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Deswegen schaute Anton sehr betreten nach unten, als er an der Lehrkraft vorbei auf einen der hinteren, noch freien Plätze schlich. Im Vorlesungssaal nahm Anton wieder den betäubenden Geruch nach Bohnerwachs, abgestandener Luft und saurem Angstschweiß vor Professor Fuchs wahr. Er hatte sowieso keinen guten Stand bei Professor Fuchs, denn die Ergebnisse seiner letzten Strafrechtsklausur waren „serbisch“, sehr beschissen.

Wie jeden Morgen holte der Professor seine Taschenuhr aus der Westentasche, schaute missmutig auf das Ziffernblatt und verschloss um Punkt neun Uhr fünfzehn, cum tempore, die Tür des Vorlesungssaales. Kein/e Student/in kam ab jetzt mehr in den Saal und keiner kam mehr raus. Auch die Fenster mussten geschlossen bleiben. Nichts durfte die geistigen Ergüsse des Professors stören. Lutscher grinste seinen Freund fünf Reihen unterhalb wissend an. Anton musste jetzt schon austreten.

2

„Salve Studiosi“, begrüßte Wotan Fuchs wie üblich die fast zweihundert Studenten vom Katheder, die teils mit über­müdeten Augen auf ihren Laptop oder auf den Bildschirm hinter dem Professor starrten. In der ersten Reihe saßen die üblichen „Verdächtigen“, die „Speichellecker“, die mög­lichst nah bei der Lehrkraft ein Gesichtsbad nehmen wollten. In der Mitte, nur zwei Meter vom Pult entfernt, hatten Olaf, das „Fressbrett“ und Berti, der „Käse“, ihren Stammplatz belegt. Beide hatten bereits schon gegen halb neun vor der grauen Doppeltür des L 100 rumgelungert, um dem Strafrechtler möglichst nahe zu kommen.

Olaf wurde von den meisten Kommilitonen nur als „Fressbrett“ bezeichnet, weil seine Unterlippe unnatürlich groß war und sehr weit nach vorne hing. Und Bertis Teint und sein Körpergeruch erinnerten alle an einen überreifen französischen Brie. Beide hätten als Bekannte bei Anton und Lutscher niemals landen können, wenn sie nicht Mitglied in einer der wenigen Verbindungen gewesen wären, die Anton und sein Freund noch nicht zum kostenlosen Abendessen beehrt hatten.

Für heute Abend hatte Olaf die beiden zu einer fröhlichen „Kneipe“ mit Offizium und Inoffizium eingeladen. Will heißen, nach dem Abendessen sollte sich höchst akade­misch zugedröhnt werden.

Während Herr Fuchs alle nur denkbaren Straftaten bei Vorsatz, bedingtem Vorsatz, Fahrlässigkeit und Unterlassen erläuterte, ruhte sein Blick wohlwollend auf dem „Fressbrett“.

Denn Wotan Fuchs war „Alter Herr“ in Olafs und Bertis schlagender Verbindung „Rheumania“ und bemerkte mitfühlend und begeistert das große Pflaster auf Olafs linker Wange. Gestern Abend war „Mensur“ Nacht. Ein Fechten von Studenten aus unterschiedlichen Verbindungen mit messerscharf geschliffenen Klingen. Der Höhepunkt von Olafs und Bertis monatelangen Paukübungen mit stumpfen Waffen.

Obwohl die Probanden an Körper, Hals und Kopf ge­schützt waren, blieb doch sehr bewusst der Wangenbereich frei, um den Klingen wenigstens eine kleine Möglichkeit zu eröffnen, den Gegner mit einem gekonnten Nachfedern des Schlägers im Gesicht zu zeichnen. Berti hatte sehr viel Pech und überstand alle zwanzig Gänge der Mensur leider unverletzt. Ein schöner breiter Schmiss, möglichst tiefrot durchblutet, hätte seinem quarkähnlichem Aussehen erst die richtige Note gegeben. Berti hatte sich deshalb gleich für die nächste „Mensur“ Nacht eintragen lassen.

Olaf befürchtete schon, dass ihn das gleiche herbe Schicksal wie Berti ereilen würde und er ohne akademische Aus­zeichnung das Lokal verlassen müsste. Gott sei Dank senkte Olaf bei der letzten Quart der zwanzig Fechtgänge etwas zu früh den Schläger, sodass die Spitze der gegnerischen Waffe tief in Olafs Wange drang. Sofort sprangen die beiden Sekundanten dazwischen. Nach einem kurzen Moment hatte Olaf den ersten Schock schnell überwunden und bemerkte stolz, wie sein Blut in den Kragen sickerte. Um den anderen Burschenschaftlern eine kleine Freude zu machen, drückte der Gezeichnete seine Zunge durch die offene Wunde und winkte mit der Zungen­spitze durch die Wange. Herzlicher Applaus und allseits Begeisterung für diese gelungene Einlage. „Das gibt einen richtig schönen Schmiss“, motivierte ihn der Paukarzt.

