorkramte, oder begann, sich eine eigene Geschichte auszudenken, forderte ihn Dennis auf: „Erzähl mir von den Tunneln unter Berlin.“

Papa überlegte ein wenig, dann begann er etwas ausschweifend: „Der Bau der U-Bahn wurde vor über 100 Jahren begonnen. Damals war das in vielen Städten so. Die großen Städte wuchsen immer mehr. Autos gab es damals noch nicht. Es gab nur wenige Eisenbahnlinien durch die Städte. Die Häuser standen eng zusammen. Es war wichtig, dass die Menschen morgens zu ihrer Arbeit gebracht wurden, und abends wieder nach Hause kamen. Es gab in der Stadt keinen Platz für weitere Eisenbahnlinien. Die wohlhabenden Leute fuhren in Kutschen, die von Pferden gezogen wurden. Die wären von den Eisenbahnen, die damals noch mit Dampf fuhren, erschreckt worden. Und so hat man begonnen, unter Berlin Tunnel zu graben, für unterirdisch verlaufende Züge.“

Dennis hatte solche Dampfloks schon auf Bildern gesehen, und er fragte nach. „Erinnere mich an einem der nächsten Wochenenden daran“, meinte Papa. „Es gibt ein Eisenbahnmuseum, das sollten wir einmal besuchen.“

„Damals…“, fuhr Papa fort… „gab es nur einige wenige U-Bahn Linien. Es war schwierig unter die Häuser einen Tunnel zu bauen. Aber man hatte damals schon elektrisches Licht. Dampfloks wurden nicht in die Tunnels gelassen. Man legte elektrische Leitungen und die Züge wurden durch elektrische Turbinen angetrieben… .“

Papa erzählte noch weiter, aber Dennis war bereits eingeschlafen.

3.

In den nächsten Wochen und Monaten musste Papa immer wieder von der U-Bahn erzählen. Manchmal ballte Dennis seine kleinen Hände zu Fäusten, und er spürte dieselbe Kraft, die damals im Krankenhaus von den Händen seines Bruders ausging. Er erzählte davon nichts.

Dennis erfuhr, dass die U-Bahn quer durch Berlin in alle Stadtteile fährt, und dass es seit dem Wegfall der Mauer viel Arbeit gibt, um die U-Bahn technisch auf den neuesten Stand zu bringen. „Es geht vor allem um die Sicherheit der Passagiere“, meinte Papa. „Berlin ist sehr groß. Es muss stets gewährleistet sein, dass Millionen von Menschen tags und nachts sicher befördert werden können. Mit Autos könnte man die Verkehrsströme nicht bewältigen. So viele Straßen und Parkplätze gibt es gar nicht. Außerdem hat nicht jeder ein Auto. Denk mal an die vielen Schüler.“

Dennis erfuhr auch mehr von der Arbeit, die Papa machte. Die Tunnel mussten auf Risse und mögliche Wassereinbrüche überprüft werden. Die Schienen und Elektroleitungen mussten kontrolliert werden. Ein neues elektronisches Kontrollsystem sollte eingebaut werden. Es gab viele Seitentunnel und unterirdische Gänge, die in den letzten 60 Jahren gebaut worden waren. Es gab Ratten. Dennis erfuhr vom Krieg und von der Bombardierung Berlins. Er erfuhr, dass die Nazis unterirdische Bunker gebaut hatten, deren Zugänge man später zugemauert hatte. Er erfuhr, dass die Geheimpolizei des früheren kommunistischen Staates Geheimgänge gebaut hatte, um Polizeitruppen schnell und unbemerkt unterirdisch durch den Ostteil von Berlin zu führen.

Die näheren politischen Umstände interessierten Dennis damals noch nicht.

Er bat Papa, ihn auf seine Gänge durch die Tunnel mitzunehmen. Papa fuhr mit Dennis in seiner Freizeit kreuz und quer durch Berlin und erzählte.

