Читать книгу: «Mit Feuer und Schwert», страница 4

Шрифт:

KAPITEL 6 · KIRKUK – IRAK

„Sie wissen nichts von ihren Wunden“

Wie Albträume den Alltag von Flüchtlingen beherrschen

Eine Nacht kann ein ganzes Leben verändern. Eine einzige Nacht. In ihr bricht alles zusammen, was Menschen Halt gegeben hat. Der sanfte Rhythmus des Arbeitstages. Der Schutz durch die eigenen vier Wände. Das Vertrauen in die eigenen Kräfte. Die Gemeinschaft mit den Nachbarn. Mounir Hanna und seine Familie haben das alles am eigenen Leib erfahren, und je länger er darüber spricht, desto größer wird der Abgrund, vor dem er nun steht.

Bis zum letzten Moment krallten sie sich fest an einem Leben, das ihnen zwar keine Reichtümer, aber Geborgenheit bescherte. Bis zuletzt weigerten sie sich, das Undenkbare zu denken. Selbst als der Donner von Geschützen dem Städtchen Bartella immer näher kam, hielten sie aus und glaubten fest daran, dass sie nicht im Stich gelassen würden. Es gab in der Ebene von Niniveh Tausende von irakischen Soldaten. Es gab Tausende von kurdischen peshmerga, „die dem Tod ins Auge sehen“, wie ihr stolzer Name sagt. Es gab 500 ehrenamtliche Kirchenschützer, von denen jeder immerhin eine Kalaschnikow hatte. Wozu waren denn diese Bewaffneten da? Sie würden doch die daesh in die Flucht schlagen, oder? Wenn nicht jetzt – wann dann?

Dann aber sahen Mounir und seine Familie fassungslos, dass all diese Uniformierten selber die Flucht ergriffen. Die vermeintlichen Verteidiger spürten ganz offenbar, dass sie der Waffentechnik und dem fanatischen Kampfgeist der islamistischen „Gotteskrieger“ nicht gewachsen waren. Es war die Nacht vom 6. zum 7. August 2014, in der die kleine, scheinbar gesicherte Welt der Familie von Mounir Hanna binnen weniger Stunden unterging.

Sie sahen, dass alle Christen, bis dahin die Mehrheit der Einwohner, in wilder Angst ihre Sachen packten. Selbst die Kirchenschützer rannten davon und gaben die ihnen anvertrauten Gebäude auf, die seit Jahrhunderten das Gesicht von Bartella geprägt hatten: Gotteshäuser der Assyrischen Kirche des Ostens, der Syrisch-Katholischen und der Syrisch-Orthodoxen Kirche. „In diesem Moment wurde uns klar, dass uns niemand mehr schützen würde“, sagt Mounir. „Wir gehörten zu den Letzten, die ihr Haus aufgaben. Aber uns blieb keine andere Wahl. Nur einen Tag mehr, und wir wären verloren gewesen.“ Sie rafften gerade mal das Allernötigste zusammen: Ausweise, Schmuck, ein paar Kleidungsstücke. „Wir hatten gar keine Zeit, um noch mehr einzupacken“, sagt der 55-Jährige. „Wir hätten auch gar keinen Platz gehabt, um viele Sachen zu transportieren.“ Fünf Menschen zwängten sich mit Beuteln und Taschen in Mounirs Auto. Sie wollten nach Erbil, in die Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan, wo sie sich die Rettung erhofften. So wie sie dachten in jener Nacht Tausende christliche Familien, die in der Niniveh-Ebene lebten, jener biblischen Region, in der laut Überlieferung der heilige Judas Thaddäus das Evangelium gepredigt hatte.

Ein endlos langer, chaotischer Blechwurm wälzte sich durch die Dunkelheit. Peshmerga, die ihn eskortierten, schossen ab und zu Salven in die Luft, um den Weg frei zu machen. „Nach Erbil haben wir normalerweise nicht mehr als eine Stunde gebraucht“, sagt Mounir. „Diesmal aber waren es neun Stunden.“

TRAUMA

Traumatische Erlebnisse, die von Menschen verursacht werden, sind viel schwerer zu behandeln als traumatische Erlebnisse als Folge von Naturkatastrophen. Den Opfern wurde das Grundvertrauen tief erschüttert oder ganz genommen, das für einen erfolgreichen Umgang mit anderen Personen nötig ist. Opfer von Krieg und Terror leiden in der Regel an Schlafstörungen, Nervosität und Gereiztheit; sie müssen oft erst durch Medikamente stabilisiert werden, ehe sie überhaupt behandlungsfähig sind. Traumatisierte gehen mit ihrem Leid sehr unterschiedlich um: Die einen suchen Zurückgezogenheit und Ruhe, andere möchten möglichst viel darüber sprechen. Erfahrungen zeigen, dass Traumata sehr lange nachwirken – ja sich im höheren Alter meist wieder verschlimmern.