Olaf wurde zu einem Schemel geführt, und der Paukarzt holte seinen Koffer. Berti organisierte etwas neidisch eine Flasche Cognac und goss seinem Freund ein Wasserglas ein. Ex und hopp, und schon hielten die beiden Sekundanten den Gezeichneten ganz fest. Ohne Betäubung zog der Arzt dem stolzen Fechtbruder die gebogene Nadel mit blauem Faden durch die Wange und nähte die Wunde mit acht derben Knoten gekonnt zu. Dafür durfte Olaf mit Tränen in den Augen ein zweites Glas Cognac leeren.

Am nächsten Morgen hatte Olaf von der Wunde und vom Cognac einen pochenden Kopf. Die Wunde klopfte auch insofern wie ein Kupferhammer, weil der Gezeichnete gestern nach dem Nähen noch den Wunsch geäußert hatte, den Schmiss mit Bier zu spülen und mit Salz zu bestreuen. Einem Gerücht unter Burschenschaftlern zufolge sollte diese Spezialbehandlung den Schmiss erst so richtig zum Blühen bringen und den Betroffenen zu allen Lebzeiten als standesgemäßen Mensur Schläger kennzeichnen.

Professor Fuchs war das Ergebnis der Mensur Nacht nicht entgangen. Schon deshalb wählte er Olaf und Berti gern aus, ihn diese Woche in die „Sonne“ am Marktplatz zu begleiten. Denn einmal die Woche lud der streitbare Wissenschaftler zwei schleimende Studenten aus der ersten Reihe zum Mittagessen in das alte Restaurant ein, um sich in einer wissenschaftlichen „Disputation“ seine fachlichen und didaktischen Qualitäten von zwei Speichelleckern bestätigen zu lassen.

Olaf konnte heute das Mittagessen leider nicht richtig genießen, denn er konnte nicht kauen und auch nicht ausdrucksstark sprechen. Deshalb musste er zu seinem Bedauern die sehr einseitige Konversation Berti überlassen und konzentrierte sich eine Stunde auf die Vorsuppe. Eine klare Brühe, die ihm immer wieder über das Kinn lief.

Um kurz nach neunzehn Uhr klingelten Anton und Lutscher an der gewaltigen Doppeltür des großen Ver­bindungshauses unterhalb des Marburger Schlosses. Die pompöse Sandsteinvilla wirkte mit ihrem Turm und den zwei Fachwerkerkern selber wie ein kleines Schloss und stammte aus den seligen Zeiten, als Kaiser Wilhelm noch das Land regierte.

Berti hatte angedeutet, man würde ein weißes Hemd und einen gedeckten Schlips erwarten. Am besten in Grün oder Blau, den Farben der Rheumania. Außerdem wäre ein blaues, graues oder schwarzes Jackett angenehm. Jeans gingen gar nicht, auch keine Turnschuhe. Aber Lederschuhe wären gern gesehen.

All solche Sachen hatten die beiden angehenden Juristen nicht in Marburg im Schrank. Es hatte beide den ganzen Nachmittag gekostet, bis sie nach endlosen Telefonaten, Whatsapps und persönlichem Betteln bei Freunden die gewünschte Kleidung leihen konnten. Allerdings nicht ganz in der benötigten Größe.

Bei Lutscher hörte die viel zu weite Hose fünf Zentimeter über den drückenden Schuhen auf, und das blaue Jackett hing ihm wie ein Poncho über den Schultern. In dem viel zu großen Hemd, dessen Ärmel Lutscher über die Hände rutschten, hatte sein dünner Hals noch jede Menge Spiel. Anton wiederum bekam sein weißes Hemd nicht zu und konnte die graue Jacke nicht schließen. Am bequemsten wäre es gewesen, wenn er das Jackett lässig nur über den Arm geworfen hätte. Seine schwarze Hose in Überlänge hatte er mit vier Sicherheitsnadeln unten umgesteckt, damit er mit den braunen Halbschuhen, in denen seine zu kleinen Füße kaum einen Halt fanden, halbwegs laufen konnte. Beide sahen aus, als wären sie gerade aus einer russischen Clown Schule geflüchtet.