Als Dennis schließlich mit 6 Jahren in die Schule kam, wusste er mehr über die U-Bahn und über Berlin als die meisten Erwachsenen. Sein Wissen war allerdings hoch spezialisiert. Er wusste fast alles über Bahnhöfe, über Zugsignale, über die Ausgänge in den Stadtteilen und über Zugverbindungen. Dennis kannte viele der Zugführer persönlich und viele der Kontrolleure. Schon damals wurden Fahrkarten an Automaten ausgegeben. Kontrolleure gingen durch die Züge und prüften die Fahrerlaubnis der Passagiere. Es gab eine spezielle U-Bahnpolizei. Dennis hatte eine Freikarte für alle Bahnen und Busse. Er konnte damit überall hin. Er unternahm schon im Kindergartenalter einzelne Streifzüge durch Berlin. Ganz alleine. Papa war manchmal informiert, aber nicht immer.

4.

Vorläufig war Dennis noch im Kindergarten. Die Freundschaft mit Allan, Susi und Jochen vertiefte sich in den nächsten zweieinhalb Jahren. An den Nachmittagen waren die vier häufig zusammen. Es gab Ausflüge an den Wannsee. Es gab Grillnachmittage. Das Laufrad war inzwischen durch ein richtiges Fahrrad ersetzt worden. Auch Allan, Susi und Jochen hatten Fahrräder. Manchmal traf man sich nachmittags im Stadtforst, am Müggelsee oder im Grunewald. Irgendeiner der Eltern war immer dabei. Susis Papa hatte einen Autoanhänger, wo alle Räder hineinpassten. Sie radelten, sammelten Eicheln, Bucheckern und Blätter, die sie zwischen Papier trockneten. Sie bauten Höhlen und ein Baumhaus. Sie machten Feuer, und brieten Kartoffeln in Alufolie und Knackwürstchen. Man traf sich zum gemeinsamen Camping am Üdersee, oder an der Havel.

Im Kindergarten lief indes nicht alles glatt.

Die Gruppe um Dennis konnte sich ganz gut wehren. Susis Schlagfertigkeit war eine gewaltige Waffe. Sie hielten zusammen. Aber auch Roman hatte Verbündete.

Einmal lauerte er Dennis auf dem Nachhauseweg auf. Sie waren zu dritt. Dennis wurde ziemlich verprügelt. Roman war nicht zimperlich. Schlimmeres wurde verhindert, weil der Obsthändler aus seinem Geschäft kam, und über die Straße brüllte, sie sollten bloß abhauen und Dennis in Ruhe lassen.

Dennis hatte ein blaues Auge, aber er sagte seiner Mutter nichts. Kinder haben manchmal gute Ausreden.

Meist wissen Mütter schnell, was wirklich passiert ist, aber Dennis blieb bei seiner Ausrede. Er war hingefallen. Er schmückte seine Geschichte so aus, dass Mama schließlich glaubte, was er erzählte.

Erst Tage später erfuhr sie durch den Obsthändler was wirklich passiert war. Zur Rede gestellt, erklärte ihr Dennis: „Mama, du musst nicht alles wissen. Wenn ich dich brauche, dann komme ich zu dir.“

Dennis beriet sich am Nachmittag mit Allan, Susi und Jochen, als sie sich auf dem Spielplatz trafen. Was Dennis passiert war, konnte auch den anderen passieren. Wenn man sie einzeln verprügelte, waren sie ziemlich wehrlos. Aus dem Fernsehen kannten sie natürlich die einschlägigen Filme, wo man sich mit Gewalt zur Wehr setzte. Auf die Erwachsenen konnte man im Ernstfall nur bauen, wenn die solche Vorgänge beobachteten und sich auch nachhaltig einmischten. Vieles sehen Erwachsene nicht. Eine Lösung war das nicht, die Erwachsenen einzubeziehen. Es war besser, wenn man sich selbst wehren konnte.

Abends lag Dennis in seinem Bett. Er war jetzt schon so „groß“, dass es Gutenachtgeschichten kaum noch gab. Ab und zu gab es Papas Erzählungen von den Tunneln und der U-Bahn, um die Dennis immer wieder bat. Dennis löschte das Licht und dachte nach.