An der Grenze zu Kurdistan mussten sie den Wagen stehen lassen, denn die peshmerga hatten Angst, dass in dem Treck auch Autobomben eingeschmuggelt würden. Kurdische Helfer luden sie auf Pick-ups und brachten sie endgültig außer Reichweite der Kanonen. In Ankawa, der christlichen Vorstadt von Erbil, campten die Flüchtlinge in Parks und auf offener Straße. Nun sind sie in Kirkuk gelandet, in einem Notquartier, das Bischof Faris Mansour Yacoub von der Syrisch-Katholischen Kirche zur Verfügung gestellt hat.

Mounir versucht sich zusammenzureißen. Sabirha, seine 53-jährige Frau, bricht bei jeder Station des Leidenswegs, den er erzählt, aufs Neue in Tränen aus. Shama, seine 85-jährige Mutter, starrt die ganze Zeit stumm vor sich hin. Sabina, seine 61-jährige Schwester, und Nur, seine 18-jährige Tochter, nicken ab und zu mit den Köpfen.

Fast zwei Millionen Menschen – Christen, Jesiden und Muslime – sind seit 2014 in die Gebiete unter kurdischer Kontrolle geströmt. Im Raum Dohuk kamen schätzungsweise 600.000, im Raum Erbil 400.000, im Raum Kirkuk 500.000 Flüchtlinge unter. Sie leben zusammengepfercht bei Freunden und Verwandten, in Wohncontainern und angemieteten Häuserblocks, manchmal sogar in zweckentfremdeten Kirchenräumen. Wie viele halten auf Dauer dieses Dasein aus?

Ich bin mit Yousif Salih, einem Psychotherapeuten, in Kirkuk unterwegs. Die Stadt gehört nicht zur Autonomen Region, wird aber von den Kurden beansprucht und derzeit kontrolliert. Die IS-Front ist ziemlich nahe, die Ölfelder sind ständig in Gefahr. Das äußere Elend der Flüchtlinge, das wir sehen, ist nur die Oberfläche des Problems. Viel schwerer ist es, ins innere Elend zu blicken. Salih hat versprochen, mir ein wenig zu helfen.

„Die meisten Flüchtlinge wissen nicht, dass jeder und jede ein Trauma hat“, sagt Salih. „Väter prügeln ihre Kinder, Brüder und Schwestern schreien sich an – ohne zu wissen, welche Wunden sie in der Seele tragen.“ „Gibt es ein Entrinnen aus einem Trauma?“, frage ich ihn.

„Es ist ein langer und schwerer Weg“, antwortet er. „Wir Therapeuten dürfen nie versuchen, solche Menschen zum Reden zu bringen. Wir müssen Geduld haben. Es muss aus ihnen selber herauskommen.“

Salih leitet in Kirkuk das lokale Büro der Stiftung „Jiyan“ (Leben). Sie wurde 2003, nach dem Sturz des Diktators Saddam Hussein, gegründet. „Das war die Zeit, in der radikale Muslime anfingen, die Dolmetscher umzubringen, die für die US-Invasoren arbeiteten. Wir wagten es damals nicht einmal, uns irgendein Symbol zuzulegen. Wir wollten überparteilich arbeiten und es uns mit keiner Seite verderben.“ Heute betreiben sie im Irak neun Behandlungszentren mit 75 Therapeuten, 12 davon sind in Kirkuk tätig.

Die christlichen Assyrer, sagt er, seien anders als die muslimischen Kurden; im Gegensatz zu denen seien sie keine Kämpfertypen und hätten sich meist wehrlos in ihr Schicksal ergeben. Eine Gruppentherapie wie etwa mit den Jesiden funktioniere mit Christen nicht. „Im Irak waren sie so etwas wie eine geschlossene Gesellschaft“, sagt Salih, „offen zeigten sie sich nur in Richtung Westen. Sie fühlten sich immer bedroht, so haben sie sich eingebunkert im Lauf der Geschichte.“