Über dem wuchtigen Eingangsportal des Verbindungs­hauses protzte das Motto der Rheumania tief in Sandstein eingemeißelt.

„Nihil vocatus et non solution“

Lutscher hatte das mal gegoogelt. Frei übersetzt hieß es: „Kein Alkohol ist auch keine Lösung“. Das versprach ja heiter zu werden. Ein „Fuchs“, ein dienender Frischling in der Verbindung, öffnete mit einem korrekten Diener und führte die beiden Gäste in die große Eingangshalle. In den Ecken waren zwei Ritterrüstungen aufgebaut. Links und rechts von dem Wappen der Rheumania prangten Ölbilder von längst verblichenen erstchargierten Vorsitzenden. Die großen Kerzen in den Metallständern warfen ein flackerndes Licht auf die Köpfe der Anwesenden. Überall standen Korporierte in „Vollwichs“ mit Lederstiefeln, engen, weißen Hosen und einer „Pekesche“, einer Kneip­jacke im historischen Husarenstiel mit Kordeln herum. Andere trugen nur die schwarze Kneipjacke mit den goldenen Knöpfen und den Stickereien, und einige wenige hatten sich mit einem schwarzen Anzug begnügt. Aber alle hatten ihre Verbindungsbänder in den Farben der Rheu­manen an, ihre „Zipfel“, die kurzen Bänder, welche am Hosenbund hingen und die bunten Mützen auf dem Kopf. Anton und Lutscher wirkten so deplatziert, als wären sie gerade vom Mars gelandet.

Beide wurden höflich gebeten, sich mit einem Füllfeder­halter in ein großes, aufgeschlagenes Gästebuch einzu­tragen. „Hoffentlich ist das nicht schon eine Eintritts­erklärung“, argwöhnte Anton und Lutscher murmelte: „Ich fühle mich hier wie in Walhalla“, während er seinen Namen sehr unleserlich in das dicke Buch schrieb.

Hinter allen anderen Namen war ein „Zirkel“ gezeichnet, der erste Buchstabe der Burschenschaft mit Verschling­ungen drum herum. Bei den Rheumanen also ein großes R mit kunstvollen Ziselierungen links und rechts. So wie es auch im grün/blauen Wappen der Fechtbrüder dargestellt war. Eigentlich wollten Anton und Lutscher ja nur schnell was essen und trinken und dann unbemerkt schleunigst wieder verschwinden. Aber ganz so einfach würde es wohl heute Abend nicht werden.

Endlich entdeckten Anton und Lutscher das Pflaster des Kommilitonen und die weißen Pickel von Berti. Ansonsten kannten sie niemand hier. Beide standen einige Zeit verun­sichert mit dem frisch gezapften Pils in der Hand neben dem Ständer des Gästebuchs, bis Olaf und Berti ihre Gäste freudig begrüßten. Lutscher ließ sich aus Höflichkeit hinreißen, Olaf ein halbherziges Kompliment zu seiner ersten Mensur mit geglücktem Schmiss zu machen. Und Anton wünschte dem Gezeichneten eine möglichst große, breite und dauerhaft rot Narbe, was Olaf mit einem versuchten Lächeln quittierte.

„Es soll ja auch Frauen geben, die auf solche männlichen Verzierungen stehen“, versuchte Anton das Gespräch positiv im Fluss zu halten. Olaf und Berti nickten eifrig. Genau das hatten sie sich erwünscht. Anton wurde jetzt unruhig. Er konnte das Knurren seines Magens kaum noch verbergen. Denn wegen dem versprochenen Abendessen hatte er heute Mittag sogar auf den Mohnstriezel verzichtet, um sich heute bis zur Magenerweiterung voll zu essen.

Das erste Pils spürte Anton daher schon. Aber ohne weitere Nachfrage hatte ihm einer der servilen „Füchse“ bereits ein zweites, frisch gezapftes Helles in die andere Hand gedrückt, bloß weil das erste Glas nur noch halb voll war. „Bei uns wird kein Bier schal“, zwinkerte ihm die aufmerksame Bedienung zu und schwenkte das Tablett Richtung Olaf und Berti, die bereits mit zwei Bier in Vorlage waren.

Alle anderen in der Halle waren anscheinend die endlosen Bierlieferungen gewöhnt und betrachteten die laufend nach­gereichten Bierchen als willkommene Grundlage für eine gelungene „Kneipe“.