Er musste sich gegen Roman zur Wehr setzen. Er spürte, das war ein Kampf, bei dem Roman die Macht über Dennis und die Gruppe erringen wollte. Man konnte als Gruppe nicht immer zusammen gehen, um den zahlenmäßigen Schutz zu haben. Die Erwachsenen einzuweihen, konnte in diesem Fall nicht helfen. Es musste ein anderer Weg her. Vielleicht konnte er Roman bloßstellen?

Dennis schloss die Augen und ballte die Fäuste.

Vor ihm tat sich wieder der Tunnel auf. Er spürte die Kraft und die Wärme seines Bruders. Er hatte das Gefühl durch diesen Tunnel zu fliegen. Und er hörte die Stimme seines Bruders: „Du schaffst das“, sagte Patrick. Patrick, der tot war.

Patrick, der mit seinen drei Monaten noch nie ein Wort gesprochen hatte. Patrick, der schon vor seiner Geburt versucht hatte, den Kontakt zu Dennis herzustellen. Er hatte die Stimme nie zuvor gehört. Dennoch wusste Dennis, dass diese Stimme zu Patrick gehörte.

In den nächsten Tagen nach dem ersten Überfall wurde Roman immer dreister.

Innerhalb des Kindergartens wagte es Roman noch nicht, Dennis offen zu attackieren. Aber drei Tage später lauerte er Dennis erneut auf. Sie waren wieder zu dritt. Diesmal wollte Roman endgültig zeigen, wer das Sagen hatte. Warum Roman so versessen darauf war, der Chef in der Gruppe zu sein, wusste er selbst nicht. Aber er würde es diesem Dennis zeigen. Erst Dennis, dann der ganzen Gruppe um Dennis.

Dennis hätte vielleicht davonlaufen können. Er schloss die Augen, sah seinen Bruder vor sich, und ballte die Fäuste. Er spürte instinktiv, wie die drei herankamen, wie sie ihn umringten, wie Roman ihn verspottete, und wie Roman seine Hand zum Schlag hob. Da öffnete Dennis die Augen. Er machte eine blitzschnelle Ausweichbewegung, und schlug mit der geballten Faust zu. Direkt in Romans Gesicht. Immer wieder. Immer wieder. Er sah, wie Roman zu Boden ging. Er sah das Blut. Er sah, wie die beiden andern wegliefen. Er blickte auf Roman hinab. Auf Roman, der viel größer und stärker war als Dennis.

Dennis sagte nichts. Er stieg über Roman hinweg und ging nach Hause. Erst zu Hause spürte er, dass seine Knöchel bluteten und seine Hand rasend schmerzte. Stücke der Haut fehlten. Er holte Verbandszeug aus dem Erstehilfekasten und wickelte sich eine Mullbinde um die Hand. Dennis bis die Zähne zusammen. Er sagte seiner Mutter nichts. Mama schaute ihn über den Suppenteller hinweg an. Auch sie sagte nichts. Nach dem Essen holte sie das Verbandszeug, setzte sich zu Dennis, desinfizierte die Wunde und sagte: „Wir wollen das mal ordentlich machen.“

Romans Mutter hatte noch am selben Tag bei Mama vorgefühlt. Es würde Zahnarztkosten geben. Aber Mama hörte sich das in Ruhe an, und schickte Romans Mutter wieder weg. Kinder raufen manchmal. Vielleicht war Roman gefallen. Auch ihr Junge war verletzt. Es gab keinen Beweis. Ja, aber natürlich hätte sie Mitleid mit Roman. Schmerzen sind unangenehm.

Sie stellte Dennis nicht zur Rede, aber Dennis liebte seine Muter. Er war mit der Situation nicht glücklich, auch wenn er seinen Sieg genoss. Also erzählte er Mama von den Spannungen zwischen Roman und seiner - Dennis Kindergruppe. Nur von Patrick erzählte Dennis nichts.