Jahrhundertelang haben im Orient Stammesbindungen das Leben der Araber geprägt. Bei den Assyrern, die immer mehr zur Minderheit wurden, war es der Zusammenhalt im Dorf oder im christlichen Viertel einer Stadt. „Man war nie allein, wenn etwas Schlimmes passierte“, sagt Salih. „Immer kam die ganze Gemeinschaft zu dir: Nachbarn, Freunde und Verwandte, um das Leid mit dir zu teilen.“ Jetzt, nach Flucht und Vertreibung, zeige sich die Kehrseite dieser Medaille. „Die Menschen treffen sich in ihren Notquartieren, um gemeinsam ihr Schicksal zu beklagen. Durch dieses ständige Jammern ziehen sie sich gegenseitig aber noch mehr runter. Traumatisiert, wie sie sind, machen sie ihr Drama immer größer und immer schmerzlicher – und meist sind halt keine Psychotherapeuten da, um gegenzusteuern.“

Die Leute von „Jiyan“ liefen selber Gefahr, vom Ausmaß des Leids erdrückt zu werden, fährt Salih fort. „Wir halten zwar Distanz zu unseren Patienten, das ist ja die Grundvoraussetzung, um ihnen helfen zu können. Aber stellen Sie sich einmal vor, wie viel sich da in jedem von uns ballt. Manchmal drohen auch wir unter dem Druck zu kollabieren. Ja, wir haben selber ein Trauma-Risiko.“ Das Gegenmittel sei die Gruppentherapie, die sie sich auferlegen. „Wir setzen uns zusammen und reden, so laden wir unsere Last voreinander ab. Nur so werden wir wieder innerlich frei für die nächsten Sitzungen. Es ist wie bei einem Chirurgen, der sich vor der Operation die Hände wäscht. Wir müssen uns reinigen von allem, was stört.“


Flüchtlinge aus dem Städtchen Bartella. Für Zehntausende Christen in der Niniveh-Ebene brach 2014 eine Welt zusammen.

Salih, ein muslimischer Kurde, ist Jahrgang 1975. „Leute in meinem Alter“, meint er, „haben ohnehin eine schier endlose Traumakette.“ Er hat die Diktatur von Saddam Hussein erlebt, die Aufstände der Kurden und die chemischen Waffen, die zu deren Bekämpfung eingesetzt wurden. Er hat nach Saddams Sturz die blutigen Auseinandersetzungen erlebt, die zwischen Schiiten und Sunniten ausbrachen. Einst war es die Angst vor der Folter, die ihn und seinesgleichen beherrschte, nun ist es die Angst vor Terroristen, die Menschen vor laufender Kamera die Köpfe abschlagen. „Als Zwölfjähriger musste ich mit ansehen, wie ein 15-Jähriger exekutiert wurde“, erzählt Salih. „Uns wurde damals gesagt, das sei ein Feind der Baath-Partei gewesen, so etwas war damals ein ganz normaler Teil der Erziehung. Seit ich für ‚Jiyan‘ arbeite, habe ich erlebt, dass vor unseren Büros in Bagdad und Kirkuk Autobomben hochgingen. Ich habe Attentatsopfer gesehen und gerettet, die manchmal nur noch halbe Menschen waren.“ Durch die moderne Technologie – Fernsehen, Handys, soziale Medien – rückt das Unheil so nahe wie nie zuvor an die Menschen heran. In einer Frontstadt wie Kirkuk hört man den dumpfen Schlachtenlärm oft sogar mit den eigenen Ohren. „So kommt die Gefahr schon gedanklich auf uns zu“, sagt Salih. „Du beginnst dir auszumalen, was mit dir passieren könnte. Solche Gedanken sind die ersten Auslöser eines Traumas. Es ist das Anfangsstadium eines Schneeballs, der ins Rollen kommt und immer größer wird.“ Kirkuk hatte eineinhalb Millionen Einwohner, im Zuge der Flüchtlingswelle sind es mittlerweile zwei Millionen geworden. „Wie viele Menschen in dieser Stadt haben wohl ein Trauma?“, frage ich den Psychotherapeuten. „Das kann ich Ihnen ganz genau sagen“, lautet die Antwort. „Zwei Millionen.“

Zu der Fülle an seelischen Ängsten, setzt er hinzu, komme eine große, geistige Leere. „Unser ganzes Leben lang haben wir Iraker erfahren, dass Ideen, Slogans und Programme immer nur missbraucht wurden. Die Folge ist, dass wir an keine Idee, keinen Slogan, kein Programm mehr glauben. Wie soll da aus dem Inneren des Volkes eine neue moralische Kraft wachsen?“

Aus der puren Verzweiflung heraus bildet sich stattdessen eine neue, trügerische Hoffnung. Die Rettung könne nur aus dem Ausland kommen: von Europa, von den Vereinten Nationen, von einer internationalen Streitmacht. Vor allem die Minderheit der Christen glaubt nur dann an eine Zukunft in diesem Land, wenn eine Macht von außerhalb im Irak interveniere. Das ist aber, wie man seit der US-Invasion weiß, schon einmal gründlich schiefgegangen.