Endlich war es soweit. Der Erstchargierte bat zu Tisch. Der Hausmeister, dem Anlass entsprechend in schwarzer Hose, weißem Jackett und schwarzer Fliege gekleidet, öffnete die Doppeltür in den Speisesaal. Ein riesiger Raum mit holz­verkleideten, dunklen Wänden und einem neu­gotischen, sehr hohem Deckengewölbe empfing die hung­rigen Gäste. Dreißig Gedecke standen auf massiven Eichen­tischen, die in U-Form aufgestellt waren. Vor Kopf würde das Präsidium sitzen. Die schweren, geschnitzten Stühle stammten noch aus der Gründerzeit vor dem ersten Weltkrieg und hatten Generationen von süffigen „Kneipen“ überstanden. Neben den Tellern standen so große Bierhumpen, dass sich die Maßkrüge auf dem Oktoberfest wie Schnapsgläser ausmachten.

Anton und Lutscher blickten sich hilflos an. Sie würden sich ihr Essen hart ertrinken müssen.

Und ausgerechnet morgen wollten Antons Eltern, Klaus und Andrea Thaler, nach Marburg kommen, um Frida das erste Mal zu treffen. Anton musste also zumindest etwas fit sein, um bei Frida und seinen Eltern einen halbwegs annehmbaren Eindruck zu hinterlassen.

Der Vorsitzende hielt eine Eröffnungsrede, gespickt mit vielen lateinischen Wendungen und begrüßte die beiden Gäste, die als Kommilitonen von Olaf und Berti herzlich willkommen waren. Er äußerte unverblümt die Hoffnung, dass ihnen das lustige Verbindungsleben so gut gefallen würde, dass sie sich als dienende „Füchse“ in ihre Gemeinschaft einbringen wollten. Donnernder Applaus und heftiges Klopfen auf die Eichentische.

„Ein jeder bringt sich bei uns ein, hilft und dient der Gemeinschaft, wo er nur kann. Und feiert gern und kräftig. Dafür kann man dann auch sicherlich das Studentenleben drei Semester länger genießen,“ motivierte der Erst­chargierte die ausgehungerten Gäste, deren Magen zu­nehmend wie ein Hofhund knurrte.

Nach einem weiteren Bier registrierte Anton nur noch leicht verschwommen, dass der Hausmeister endlich die Vor­speise servierte.

Lauwarme Biersuppe mit ein paar verlorenen Zwiebel­ringen. Auf dem linken und rechten Arm seines noch weißen Jacketts balancierte der vielbeschäftigte Mann jeweils gekonnt drei schwappende Suppentassen, um die illustre Gesellschaft in einer noch tolerierbaren Zeit zu bedienen. Als Lutscher mitbekam, dass immer wieder Schweißtropfen des überlasteten Hausmeisters von der Stirn in die vorderen Tassen tropften, war der Hunger bereits vor dem ersten Gang wie weggeblasen.

Bis alle aufgegessen hatten und der nächste Gang kam, hatte einer der verpflichteten „Füchse“ bereits aufmerksam jedem der Gäste einen frischen Humpen Pils vor die Nase gestellt. Das freundliche Zuprosten des Präsidiums beant­worteten Anton und Lutscher nur noch widerwillig.

Der angewelkte Salat als nächster Gang konnte die Wirkung des Humpens nicht im Geringsten mildern. Berti nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass seine Gäste bereits schon am frühen Abend erhebliche Ausfälle zeigten. „Ihr seid doch nicht dehydriert?“ sorgte sich der Burschenschaftler um seine beiden Kommilitonen. „Eer`s Gegnteill“, nuschelte Anton unsicher.

„Alles nur Trainingssache. Nach zwei Semestern als „Fuchs“ gibt sich das von alleine“, erklärte Berti, als er für sich und Olaf die nächste Lage herbeiwinkte.

Anton hatte sich mittlerweile als Selbstschutz einen Bier­deckel über sein riesiges Glas gelegt, als endlich der Haupt­gang kam. Klöße und Schweinelende in einer Schwarzbier­soße, zu der man Prost sagen konnte. Das etwas zähe, bier­getränkte Fleisch ließ Anton lieber liegen und konzentrierte sich auf die Kartoffelklöße. Er hatte nur leider bereits so viel Bier im Magen, dass er nach einem Kloß schlapp machte.

Lutscher erhob sich nach dem zweiten Kloß und schlurfte schwankend zur Toilette. Der Vorsitzende schaute ihm ver­ständnisvoll hinterher, während der Rest der Gemeinschaft mit gutem Appetit zulangte.

„Kann ich Dein Fleisch noch haben?“, fragte Berti Anton, der matt und hilflos nickte. Berti durfte bereits Olafs Fleischportion übernehmen, da Olaf nach der Biersuppe mensurbedingt streikte.