Mama war bestürzt. Sie hielt die körperliche Auseinandersetzung nicht für gut. Eine andere Lösung der Situation wäre ihr lieber gewesen. Die Situation war zugegebenermaßen kritisch. Dennis Reaktion schien plausibel. Eine andere Lösung hatte es offenbar nicht gegeben, außer, dass sich Dennis von der Übermacht hätte zusammenschlagen lassen. Mama bewunderte insgeheim Dennis Mut. Dennis hatte die Oberhand gewonnen. Dennis stand zu seiner Aktion, aber Dennis war nicht glücklich darüber. Sie kannte nur die eine Version der Geschichte, aber sie wusste, dass Dennis von Natur aus nicht gewalttätig war.

„Wir müssen das bereinigen“, sagte sie.

Die Kindergärtnerin lehnte ab, als Romans Mutter vorsprach.

Nein, im Kindergarten sei alles friedlich. Was auf dem Nachhauseweg passiert, entzieht sich unserer Kontrolle. Ja. Roman ist ein wilder Junge. Er ist viel größer und stärker als Dennis…, sie würde einmal mit Dennis reden. Mehr könne sie nicht tun. Vielleicht sei Roman ja auch mit einem größeren Jungen aneinander geraten.

Roman kam am nächsten Tag nicht in den Kindergarten.

Noch am selben Nachmittag ging Mama mit Dennis zu Romans Mutter. „Krisensituationen soll man schnell bereinigen“, sagte sie.

Roman hatte ein blaues Auge. Zwei Schneidezähne fehlten, und Roman gab zu, dass sie Dennis zu dritt hatten verprügeln wollen. Die Sachlage war klar. Roman hatte Unfrieden gestiftet, und er hatte den kürzeren gezogen. Roman wurde in sein Zimmer geschickt. Die zwei Mütter sprachen noch eine Stunde lang miteinander.

Am übernächsten Tag war Roman wieder da.

Dennis zeigte kein Gefühl von Überheblichkeit oder Spott. Er hatte erneut etwas gelernt. Dieses mal war es Mama, die ihm einen Weg aufgezeigt hatte. Er ging zu Roman hin und sagte: „Wir können Freunde sein, wenn du willst.“ Roman hatte noch die Schelte seiner Mutter im Ohr. Die Sache war eine gewaltige Schlappe. Man musste das Beste daraus machen. Solange Dennis Gruppe ihren Sieg nicht ausspielte, war ein Burgfrieden vielleicht das Beste. Also fügte sich Roman. Vielleicht würden sie nicht die besten Freunde werden. Vielleicht würden sie gar keine Freunde werden.

Roman wies seine Freunde an, Dennis in Ruhe zu lassen, aber die standen immer noch unter Schock. Mit Dennis Ausbruch der Gewalt hatten sie nicht gerechnet, und Roman dachte: er - Roman - konnte sich immer noch rächen, wenn die Zeit reif ist.

5.

Roman hatte Dennis unterschätzt. Dennis unternahm nichts, um Roman zu demütigen. Dennis unternahm nichts, um seine Überlegenheit zur Schau zu stellen. Und Dennis mit seinen knapp vier Jahren zeigte gewaltige diplomatische Fähigkeiten.

Die Kindergärtnerin beobachtete die Situation, und sie war sehr zufrieden.

Nach zwei Wochen nahm sie Kontakt zu den Müttern von Dennis und Roman auf. „So wie ich es sehe“, sagte sie, „ist die Situation bereinigt.“

Roman nutzte seine Zahnlücke, um sich im Weitspucken zu üben. Schon nach wenigen Tagen war er unübertroffen.

Dennis zeigte sich erneut als Diplomat. Er klopfte Roman auf die Schulter. „Du bist der Beste“, sagte er und insgeheim dachte Dennis: „…aber nur im Weitspucken.“ Dennis hätte sich eher die Zunge abgebissen, als das auszusprechen.

Dennis war zufrieden mit sich.