So brüten sie in ihrem Elend vor sich hin und mit jedem Tag ohne Licht im Tunnel wächst die Lethargie. „Es ist wie mit einem Schiffbrüchigen weit draußen im Meer“, sagt Salih. „Die erste Stunde schwimmt er noch um sein Leben, vielleicht auch noch die zweite. Doch mit der Zeit wird er immer schwächer – und irgendwann gibt er auf.“

KAPITEL 7 · DELGA – ÄGYPTEN

„Sie haben euch doch nichts getan“

Wie ein aufgepeitschter Mob Jagd auf Christen macht

Direkt vor uns ragt ein Minarett in die Höhe. „Die Nasr-Moschee wurde vor etwa 50 Jahren errichtet“, sagt Pater Ayoub. „Damals musste unsere Georgskirche weichen, nur das Gemeindezentrum blieb.“ Das kleine katholische Gotteshaus steht heute hundert Meter entfernt, versteckt in einer engen Gasse, ohne Glockenturm und wie hingeduckt. Wir sind schnellen Schrittes von dort herübergekommen und durch ein eisernes Tor gehuscht. Dann schloss ein Helfer des Pfarrers von außen wieder ab.

„Als ich vor fünf Jahren in Delga mein Amt antrat, haben sie mir von der Moschee aus eine Botschaft geschickt“, erzählt der 43-Jährige. „Sie hatten schon vier Lautsprecher am Minarett, dann fügten sie weitere vier hinzu. Wir selber hatten nie auch nur einen einzigen Lautsprecher, trotzdem haben sie sich immer wieder über Lärm von unserer Seite aus beschwert. Ärger gab es vor allem, wenn wir Veranstaltungen mit Kindern hatten oder aus unserer Sonntagsschule Gebete nach drüben drangen.“

Wir stehen sozusagen vor einer kulturellen Kampflinie. „Die Muslime hatten es schon immer auf unser Grundstück abgesehen“, so Pater Ayoub. 1988 bauten die Christen zur Abgrenzung eine Mauer, vier Meter Gelände mussten sie dafür opfern. Nun dringt aus einem Kindergarten neben der Moschee ein laut geschrienes Stakkato an unsere Ohren. „So werden den Kleinen die Koranverse eingehämmert“, meint der Priester. „Sie lernen Arabisch durch den Koran. Sie lernen schon von Kind an, in aggressiven Tönen zu sprechen. Wenn sie etwas älter sind, kannst du das dann von ihnen auf der Straße hören.“

Delga ist eine bedrückende Stadt. Sie liegt in Oberägypten, 20 Kilometer westlich des Nils, in einer vergessenen Ecke am Rand der Wüste. Die Straßen sind mit Müll und Schlaglöchern übersät, Eselskarren und Pferdefuhrwerke rumpeln an armseligen Läden vorbei. Die Menschen trotten träge dahin, die Gesichter der Frauen sind verhüllt, die der Männer kantig und hart. Von den 120.000 Einwohnern sind 100.000 Muslime, 15.000 koptisch-orthodoxe, 3.000 protestantische, 2.000 koptisch-katholische Christen. Es gibt nur einen einzigen Grund, weshalb ich mich auf den Weg hierher gemacht habe: Delga ist ein Musterbeispiel dafür, wie sehr in Ägypten die Politik mit der Religion und die Religion mit der Politik zu tun haben.

Pater Ayoub will mir zeigen, was einmal das Gemeindezentrum war. Jedenfalls bis zu jenem fürchterlichen Tag, als Delga erstmals Schlagzeilen machte. Die Spuren, denen wir folgen, sind in erster Linie Brandspuren. Wir gehen durch einen Flur mit schwarz versengten Wänden, Weizenkörner liegen verstreut auf dem Boden. „Sie waren eigentlich für Arme bestimmt“, erklärt der Geistliche. „An dem Tag aber, als die Muslime das Gebäude plünderten, haben sie auch diese Nahrungsmittelsäcke mitgenommen.“ Wir streifen durch einen Raum, der ein Versammlungssaal war, darin steht einsam ein verkohltes Sofa. Im zerstörten Kinderhort sind lustige Bilder an die Wände gemalt. In der Bibliothek kramt Pater Ayoub aus einem Stapel Reste halb verbrannter Bücher. „Ich habe es gerochen, als das Papier brannte, es tat ganz besonders weh“, sagt er. „3000 Werke sind den Flammen zum Opfer gefallen. Sie waren über einen Zeitraum von 25 Jahren mit viel Liebe zusammengetragen worden.“

Seit jenem Tag, dem 3. August 2013, ist in Delga nichts mehr so, wie es war.