Die Nachspeise wurde von der fröhlichen Zechgemein­schaft bejubelt und die Frau des Hausmeisters wurde mit Beifall bedacht. Es gab ein „Bieramisu“. Ein Tiramisu, welches mit Schwarzbier und schwarzem Kaffee angemacht wurde. Es gab bei den Rheumanen nichts, was nicht in irgendeiner Form mit Bier veredelt wurde.

Die Wirkung war bei Anton verheerend. Während er durch das dunkle Bier in einen zunehmenden Dreh­schwindel fiel und sich einfach nur noch nach Hause wünschte, putschte ihn gleichzeitig der Kaffee extrem auf. An Schlaf war diese Nacht vermutlich nicht mehr zu denken.

Eigentlich wollten sich Anton und Lutscher nach dem Nachtisch schnellstens verabschieden und Richtung Markt­platz torkeln. Aber der gestrenge Vorsitzende ließ noch keinen vorzeitigen Abschied zu, denn die Gäste müssten ja erst noch die eigentliche „Kneipe“ erleben. Deswegen wären sie ja sicherlich gekommen.

Anton und Lutscher fielen fast vom Stuhl, als der Vor­sitzende um „Silentium“ bat, nochmals die beiden voll­trunkenen Gäste begrüßte und die „Füchse“ aufforderte, die Kommersbücher zu verteilen.

Jetzt wurde es richtig heiter, denn die Gemeinschaft wollte singen. Der Vorsitzende gab die Liednummern vor, und alle, außer Lutscher und Anton, schlugen begeistert ihre Gesangbücher auf. Nach der feierlichen Ansage „Autem cantabo“ begannen achtundzwanzig Männerkehlen kraft­voll zu singen. In der folgenden Pause entdeckte Anton nach einem kurzen Nickerchen, dass sein bedeckelter Humpen durch ein neues Gefäß mit schäumenden Pils ausgetauscht worden war. Anton versuchte jetzt, beim nächsten Lied noch höflich mit zu lallen, während Lutscher nur noch glasig in sein Buch starrte. „Als ordentlicher Korpsstudent bekommt man vom Biertrinken immer so einen Durst“, nuschelte Olaf erklärend.

Beim nächsten Lied war Olaf etwas unaufmerksam und es passierte ein unverzeihlicher Fauxpas. Der Verbindungs­bruder hatte sein Kommersbuch einfach zugeschlagen, bevor der Erstchargierte sein Gesangbuch geschlossen hatte. Die Gemeinschaft hieb grölend die Hände auf die schweren Holztische, als der Vorsitzende die Strafe verkündete.

Olaf musste die Gläser aller Anwesenden austrinken! Und wenn ihm das noch einmal passieren würde, müsste er das Bier seiner Verbindungsbrüder erst in seine Mütze schütten und dann aus der Mütze trinken. Alle, außer Anton und Lutscher, lachten lauthals, weil das so eine lustige Strafe war.

Olaf erhob sich bereits etwas unsicher, ging gehorsam von Platz zu Platz und schüttete sich die Reste jedes Glases seiner Korpsbrüder in die Kehle. Donnernder Beifall, als sich der Verlierer schwankend an seinen Platz tastete. Anton und Lutscher hingegen waren heilfroh, dass Olaf ihnen die Humpen austrinken musste, denn beide hätten ihre Reste nicht mehr in ihrem Körper unterbringen können.

Die Freude währte allerdings nicht allzu lang, denn nach kürzester Zeit standen zwei neue, randvoll gefüllte Humpen vor den beiden Gästen. Beide hatten die Schnauze gestrichen voll und wollten jetzt endgültig nach Hause torkeln. Beim ersten schwankenden Versuch blickte der Erstchargierte vorwurfsvoll zu den beiden Besuchern.

„Haalt-hiergeblieben! Erst wird mit uns noch ein ordent­licher Salamander gerieben!“

Anton und Lutscher erstarrten. Jetzt artete die ganze Veranstaltung zu später Stunde noch in eine Tierquälerei aus. Als Lutscher gerade protestieren wollte, dass „Tsallmanda“ aber artengeschützt wären, erhoben sich alle Teilnehmer der Kneipe sehr förmlich. Der Vorsitzende befahl mit leicht lallender Stimme das alte Ritual:

„ad exercitium salamandri!“

Es folgte ein allseitiges, lautstarkes „Prost“, jeder setzte den Humpen an seine Lippen, und auch die beiden Gäste fühlten sich verpflichtet, ihr Glas bis auf einen Rest zu leeren, der beiden an den Mundwinkeln bis in den Hemd­kragen runterlief.