In den nächsten zwei Jahren sollte sich zeigen, dass Dennis Rolle in der Gruppe nie wieder ernsthaft in Zweifel gezogen wurde. Er spielte sich nicht als Führer auf. Er konnte wunderbar zuhören. Er war freundlich. Seine Freundschaft zu Allan, Susi und Jochen war legendär. Gab es Streit, so konnten die drei die Situation wunderbar entschärfen, und auch Roman hatte seinen Frieden mit Dennis gemacht.

Anstelle der ausgeschlagenen Milchzähne hatte Roman richtige Zähne bekommen. Die Welt schien wieder in Ordnung.

6.

Die Einschulung war für Dennis kein Erlebnis, an dem etwas besonders Erfreuliches war.

Die Zusammensetzung der Gruppe änderte sich wieder einmal. In der Schulklasse gab es neue Gesichter. Die Freundesgruppe wurde weitgehend getrennt und auf Parallelklassen verteilt.

Während Dennis Kindergartengruppe noch überwiegend aus deutschen Kindern zusammengesetzt war, überwogen jetzt Kinder aus verschiedenen ethnischen Gruppen. Es gab Kinder, die sprachen nicht einmal deutsch.

Die Kinder kamen aus verschiedenen sozialen Gruppierungen. Es gab Kinder, die sich nach den ersten Tagen als schwierig entpuppten: aggressive Kinder.

Dennis war mit Susi in einer Klasse. Das war zumindest ein Trost.

Es wurde schnell klar, dass in der Grundschule neue und bisher nicht bekannte Konflikte auftauchen würden, ähnlich wie Dennis und Susi das schon damals im Kindergarten mit Roman erlebt hatten. Das Lernen fiel Dennis leicht. Susi hatte damit überhaupt keine Probleme. In den Pausen zeigte sich jedoch schnell, dass Pausenhöfe Kriegsschauplätzen sehr ähnlich sind.

Diesmal war es nicht so leicht, die Konflikte so einfach und überzeugend zu lösen, wie damals im Kindergarten. Es gab eine Menge an unzufriedenem Potenzial. Eine Menge an Sprachschwierigkeiten. Eine Menge an religiösen und sozialen Differenzen. Sogar im Sportunterricht zeigte sich das. Einige der Mädchen blieben dem Sportunterricht fern. Es war ihnen nicht gestattet, sich vor den andern Kindern „teilbekleidet“ zu zeigen. Eine eigene Sportkleidung erhielten sie von ihren Eltern nicht. Dafür trugen sie ein Kopftuch.

Dennis hatte eine Klassenlehrerin. Es gab zwei türkische Jungen in der Klasse, die jeden Respekt vermissen ließen. Es gab Kinder italienischer, spanischer, griechischer, russischer, äthiopischer, thailändischer und pakistanischer Eltern.

Um nicht im Chaos zu versinken, boten die Lehrer nachmittags Sonderkurse in deutscher Sprache. Es gab einige ausländische Hilfskräfte. Für die Lehrer gab es viel unbezahlte Mehrarbeit.

Viele der Eltern arbeiteten ganztags. Etliche der Kinder waren nachmittags unbeaufsichtigt und trieben sich in der Stadt rum, und es gab zwei miteinander konkurrierende Gangs in der Schule.

7.

Susi und Dennis blieben zunächst unbehelligt. In den Pausen trafen sie sich oft mit Allan, Jochen und einigen andern Kindern aus der alten Kindergartengruppe. Das wirkte als Schutz. Sogar Roman war dabei.

Normalerweise vergreifen sich schulische Gangs an den Schwächsten. Kinder, die man besonders gut einschüchtern kann. Aber es gibt auch Ausnahmen. Grenzen sind fließend. Grenzen werden ausgetestet.

Mehreren Jungen in Dennis Klasse wurde das Taschengeld abgeknöpft. Sie hatten Angst. Sie schwiegen. Es gab in der Schule ein System von Tributzahlungen, von dem Dennis noch nichts wusste. Die Lehrer waren ahnungslos.