DIE MUSLIMBRÜDER

Die sunnitische Muslimbruderschaft wurde 1928 in Ägypten von dem Volksschullehrer Hassan al-Banna gegründet. Sie ist eine der einflussreichsten islamistischen Bewegungen im Nahen Osten. Aus ihren Reihen ging 2011 in Ägypten die „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“ hervor, die das gesamte Rechts- und Gesetzgebungssystem auf der Scharia aufbauen will. Bei den Parlamentswahlen 2012 errang sie mehr als 42 Prozent der Parlamentssitze und wurde damit zur stärksten Partei. Nach dem Militärputsch 2013 durch General Abd al-Fattah as-Sisi wurde die Muslimbruderschaft als Terrororganisation eingestuft – und damit auch ihr politischer Arm verboten. In Massenprozessen wurden Hunderte von Islamisten wegen gewalttätiger Protestaktionen zum Tod verurteilt.

Frühmorgens trat General as-Sisi, damals Chef der ägyptischen Streitkräfte, vor die Fernsehkameras und verkündete, er habe den gewählten Präsidenten Mohammed Mursi abgesetzt. Er warf ihm vor, das Land zu einem islamistischen Staat und sich selber zu einem autoritären Herrscher machen zu wollen. In den 14 Monaten, die Mursi regierte, hatten Ägyptens fundamentalistische Muslime in der Tat immer mehr Schaltstellen der Macht übernommen. Nun rebellierten die „Muslimbrüder“ und Salafisten gegen den neuen starken Mann, der sie mit seinem Staatsstreich aus ihren Träumen gerissen hatte. Weil die christlichen Kirchenführer ganz offen mit as-Sisi sympathisierten, erklärten die radikalen Muslime nicht nur Militär und Polizei zum Feind des Islams, sondern pauschal auch die schätzungsweise zehn Millionen Christen, die in Ägypten leben.

Delga war die erste Stadt, in der Mursi-Anhänger rebellierten und Pater Ayoub sollte ihr erstes Opfer werden. Zunächst verjagten bewaffnete Schlägertrupps die lokale Polizei, damit gab es keine Staatsmacht mehr, die Recht und Ordnung durchsetzen konnte. Dann zogen sie vor das katholische Gemeindezentrum und brüllten „Allahu akbar!“ – Gott ist groß!“, womit sie freilich nur ihren und sonst keinen anderen Gott meinen.

Pater Ayoub steigt mit mir in den ersten Stock des Gebäudes. Hier hatte er nachts geschlafen und morgens zwischen acht und neun rottete sich unten am Tor die Menge zusammen. „Tod den Christen!“, drang es zu ihm hoch, und plötzlich sah er, wie draußen an den Mauern Flammen loderten, sie schlossen ihn von drei Seiten ein. Wussten die Brandstifter, dass er sich im Inneren aufhielt? Hatten sie es nicht nur auf das Gebäude, sondern auch auf ihn persönlich abgesehen? Er saß wie ein Gefangener in einem Raum auf dem Boden, während immer mehr Rauch durch die Gänge zog.

Die Rettung in letzter Minute kam von muslimischen Nachbarn. Sie lehnten eine Leiter an die Mauer, die von ihrem Grundstück zur Terrasse des Gemeindezentrums hinaufreichte. Pater Ayoub kletterte hinunter und die Hausbewohner gewährten ihm Unterschlupf, bis die Menge zu ihrem nächsten Ziel weiterzog. So sah er mit eigenen Augen, wie sein Zentrum in Schutt und Asche sank. Die Feuerwehr hatte keine Chance durchzukommen, denn die Zufahrtsstraßen waren mit gefällten Bäumen blockiert.