Auf Kommando wurden die leeren Humpen von allen lautstark auf den Tisch geknallt und dann kräftig auf der Holzplatte gerieben. Die ganze Zeremonie wurde dreimal wiederholt. Der Klassiker eines „geriebenen Salamanders“.

Der dann einsetzende Moment absoluter, feierlicher Stille wurde nur von einem unbeabsichtigten, aber dennoch sehr heftigen Entweichen von Kohlensäure aus Lutschers willen­losem Körper unterbrochen. Der Rest der Gemeinschaft nahm das bekannte Geräusch mit verständnisvollem Wohl­wollen zur Kenntnis.

Nach dem nächsten, lauthals geschmetterten Lied, hatte der Vorsitzende endlich ein Einsehen. Die beiden Gäste sahen so erbarmungswürdig aus, dass sie vorzeitig entlassen wurden. Der Erstchargierte gab ihnen noch die Erwartung mit auf den Heimweg, dass die Burschenschaft beide doch bald wieder als Gäste und möglichst auch als junge „Füchse“ begrüßen könne.

Als Lutscher und Anton von dem Hausmeister hilfsbereit unter den Armen gefasst und schwankend zur Tür begleitet wurden, schmetterten ihnen achtundzwanzig gut ange­feuchtete Kehlen noch ein „Vale fratres spiritu“-„Auf Wiedersehen, Ihr Brüder im Geiste“ nach.

Zum Glück ging es von der trutzigen Verbindungsburg nur abwärts bis zum Marktplatz. Die beiden Gastesser mussten sich gegenseitig stützen, als sie über glattes Kopfstein­pflaster und holprige, ausgetretene Sandstein­stufen, schwankend wie ein Kieslaster in der Kurve, nach unten torkelten. Lutscher schlitterte in eine dunkle Ecke und hielt sich mit der linken Hand würgend an der Hauswand fest. Anton registrierte leicht schadenfroh, dass seinem Freund das günstige Abendessen anscheinend wohl nochmal durch den Kopf ging.

Währenddessen hatte Anton die Stange eines nagelneuen Hinweisschildes für den Aufstieg Richtung Schloss zu fassen bekommen und versuchte, in aufrechter Körper­haltung zu bleiben. Da das Schild aber erst am Nachmittag frisch einbetoniert worden war, stellte Anton mit vernebel­tem Hirn verblüfft fest, dass sich die Stange mit ihm gedreht hatte und jetzt in bedrohlicher Schieflage zur Lahn zeigte.

„Is au egaaal,“ meinte Lutscher, als sich die beiden die letzten Meter bis zu ihrem Haus am Marktplatz schleppten. Aber jetzt kam das Schwierigste - die steile, ausgetretene Holztreppe mit den Holzstufen in unter­schiedlichen Höhen. Eine Steilvorlage für gelungene Stürze, die beide aber so laut fluchend und grunzend schafften, dass ein Teil der Mitbewohner schimpfend wach geworden war. Anton hatte noch einen halbwegs klaren Moment und hangelte sich den Putzeimer im Flur in sein Zimmer, bevor sein Freund auf die Idee kam, dass ein Eimer vor dem Bett nicht die schlechteste Idee wäre.

„Nie mehr“, ging es Anton, durch den Kopf, als er sich das dritte Mal über den Eimer beugen musste. „Lieber ess´ ich jeden Tag wässrigen Labskaus in der Mensa, als mich noch einmal einladen zu lassen“.

Mit einer unendlichen Rotationsgeschwindigkeit seines Drehschwindels im Hirn versuchte der Jurastudent den Rest der Nacht irgendwie hinter sich zu bringen, damit er den morgigen Besuch seiner Eltern überstehen konnte.

3

Als Anton verkatert wachgeworden war, musste er zwangsweise wieder sparen. Er sparte sich das Frühstück, das er sowieso nicht bei sich behalten hätte. Und er sparte sich auch die kostenlose Dusche im Institut für Leibes­übungen, einfach, weil er keine Zeit mehr hatte. Denn es klopfte nicht nur heftig in seinem Kopf, sondern auch an seiner Tür. Draußen stand Frida, seine Freundin seit dem vorletzten Semester und scheuchte ihn mit Vorwürfen am Morgen aus den Federn. Nebenan durfte Lutscher laut schnarchend noch ausschlafen. Beneidenswert.