Es gab Gangmitglieder, die von außerhalb in die Schule kamen. Der Anführer der Türkengang war schon zwölf. Meist blieb er außerhalb des Schulhofs, und ließ sich das erpresste Taschengeld von Mitgliedern seiner Gang nach draußen bringen. Es gab Gerüchte.

Dennis begann sich langsam mit den Gesetzen der Strasse auseinander zu setzen.

Roman erwischte es als ersten von Dennis alter Gruppe. Er hatte zur Einschulung eine nagelneue Jacke von „Jack Frost“ bekommen. Ein Markenname, der damals erste Sahne war.

Roman gehörte zu den starken Schülern, die meist unbehelligt bleiben. Aber die Jacke hatte Begehrlichkeiten geweckt.

Er wurde von mehreren Schülern der zweiten und dritten Klasse attackiert. Die „Jack Frost“ Jacke wurde ihm unter Androhung von Gewalt abgenommen. Wehe ihm, wenn er sie verpfeifen würde.

Roman weihte Dennis in der nächsten Pause ein. Ein Junge aus der zweiten Klasse hatte jetzt Romans Jacke an. Er war gleich groß wie Roman.

Es war eine kleine Gruppe um einen deutschen Jungen aus der dritten Klasse. Sie waren meist zusammen, und sie hatten Spaß am Prügeln und am Einschüchtern von Mitschülern. Der Anführer war nicht allzu groß, aber schnell. Roman und Dennis kannten die Namen der Mitschüler nicht, aber sie hatten die Jungen schon öfters gesehen.

„Wenn du die Jacke wiederhaben willst, dann wird das nicht ganz einfach“, sagte Dennis. Roman nickte. „Ich kann ohne die Jacke nicht nach Hause. Hilfst du mir?“ „Mal sehn was wir tun können“. Dennis schloss kurz die Augen, und ballte unwillkürlich die Fäuste. In dieser Art der Abschottung hatte er die besten Ideen.

„Gut“, sagte Dennis. „In der Gruppe sind sie zu stark für uns. Wir müssen ihn alleine erwischen. Schnell, für ihn überraschend, und so, dass ihm die Lust vergeht sich noch mal mit uns anzulegen.“ Er erinnerte Roman nicht gerne daran, aber fügte hinzu: „Denk mal an unsere Prügelei damals. Du warst stärker als ich, und hast nicht mit meiner Gegenwehr gerechnet. Jedenfalls nicht so.“ Dann fügte er hinzu: „Wenn wir das durchgehen lassen, dann haben wir hier nichts mehr zu lachen“. Roman war einverstanden. „Bleiben wir zusammen, beobachten wir die Gruppe. Vielleicht sollten wir auch Susi, Jochen und Allan einweihen.“ Roman nickte: „Ja. halten wir zusammen.“

An diesem Tag bot sich keine Gelegenheit. Sie wussten aber jetzt immerhin. dass der Junge Georg hieß und in der Nähe wohnte. Roman bot zu Hause eine lahme Erklärung. Er habe die Jacke in der Schule vergessen (und er hoffte, dass er nicht erklären müsste, was wirklich passiert war).

Am nächsten Tag arbeitete die Gruppe um Dennis wie ein gut geöltes Uhrwerk zusammen. Sie hatten Zeichen verabredet.

Sie kannten sich. Sie beobachteten. Die Gruppe um Georg traf sich zwar regelmäßig für irgendwelche Pöbeleien, aber zahlenmäßig war sie nicht immer gleich stark.

In der letzten Pause verließ Georg den Schulhof. Er machte das manchmal, um sich beim „Pfennig-Laden“ Schokoriegel und Kola zu kaufen. Das war natürlich verboten. Erwischen lassen durfte man sich nicht. Bei einigen Schülern galt das als Mutprobe. Georg hatte Romans Jacke an. Das war die Chance für Dennis und Roman. „Deckt uns ab. Seht zu, dass uns Georgs Leute nicht folgen“, beauftragte er Allan.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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240 стр.
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9783942652476
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