Wir sind am Ende unserer Besichtigungstour. Pater Ayoub ruft per Handy seinen Assistenten an, er möge bitte mit dem Schlüsselbund kommen. Wir stehen unten am Tor, der Priester lauscht nach draußen und späht durch das Schlüsselloch. Sein Helfer kommt erst dann, wenn die Luft wirklich rein ist. Nach zehn Minuten geht das Tor auf, wir treten hinaus auf den Platz vor der Moschee. Da sitzen Leute beim Tee, sie unterbrechen das Trinken und stellen die Gläser ab. Passanten bleiben wie angewurzelt stehen und alle starren uns an. Ein Ausländer in der Stadt, an der Seite dieses Priesters? Sie sehen meine kleine Kamera, die ich an der Hüfte trage. Sie verfolgen jeden meiner Schritte. Ich spüre, wie die Blicke auf mir lasten – und ahne die Gedanken, die sich bei ihnen damit verbinden. Nur weg von der Straße, möglichst schnell weg.

Der Anschlag von Delga war der Beginn eines Flächenbrandes. Nach dem 3. August 2013 fraß er sich sieben Wochen lang unerbittlich nach vorn. Delga wurde zu einer Festung der islamistischen Rebellen; zwei Mal scheiterten Versuche von Polizeikräften, die Stadt zurückzuerobern. Die Minderheit der Christen traute sich kaum mehr, die Wohnung zu verlassen. In der Hauptstadt Kairo bauten derweil die Sisi-Gegner zwei Protestcamps auf. Die neuen Machthaber, die Tausende von Regimegegnern verhaften ließen, forderten die Mursi-Anhänger mehrfach zum Abzug auf. Am 14. August 2013 war ihre Geduld zu Ende. Die beiden Lager wurden mit brutaler Gewalt aufgelöst, dabei kamen nach Angaben der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ mindestens 900 Menschen ums Leben.

Kaum hatten die Soldaten das Feuer eröffnet, gingen landesweit die Islamisten auf die Straße, um Rache für das Blutbad zu nehmen. Delga war eine der Städte, wo sie sich besonders stark fühlten. Von nahezu allen Moscheen hallte es aus den Lautsprechern, es waren aber keine Gebete, sondern offene Aufrufe zur Gewalt. „In Kairo werden eure Brüder umgebracht. Alle, die eine Waffe haben: Kommt heraus und rettet sie vor ihren Mördern!“ Der Feind, so schrien die Imame wiederum, seien nicht nur Armee und Polizei – es seien „die christlichen Ungläubigen“. Der Volkszorn sollte sich diejenigen als Opfer suchen, die am schwächsten, weil völlig wehrlos waren.

Am Morgen jenes Tages machte in Delga der Friseur Iskander Toss seine jährliche Runde, die ihn zu seinen Stammkunden führte. Die zahlten nämlich nie bar, stattdessen durfte er bei ihnen einmal im Jahr Gemüse abholen: Tomaten, Kartoffeln, Auberginen und was ein Garten halt so hergibt. Es war ein Tauschhandel, geprägt von gewachsenem Vertrauen, sein ganzes Barbierleben lang hatte das funktioniert. Toss war Christ, die meisten seiner Kunden Muslime, doch das hatte nie eine Rolle gespielt, wenn sie bei ihm auf dem Stuhl saßen.

Toss trug noch so etwas wie Hochstimmung in sich. Zwei Monate zuvor hatte er mit einer Pilgergruppe die Reise seines Lebens gemacht. Er war in Jerusalem und Bethlehem gewesen, an den heiligsten Stätten des Christentums. Nun war er mit vollen Taschen, sozusagen seinem Jahreshonorar, auf dem Weg zurück zu seinem Laden in der Robasheya-Straße. Da drangen Laute an sein Ohr, die seine Stimmung schlagartig wandelten: „Allahu akbar!“, hörte er, und zwar immer lauter, je näher er seinem Geschäft kam. Toss wusste, dass diese Rufe nichts Gutes bedeuteten. Als er gegen elf Uhr in die Straße einbog, sah er Menschen in rasender Wut, die Haumesser und Gewehre schwangen. Bald erkannte er, dass es sein Laden war. Er rannte hin, die Menge bildete ein Spalier, aber niemand half. So versuchte er, mit einem Eimer Wasser die Flammen zu löschen. Es kam aber kein Wasser mehr aus der Leitung, vermutlich war sie schon zerstört worden. So stand Toss hilflos im Qualm im Angesicht der tobenden Leute, die „Christen raus!“ und „Tod den Christen!“ skandierten.