Richtig, heute war ja Samstag, und die Eltern wollten stören kommen. Antons Mutter, Andrea, hatte schon seit letztem Semester darauf gedrängt, die erste feste Freundin ihres ältesten Sohnes endlich mal kennenzulernen. Klaus, Antons „Vatter“, war die Begegnung dagegen relativ egal. „Der Bursche tobt sich sowieso noch aus und hat bald wieder eine andere. So wie in der Vergangenheit ja auch“, maulte Klaus, der keine richtige Lust hatte, nach Marburg zu fahren. Vor allem nicht, unter diesen Bedingungen.

Denn Anton hatte seiner Mutter sehr vorsichtig am Telefon beigebracht, dass bei Frida der Humor bei jeglicher Umweltverschmutzung flöten ging. Und Klaus` alter Kombi wäre ein Megabeispiel an Umweltverschmutzung. Davor käme nur noch ein veraltetes Kohlekraftwerk in der Ukraine. Was Anton niemand, auch Lutscher nicht, verraten hatte, war die Tatsache, dass Fridas Libido auch nur dann richtig in Fahrt kam, wenn die CO2 Werte auf niedrigem Niveau stabil blieben. Ansonsten musste sich Anton bei hohen Feinstaub- und Abgaswerten nur anhören, dass seine Freundin vollkommen überreizt wäre. „Ich auch, ich auch“, seufzte der Jurastudent resigniert, dem im Wintersemester oder bei Tiefdrucklagen eine harte Zeit bevorstand.

Deshalb hatte Anton seiner Mutter der guten Stimmung wegen vorgeschlagen, dass seine Eltern doch bitte, bitte mit dem Zug nach Marburg kommen sollten. „Und bringt die Räder mit, damit wir etwas rumfahren und unternehmen können“ hatte Anton noch zu einer Zeit ergänzt, als er von den Folgen der Einladung zur „Kneipe“ noch nichts ahnen konnte.

Zu guter Letzt bat Anton seine Eltern noch leicht verschämt darum, seinen „Genderstern“ nicht mit einer falschen Ansprache zu reizen. Frida legte nämlich viel Wert auf eine bewusste, genderspezifische Sprache. Klaus hatte dazu seine eigene Meinung, die er zu Hause ungefragt zum Besten gab. Er genderte auf Teufel komm raus und suchte ständig neue Begriffe, wie er die deutsche Sprache gendergerecht umstellen konnte.

„Der Störenfried – die Störenfrieda, die Krankenschwester - der Krankenbruder; der Sünden­bock-die Sündengeiß;“, war noch das Harmloseste, was der Familienvater grinsend vor sich hin brabbelte, während Andrea ihren Mann eindringlich ermahnte, seine Meinung bei dem Besuch in Marburg doch besser für sich zu behalten.

Frida war Samstagvormittag mit ihrem alten Damenfahrrad gekommen und nervte Anton mit ihrer Energie am Morgen. „Ich wünschte nur, die hätte einmal einen Abend bei den Rheumanen erlebt, dann ging`s ihr aber auch anders“, dachte Anton griesgrämig, als er barfuß zu dem Fünf Liter Wasserboiler im Flur schlich, und sich eine flüchtige Katzenwäsche gönnte, was bei der reinlichen Frida eine erste Runzel auf der Stirn provozierte.

Andererseits war dem verkaterten Jurastudenten aufge­fallen, dass Fridas Finger aufdringlich nach Terpentin rochen und schwarze Farbreste an Daumen und Zeigefinger klebten. Die Farbe stammte von einer selbstlosen Aktion der jungen Aktivistin. Frida hatte heute Nacht über das „o“ der Mohrenapotheke zwei Punkte getupft. Der Apotheker der nun umbenannten „Möhren Apotheke“ würde sich wundern.

Trotz Antons Bitte sah es Klaus überhaupt nicht ein, seinem ältesten Abkömmling zuliebe mit den Fahrrädern im Zug nach Marburg zu fahren. Viel zu umständlich, zumal er von der Fahrradtour zum Edersee am letzten Wochenende noch den Fahrradgepäckträger auf der Anhängerkupplung sitzen hatte. Außerdem war der Familienvater viel zu ungeschickt, den Träger ohne Hilfe seines Schwiegervaters Herbert auf- und abzubauen. Also blieb das Gerät vorerst auf der Anhängerkupplung sitzen.

„Wir brauchen den Studenten ja nicht alles auf die Nase zu binden. Ich schlage vor, wir fahren mit dem Auto zum Marburger Bahnhof, parken da und fahren vom Parkplatz mit den Rädern in die Stadt. Von mir aus sollen die glauben, wir wären mit dem Zug gefahren“, bestimmte Klaus und hievte mit Andrea die beiden schweren E Bikes auf den Träger. Dass man den gewichtigen Akku abmachen und sich das Heben damit erleichtern könnte, wäre dem unpraktischen Steuerberater niemals in den Sinn ge­kommen.