Dieser Mob, der Streichhölzer und Benzinflaschen mit sich trug, war keine spontane Reaktion auf das Massaker in Kairo. Er hatte sieben Rädelsführer, einer war ein stadtbekannter Apotheker, die sechs anderen hatten fast alle den Rang eines Scheichs. Sie hatten einen präzisen Plan für den Tag X, an dem sie losschlagen wollten. Die Stadt war von ihnen in sieben Zonen aufgeteilt worden, in denen sie nun jeweils das Kommando übernahmen. Mit Megafonen standen sie fuchtelnd und schreiend auf Pick-ups, fuhren durch die Straßen und stachelten die Leute an. Nicht selten verteilten sie sogar Geld, um Muslime mit Waffen zu mobilisieren. Binnen einer Stunde hatte jeder Anführer ein paar Tausend Fanatiker hinter sich. Erst steckten sie die Polizeistationen in Brand, dann waren die Kirchen an der Reihe, dann ungefähr 60 Häuser, in denen Christen wohnten.

Toss stürmte in den ersten Stock, dort lag direkt über dem Laden seine Wohnung. Er wollte seine Familie retten, insgesamt sieben Erwachsene und zwei Kinder. Auch sie hatten das Glück, dass nicht alle Muslime bei den Pogromen mitmachten, denn die Leute im Nachbarhaus boten Hilfe an. So begannen neun Menschen auf der Rückseite des Hauses, den Blicken der Belagerer entzogen, in wilder Angst über das Dach zu klettern, um drüben durch ein Fenster bei den Nachbarn einzusteigen.

Toss aber folgte ihnen nicht. Er hatte die Entscheidung getroffen, sich selber zu opfern, um seine Familie zu retten. Es ging um Minuten, vielleicht nur noch um Sekunden. Die Menge machte nämlich Anstalten, das Haus zu stürmen. So rannte er wieder die Treppe zu seinem Laden hinunter und warf sich dem Mob entgegen, um ihn wenigstens noch eine kurze Zeit aufzuhalten. Er blickte in die Mündung einer Maschinenpistole, der Schütze jagte ihm eine Kugel in den Kopf und eine ins Herz. Als er am Boden lag, stach ihm einer noch mit einem Messer in die Brust. So lynchten sie einen 62-jährigen Friseur, der mit seinem Messer immer nur sanft und sorgsam rasiert hatte. Die Masse steigerte sich in einen wahren Blutrausch hinein. Sie holten einen Traktor und banden die Leiche mit einem Strick daran fest. Dann schleiften sie ihr Opfer 500 Meter durch die Straße bis zu einer Moschee, die ausgerechnet den Namen „Rahman“, „Erbarmer“, trug, einen der 99 schönen Namen Gottes im Islam. „Allahu akbar!“, schallte es über den Platz, sie warfen auf den Toten auch noch Steine, erst dann hatten sie genug und zogen zu ihrem nächsten Ziel.

Ein paar Beduinen, bei denen Toss an diesem Morgen sein Gemüse abgeholt hatte, erfuhren von dem Mord. Sie eilten zur Moschee, packten die Leiche auf ein Tuk-Tuk, ein dreirädriges Mopedtaxi. Es blieb keine Zeit, um einen Sarg zu organisieren, so fuhren sie auf einen Hügel am Rand der Stadt, hoben ein Grab aus und legten den Leichnam hinein. Doch kaum hatten sie die Begräbnisstätte verlassen, zog der Mob den Hügel hinauf. Ein paar Männer rissen das Grab wieder auf, holten den Toten heraus und steinigten ihn ein zweites Mal. Die Beduinen, die davon erfuhren, kamen um drei Uhr morgens im Schutz der Dunkelheit zurück, um Toss ein zweites Mal zu bestatten. Ein paar Tage später wurde der Leichnam für eine Autopsie exhumiert. Sie ergab, dass durch die Steinigungen auch noch mehrere Rippen gebrochen wurden.

Die Stammkunden, die ihrem Friseur die Treue bis zum Tod hielten, nahmen dessen Familie für zehn Tage bei sich auf. Dann brachten sie die neun Geflüchteten nachts heimlich mit einem Minibus nach Kairo. Nur im Gewühl der Großstadt konnten seine Eltern, seine Frau und die Kinder auf Dauer untertauchen. In Ezbet el-Nakhl, einem ärmlichen Viertel im Nordosten der 16-Millionen-Metropole, fanden sie Unterschlupf bei Verwandten, ehe sie sich eine eigene Wohnung mieten konnten. Dort haben sie mir die Geschichte erzählt – und zwei Videos gezeigt, mit denen die Mörder ihre Tat auch noch dokumentierten und auf You Tube stellten. „Wir haben nie gespürt, dass Muslime uns hassten“, sagte mir Sami Toss, ein Sohn des Toten. „Aber jetzt wissen wir, dass es so war. Sie täuschten uns mit ihrer Freundlichkeit. Sie warteten nur auf den Tag, an dem sie einen Grund bekämen, um uns auszuplündern. Ja, sie waren Heuchler. Solange sie sich schwach fühlten, lächelten sie uns zu. Aber als sie sich stark fühlten, schlugen sie zu.“