„Und Du hältst schön dicht und erzählst Anton und auch Emil nichts“, ermahnte Klaus seine jetzt dreizehnjährige Tochter Emma, die in die Blüte ihrer Pubertät hineinwuchs und häufig genau das Gegenteil machte, was Klaus und Andrea erwarteten. „Ist mir doch vollkommen wumpe, wie Ihr nach Marburg kommt, „Schimmelchen“, Hauptsache Ihr fahrt mich vorher noch auf den Pferdehof“.

Klaus nickte ergeben. Das war zwar ein Umweg, aber Emma wollte den ganzen Tag auf dem Pferdehof mit ihren Freundinnen und ihrem Pony „Schmidtchen“ verbringen, was für die Eltern ein Glücksfall war, denn so war das Kind beschäftigt. Das Wort „Papi“ hatte Emma mittlerweile aus ihrem Sprachschatz entfernt. Seitdem bei ihrem fünfzig­jährigen Vater die Haare immer grauer wurden, strich die pferdebegeisterte Amazone ihrem Vater regelmäßig liebe­voll über die Haare und nannte ihn nur noch „Schimmelchen“, was Klaus im Familienkreis sogar ganz gut gefiel. Vor Freunden und Bekannten war ihm das reiterliche Kosewort allerdings etwas peinlich.

Thalers mittlerer Sohn, Emil, der mit achtzehn Jahren in der Schule glatt durchgelaufen war und im Frühsommer sein Abitur bestanden hatte, verbrachte jetzt ein ganzes Jahr in Granada, um ein freiwilliges soziales Jahr zu absolvieren.

„So wie Anton mache ich es auf keinen Fall und fange gleich mit irgendeinem Studium an. Ich will erstmal den Kopf frei bekommen, mir ganz in Ruhe überlegen, was ich mal machen möchte, und mich dann in einem Jahr entscheiden“, hatte Emil seinen Eltern nach der Zeugnisübergabe im Gloria Kino erklärt.

Bei Anton hätte Klaus noch die größten Einwände für so eine Idee gehabt, aber jetzt nickte er verständnisvoll. Granada hieß ja auch, dass der Junge ab und zu mit dem Bus an die Küste nach La Herradura fahren und sich um Thalers, außerhalb der Ferien leerstehendes Ferienhaus kümmern konnte. Emil war vernünftig, würde das Haus in Ordnung und sauber halten. Bei Anton war sich Klaus nach dem Chaos Urlaub vor zwei Jahren nicht ganz so sicher.

Außerdem wollten Opa Herbert und Oma Gisela, Andreas Eltern, die in Baños de Fortuna, einem kleinen Thermalbad bei Murcia, im Hinterland der Costa Blanca, überwinterten, ihren Enkel in Granada regelmäßig besuchen und liebend gern verwöhnen.

Emil hatte kurz vor dem Abi noch den Führerschein bestanden. So wie Anton auch vor zwei Jahren in der Fahrschule von Claire Grube, genannt die „Klärgrube“. Zu Klaus großem Glück war der Führerschein diesmal auch nicht so teuer geworden, wie befürchtet, weil Emil, genau wie sein älterer Bruder, regelmäßig auf privaten Plätzen in dessen altem Kombi geübt hatte. Emil und Klaus gingen dabei etwas geduldiger miteinander um, als Klaus und sein Erstgeborener vor zwei Jahren. Aber Klaus empfand sich ja als sensibel, lernfähig und kompromissbereit, was er sich selber regelmäßig gern bestätigte, zumal das anscheinend kein anderer in der Familie bemerkte.

Nachdem Klaus mit Andrea und dem alten Kombi in Marburg angekommen war und lange eine kostenlose Parkmöglichkeit im Gewerbegebiet hinter dem Haupt­bahnhof gesucht hatte, fuhren beide mit ihren E Bikes Richtung Elisabethkirche. Andrea hatte ihren Mann während der Autofahrt zweimal daran erinnert, dass es selbstverständlich sei, die erste feste Freundin ihres ältesten Sohnes auch zum Essen einzuladen. Das erste Mal hatte Klaus die Provokation seiner Frau einfach überhört. Beim beharrlichen Nachhaken von Andrea nickte er dann nur kurz. Ihm würde schon was Passendes einfallen.

399
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9783753195926
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