An jenem 14. August 2013 brannten in Ägypten 25 Kirchen, in Delga waren es fünf. Darunter war die Katakomben-Kapelle zur Jungfrau Maria, die 1600 Jahre überstanden hatte und deren Eingang noch zwei alte römische Säulen rahmten. Damals, in den Zeiten der ersten Christenverfolgung, gab es im Raum Delga unterirdische Tunnel, die 24 Kirchen miteinander verbanden. Die Tunnel sind heute verfallen, man hätte sie noch gut gebrauchen können. „Die Menge hat alles geplündert“, berichtete ein Angestellter am Tag nach dem Pogrom und bat mich darum, seinen Namen nicht zu nennen. „Die Leute trugen die Kirchenbänke weg, stahlen die Ikonen oder steckten sie in Brand, rissen sogar die Elektrokabel heraus. Sie hoben alle Eingangstüren aus ihrer Verankerung und trugen sie davon. Dann kamen sogar ein paar Idioten mit Schaufeln und fingen an, im Garten zu buddeln – sie hofften offenbar, vergrabene Schätze zu finden.“

Anfang September kehrte endlich die Polizei nach Delga zurück. Aber sie schaffte es nicht, das Klima der Angst aus der Stadt zu vertreiben. Acht Christen, Männer und Kinder, wurden bis Ende 2013 entführt. Als Lösegeld mussten die Familien im Durchschnitt 50.000 ägyptische Pfund, gut 6.000 Euro, bezahlen – eine ziemlich happige Summe, wenn man bedenkt, dass das Durchschnittseinkommen eines Einwohners kaum mehr als umgerechnet 200 Euro im Monat beträgt. Die Eltern von Kerloes Yousif, einem sechsjährigen Entführungsopfer, konnten den Betrag nicht aufbringen, so wurde der Junge kurzerhand erdrosselt und die Leiche in ein Plumpsklo geworfen.

Unerschrocken und unbeirrt von all dem gab Pater Ayoub weiterhin Interviews für Presse, Rundfunk und Fernsehen. Sein Mut reizte die Muslimführer zu neuer Wut. Ein halbes Dutzend Mal trafen per SMS anonyme Drohungen bei ihm ein. „Wir bringen dich um!“, stand jedes Mal auf dem Display. In der Nacht zum 21. Februar 2015, er schlief in seiner Wohnung neben der Georgskirche, wachte er gegen 2.30 Uhr von einem Geräusch auf, das er schon gut kannte. Es knisterte auf der Straße und dichter Qualm drang durchs Fenster in sein Schlafzimmer. Draußen stand sein Auto in Flammen, man hatte es mit Benzin übergossen und angezündet.

„Haben Sie denn mal versucht“, frage ich, „so etwas wie einen Dialog mit den Muslimen zustande zu bringen?“

„Ja, das war schon 2011, nach der Revolution, als die Spannungen sich im ganzen Land aufbauten“, antwortet er. „Mein koptischer Kollege hatte keine Lust dazu, der protestantische Pastor ebenfalls nicht. So versuchte ich es halt allein.“ Seither habe er mehrfach mit 30 bis 40 Scheichs zusammengesessen, und alle hätten beteuert, nichts anderes als gute Nachbarschaft zu wollen. Mit Scheich Fayak, dem obersten Führer der Muslime, habe er sogar eine richtige Freundschaft geschlossen.

„Ich würde gern ein paar Takte mit ihm reden“, sage ich.

„Kein Problem, ich rufe ihn gleich an“, antwortet der Priester.

Eine halbe Stunde später kommt der Scheich tatsächlich zur Sakristeitür herein. Ein groß gewachsener, schlanker Mann mit freundlichen Augen und einem weißen Käppi auf dem Kopf. Er berichtet, wie oft er seinen Leuten schon ins Gewissen geredet habe. „Ich habe ihnen immer gesagt, die Christen sind friedliche Nachbarn, sie haben euch doch nichts getan.“ Aber manchmal sei es ihm vorgekommen, als redete er gegen eine Wand. „Sie sagten mir immer, sie müssten den Islam verteidigen.“

Бесплатный фрагмент закончился.

1 539,26 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
332 стр. 71 иллюстрация
ISBN:
9783990404225
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают