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KAPITEL 4 · TRIPOLI – LIBANON

„Wir warnen dich“

Weshalb eine Bibliothek in Brand gesetzt wird

Man kann sich schon ein wenig verlaufen inmitten der gedruckten Schätze. Die Regale, in denen sie lagern, tragen keine Hinweisschilder. Draußen im Hof stehen stapelweise Kisten, die ebenfalls mit Büchern vollgestopft sind. So streife ich ziellos durch die engen Gänge und lande schließlich in einem Toilettenraum, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Er ist auf schon geniale Weise in die Bibliothek integriert. Man kann auf der Toilette sitzen und die Hand nach Hunderten von Werken ausstrecken, die das Örtchen auf drei Seiten eng umschließen. Allerdings würde ich es nicht wagen, auch nur eine Publikation herauszuzupfen, weil ich Angst habe, dass dadurch alles zusammenbricht. Das Waschbecken wirkt wie ein Fremdkörper in diesem literarischen Lokus und die schiefe Holztür lässt sich nicht mehr richtig schließen. Ein Fettleibiger habe sich kürzlich hindurchgezwängt und einiges zum Wackeln gebracht, erzählt mir Hozyfa, ein junger Mitarbeiter, seither helfe oft leider nur noch rohe Gewalt. Er holt einen Hammer und drischt auf ein Brett ein, das Bestandteil des Türrahmens ist und sich schon bedrohlich gelockert hat.

Ein paar Minuten später vergeht mir dann doch wieder das Lachen. Hozyfa deutet zur Decke, die ist pechschwarz, und dort oben, in den höchsten Regalreihen, stehen Bücher, die von Feuer angefressen, aber in letzter Minute noch gerettet wurden. „Das sind Spuren des Attentats“, sagt der 18-jährige Student. Er ist Muslim und liebt das Ambiente hier, obwohl ihm der Schreck in den Knochen sitzt. So etwas wie dieses Haus, meint er, gebe es nicht noch einmal in der Stadt.

Tripoli, der einstige Phönizierhafen, begrüßt Besucher mit einem Steinmonument, das ihn geradezu mit der Nase auf die Eigenheiten des Landes stößt. Am Kreisel auf dem Hauptplatz Sahad al-Nur prangt in großen Lettern „Allah“ und darunter die Inschrift: „Die Festung der Muslime im Libanon heißt Sie willkommen.“ Man stelle sich einmal vor, München präsentiere sich an der Frauenkirche als „Festung der Katholiken“ und Hamburg vor dem Michel als „Festung der Protestanten“. Im Libanon aber gehört es zur Tagesordnung, die Zugehörigkeit zu einer religiösen oder ethnischen Gruppe demonstrativ zur Schau zu stellen. Man muss Stärke zeigen, denn Schwäche nutzt die Gegenseite aus.

Mein Weg zur Al-Saeh-Bibliothek führt durch die engen Gassen der Altstadt und ein Gewimmel von Menschen. Schon in diesem orientalischen Labyrinth kann man leicht die Orientierung verlieren und aufgesogen werden von dem Durcheinander. Am Ende geht es unter einem Torbogen hindurch in eine stille Nebengasse und plötzlich blickt man von der Straße aus durch eine offene Tür direkt auf das Büchergewirr. Keine Sperre am Eingang, keine Kontrolle, nichts. Die Bücherei war, ist und bleibt ein Haus der offenen Tür.

Sie ist das Lebenswerk von Ibrahim Sarrouj, einem rum-orthodoxen Priester. Er fing 1970 damit an, den Bestand mit seinem eigenen Geld aufzubauen. Spenden und Schenkungen kamen hinzu, weil die Leute sahen, mit welcher Hingabe er sich seiner Bibliothek widmete. Im Lauf der Jahre wuchs die Sammlung auf mehr als 85.000 Werke an, Bücher in arabischer und englischer, französischer und italienischer Sprache, poetische und wissenschaftliche Texte, Traktate zur islamischen Theologie, Schriften über die Geschichte des Judentums und der Stadt Tripoli. Die Räume wurden zu einem Treffpunkt von Akademikern, Intellektuellen und bildungsnahen Eltern aus dem Bürgertum, die für ihre Kinder etwas Schönes zum Lesen suchten. Sarrouj hatte für alle Zeit und für alle ein Lächeln, und natürlich wusste er auf Anhieb, welches Buch in welcher Reihe stand.

DIE RUM-ORTHODOXEN

Rum war die arabische Bezeichnung für Ostrom (Byzanz). Die Rum-Orthodoxe Kirche, nach dem Konzil von Chalcedon 451 entstanden, wird auch „Griechisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien“ genannt. Als „Buchbesitzer“ wurden Christen wie auch Juden unter islamischer Herrschaft meist respektiert, mussten jedoch eine Kopfsteuer zahlen und waren bei der Vergabe von Staatsämtern benachteiligt. Die endlosen Nahostkonflikte führten bei den Rum-Orthodoxen zu einer Abwanderung in den Westen. Ihr Oberhaupt ist seit 2012 Patriarch Yuhanna X. Er residiert in Syriens Hauptstadt Damaskus. Gottesdienste wurden bis zum 20. Jahrhundert in Griechisch und Aramäisch gehalten. Heute ist die Liturgiesprache Arabisch.


Eine Toilette voller Bücher: Die Al-Saeh-Bibliothek in Tripoli ist ein attraktives Ziel – für Freunde wie für Feinde.

„Zu mir kommen mehr Muslime als Christen“, sagt der 74-Jährige mit dem gepflegten Bart, die Brille baumelt ihm stilgerecht vor der Brust. Den Nachbarn ruft er jeden Tag ein freundliches „Salam aleikum!“ zu, der Mufti von Tripoli ist sein Freund und sogar ein salafistischer Scheich wie Salam al-Rafei hat ihm einmal ein hübsches Buch über den Islam geschenkt – als Geste des guten Willens und als Ausdruck der Anerkennung für die kulturelle Arbeit, die dieser ganz und gar unorthodoxe Priester leistet. „Viele Muslime“, sagt Sarrouj schmunzelnd, „nennen mich sogar ‚Scheich Ibrahim‘.“

Für ihn kam es wie ein Blitz aus heiterem Himmel, was da Anfang Januar 2014 passierte. Bashir Hazzuri, ein neu eingestellter Mitarbeiter, hatte seinen ersten Arbeitstag und machte sich mit dem Computer vertraut. Rami, dessen Kollege, war gerade Essen holen, Sarrouj saß mit Gästen draußen im Garten. Da stürmten zwei bewaffnete Turbanträger herein, die mit einem Motorrad vorgefahren waren. Waren sie hinter dem Priester her und sauer, dass sie ihn nicht fanden? Oder war es ihnen völlig egal, wen sie da vor der Flinte hatten – Hauptsache, sie konnten Schrecken verbreiten? Wie auch immer, sie feuerten in der Bibliothek eine Salve ab, Hazzuri trafen zwei Kugeln ins Bein und drei in die Brust, eine davon ging nur ganz knapp am Herz vorbei. Als Sarrouj hereinstürzte, waren die Männer schon wieder weg und der Schwerverletzte röchelte in einer Blutlache.

Ein Blitz aber kommt nie aus heiterem Himmel. Sarrouj brauchte nur noch etwas Zeit, um herauszufinden, welch dunkle Wolken sich da zusammengeballt hatten. Zwei Minister riefen ihn an und rieten ihm dringend, die Stadt zu verlassen, er solle die kommenden Nächte lieber nicht zu Hause, sondern an einem sicheren Ort verbringen, am besten in einem Kloster seiner christlichen Glaubensgemeinschaft. Am selben Tag, abends gegen neun, kamen schon wieder zwei Männer zur Bibliothek, die nichts Gutes im Schilde führten. Sie versuchten, die verschlossene Eingangstür aufzubrechen. Zwar waren nun, wegen des Überfalls, Polizisten zur Bewachung abgestellt worden, die waren aber gerade essen gegangen. Zum Glück rannten Nachbarn herbei und verscheuchten die Täter mit den Rufen: „Haut ab und lasst den Pater in Ruhe! Der hat doch niemandem etwas getan!“

Was war geschehen in Tripoli? Weshalb wurde Sarrouj zur Zielscheibe? Weil er Büchernarr war? Weil er ein christlicher Priester war? Nachts um eins traf eine SMS mit anonymem Absender auf seinem Handy ein. „Wir warnen dich!“, lautete die Nachricht. Für den nächsten Tag, nach dem Freitagsgebet, sei eine Demonstration gegen ihn geplant. Kam die SMS von Feinden oder Freunden? Nicht einmal das konnte Sarrouj in diesem Moment sagen.

Frühmorgens suchte er Ephrem Kyriakos, den rum-orthodoxen Bischof von Tripoli, auf. Der kontaktierte sunnitische Führer, zu denen er einen guten Draht hatte. Diese erzählten von einer fatwa, die irgendein Imam gegen ihn wegen Blasphemie erlassen habe. Eine fatwa ist ein Rechtsgutachten, auf das sich muslimische Gewalttäter gerne berufen, wenn sie jemanden umbringen sollen oder wollen. Was aber, so fragte sich Sarrouj, hatte er denn Böses über den Islam, den Koran, den Propheten Mohammed gesagt oder geschrieben?

Nach und nach schälte sich eine durch und durch krause Geschichte heraus. Da gab es eine Website in arabischer Sprache, betrieben von einem Mann namens Ahmed Kadi. Auf ihr habe der Priester 2010 ein Pamphlet veröffentlicht, wonach Mohammed pädophil gewesen sei. Ein junger Bote im Dienst von Scheich Ali Hashar, einem muslimischen Führer, hatte etwas in einem Copyshop von Tripoli zu erledigen, dort sah er zufällig vier ausgedruckte Seiten liegen, deren Inhalt von dieser Website stammte. Er fragte das Personal, woher sie denn diese Vorlagen hätten. Die angebliche Antwort war, Sarrouj habe das zum Zweck der Vervielfältigung hierherbringen lassen.

Was gingen den Boten diese vier Seiten an? Was brachte die Leute am Tresen dazu, ihn als den Auftraggeber von Kopien zu bezeichnen? Die Sache wurde noch abenteuerlicher. Der Bote bat darum, einen zusätzlichen Kopiersatz für ihn anzufertigen und der Copyshop kam tatsächlich seiner Bitte nach. War da ein Eiferer unter den Angestellten, der den Islam gegen Schmähungen verteidigen wollte? Der Bote nahm die Kopien mit und überreichte sie seinem Arbeitgeber. Scheich Ali gab das Material an die Polizei und den Geheimdienst weiter. War er selber ein Teil des Komplotts? Oder wollte er Schlimmeres verhindern? In jedem Fall war die Nachricht aus dem Copyshop offensichtlich auch noch zu anderen Personen vorgedrungen – wie sonst wäre es zu einer fatwa gekommen?

Als das Freitagsgebet zu Ende war, rottete sich in der Tat eine rachsüchtige Menge zusammen. Die islamischen Autoritäten, mit denen der Bischof gesprochen hatte, waren auf diesen Fall vorbereitet. Sie traten vor ihre Leute und riefen ihnen zu: „Bitte geht nach Hause! Wir haben die Sache schon geklärt. Der Priester hat sich nichts zuschulden kommen lassen.“ Die Menge schenkte ihnen offensichtlich Glauben, denn sie löste sich auf, und alles schien ein gutes Ende zu nehmen. Aber es schien eben nur so. Nachts um halb elf – die Polizisten waren schon wieder abgezogen – bekam die Al-Saeh-Bibliothek erneut Besuch. Diesmal waren es fünf Männer und daher ging alles sehr schnell. Sie schlugen mit einem Hammer das Schloss und den Sperrriegel der Eingangstür in Stücke. Dann stießen sie die Türflügel auf, leerten im Innern einen Benzinkanister aus und setzten die Flüssigkeit in Brand. Sekunden später brannten die ersten Regale lichterloh. Im Nu waren die Täter verschwunden, und als die Feuerwehr kam, waren mindestens 8.000 Werke schon den Flammen zum Opfer gefallen.

„Wissen Sie noch, was Ihre ersten Worte waren, als Sie die Nachricht erhielten?“, frage ich Sarrouj.

„Gott hat es gegeben, Gott hat es genommen“, lautet seine fatalistische Antwort.

Am Tag darauf fand in Tripoli eine Demonstration gegen den Brandanschlag statt. Auf Transparenten stand, so etwas verstoße „gegen die Werte des Propheten“ und „Tripoli ist eine friedliche Stadt“. Regierungschef Nadschib Miqati, islamische Würdenträger und Vertreter der Zivilgesellschaft verurteilten das Attentat. Emad Ayoubi, der Sicherheitschef von Tripoli, erklärte auf einer Pressekonferenz: „Pater Sarrouj hat mit diesem Websitebeitrag absolut nichts zu tun.“ Scheich Salam al-Rafei ließ allerdings verlauten, bestraft werden müssten nicht die Täter, sondern der Autor der fatwa.

Eine Welle der Solidarität setzte ein. Sarrouj konnte sich kaum noch retten vor Buchspenden, die die entstandenen Lücken füllen sollten. 1.000 Bücher trafen vom Kulturministerium ein, 1.000 von der Universität Antonine, die ein maronitischer Orden betreibt, 2.500 vom christlichen General Michel Aoun, einer der wichtigsten politischen Figuren des Libanon. Zahlreiche Kisten erreichten die Bibliothek aus Frankreich und den USA.

Unter dem Motto „Kafana Santam“ („Schluss mit dem Schweigen“) lief auf Facebook eine Spendenkampagne an. Binnen weniger Wochen wurden 37.000 Dollar für die Erneuerung der Bibliothek gesammelt. Die Freude von Pater Sarrouj über diese Aktion hält sich allerdings sehr in Grenzen: „Kein Mensch weiß genau, wie viel Geld da wirklich zusammengekommen ist“, sagt er. Ja, die Aktivisten hätten neue Regale gekauft sowie einen Teil der rußgeschwärzten Wände und Decken frisch gestrichen. „Aber das hat nie und nimmer 37.000 Dollar gekostet, wahrscheinlich maximal 12.000 Dollar.

„Was ist mit dem übrigen Geld geschehen?“, frage ich.

Der Bibliotheksleiter zuckt mit den Schultern. „Ich habe bis heute keine einzige Quittung gesehen.“ Wohl aber hätten die Initiatoren sich selber zu einem üppigen Abendessen eingeladen, mit dem sie den erfolgreichen Abschluss ihrer Kampagne gefeiert hätten – in einem schicken Restaurant, das dem Vater eines der Organisatoren gehöre. Im Libanon sind die Wege des Bösen wie auch des Guten oft auf tückische Weise miteinander verschlungen.

Ein Mitarbeiter der Sicherheitsdienste habe ihm erzählt, dass schon wieder ein neues Gerücht im Umlauf sei. Hinter dem Brandanschlag stecke der Eigentümer des Gebäudes, in dem die Bibliothek untergebracht ist. Der wolle das ganze Grundstück an einen Investor verkaufen, was wegen der zentralen Lage wohl ein ziemlich einträgliches Geschäft wäre. Weil das Haus aber unter Denkmalschutz stehe, sei ein für einen Neubau erforderlicher Abriss verboten. Wenn hingegen nur noch eine Brandruine übrig sei, gebe es nichts mehr zu schützen – und daher seien an eine muslimische Gang 2.000 Dollar gezahlt worden, um den Verfall der Strukturen etwas zu beschleunigen …

Sarrouj winkt ab und wendet sich ab. Genug der Verdächtigungen und der bösen Worte. „Es ist nicht meine Aufgabe, sondern die der Regierung, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Ich bin hier, um die Leute zu lieben. Ich trage sie auf meinen Schultern.“ Neue Kundschaft ist gekommen, es sind Eltern, die Kinderbücher suchen. Die Videokamera am Eingang nimmt jetzt alle Szenen auf. Der Priester aber blickt am liebsten nie dorthin. Glücklich führt er die Besucher an den Regalen entlang. Es ist doch viel schöner, sich nur mit Büchern zu beschäftigen.

KAPITEL 5 · KHABUR-TAL – SYRIEN

„Wo war denn unser Gott?“

Wie Kirchen in Trümmer sinken

Unter meinen Füßen knirschen verbeulte Plastikflaschen, verrostete Cola- und Thunfischdosen. Mein Blick fällt auf zerfetzte Sofas und Sessel, ausgebrannte Küchen, umgekippte Kühlschränke, herumliegende Kleidungsstücke und aufgerissene Matratzen. Haus um Haus taste ich mich mit meinen Begleitern voran. Es ist ein Rundgang durch ein zerschundenes Dorf.

„Und wo sind die Einwohner?“, frage ich.

„Irgendwo bei Verwandten“, lautet die Antwort. „Oder in einem Lager. Oder schon bei euch im Westen.“

Tel Shamiran ist der arabische Name dieses Dorfes, seine Bewohner aber nannten es Marbusnayeh. Sie waren Assyrer, Nachfahren eines Volkes, das um 900 v. Chr. in Mesopotamien das erste Großreich der Welt errichtete. Die Menschen, die an den Ufern des Flusses Khabur siedeln, sprechen noch heute Aramäisch, die Sprache Jesu. Sie gehören zu den Kulturen, die man die „Versprengten der Geschichte“ nennen kann. „Das war die Front“, sagen die Assyrer, die mich hierhergebracht haben. „Hier haben sich die IS-Kämpfer verschanzt. Die Häuser boten ihnen Schutz. Ohne die Unterstützung der Alliierten aus der Luft hätten wir sie wohl nur schwer vertreiben können. Schauen Sie sich um! Das Dorf sieht heute noch so aus, wie die Leute vom ‚Islamischen Staat’ es verlassen haben.“

Drei Monate lang, von Februar bis Mai, tobten hier 2015 die Kämpfe. Die daesh, wie die selbsternannten Gotteskrieger im Nahen Osten heißen, hatten einen Großteil der Provinz Hassaka im Nordosten Syriens überrannt. In Dörfern wie Tel Shamiran buddelten sie Bunker in die Gärten und hoben Schützengräben aus. So schossen und starben sie für Allah und ihren Traum vom Kalifat, das sie am liebsten über die ganze Welt ausdehnen würden.

Als die daesh über diese Gegend herfielen, ahnten die Assyrer, dass für sie wohl wieder einmal die Stunde geschlagen hatte. Sie gehören einer christlichen Glaubensgemeinschaft an, die oft als „Nestorianer“ bezeichnet wird, sich offiziell aber „Assyrische Kirche des Ostens“ nennt. Für die daesh waren sie nichts anderes als kafir, Ungläubige. Die Assyrer wussten aus ihrer leidvollen Geschichte heraus, was das für sie bedeutete: die zweite große Flucht innerhalb von hundert Jahren.

Die Welt hatte schon kaum Notiz davon genommen, dass 1915 im Osmanischen Reich die Vernichtung der Armenier begann. Noch viel weniger drang nach außen, was zeitgleich mit den Assyrern geschah. Seit Generationen hatten sie im Turabdin, einer urchristlichen Region im Südosten der Türkei, und noch weiter östlich in den Bergen rund um Hakkari und den Van-See gelebt. Nun fielen auch sie der brutalen ethnischen Säuberung zum Opfer, die die Jungtürken zusammen mit verbündeten kurdischen Stämmen betrieben. An die 300.000 Assyrer, so schätzen Historiker, kamen damals um, die anderen flüchteten in den Norden Syriens. Knapp 20 Jahre später, 1933, wurden im Nachbarland Irak Tausende von Assyrern durch Soldaten umgebracht, weil sie angeblich Plünderungen veranstaltet hätten. Die meisten, die sich retten konnten, bekamen auf Beschluss des Völkerbundes in 37 Dörfern am Khabur eine neue Heimat.

Wir müssen uns tief ducken, so können wir durch Wände gehen. Die daesh haben sie einfach durchbrochen, damit sie im Innern der Häuser im Blickschutz bleiben und sich trotzdem bewegen konnten. „Gott, vergib uns“, sprühten sie an die Mauern. „Alle Macht ist bei Gott“, lesen mir meine Begleiter die Graffiti vor. „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet.“

DIE NESTORIANER

Auf dem Konzil von Ephesus 431 wurde Nestorius, der Patriarch von Konstantinopel, als Häretiker verurteilt. Nach seiner Lehre konnte Maria als Mensch kein göttliches, sondern nur ein menschliches Wesen namens Jesus geboren haben. Nestorius’ Anhänger formierten sich zur „Kirche des Ostens“. Wegen ihrer starken Präsenz in Mesopotamien wurde sie bald „Assyrische Kirche des Ostens“ genannt. Assyrische Christen übersetzten Werke griechischer Wissenschaftler und Philosophen ins Arabische, später lernten sie von muslimischen Mathematikern und Astronomen. Ihre Kirche erlebte mehrere Spaltungen. Heute zählt sie weltweit etwa 400.000, im Nahen Osten aber kaum noch 200.000 Mitglieder. Zahlreiche „Nestorianer“ sind nach Europa und in die USA ausgewandert.

Die islamischen Gotteskrieger haben die Namen ihrer Kampfeinheiten auf dem Putz hinterlassen. Wir lesen den Namen „Abu Hamza“ – ein Hassprediger, dessen Ansprachen oft mit den Worten begannen: „Beseitigt die Juden vom Antlitz der Erde, schlachtet die Ungläubigen ab, errichtet das weltweite Kalifat!“ Er wurde 2014 in den Vereinigten Staaten wegen elf Verbrechen, darunter Geiselnahme im Jemen, der Beihilfe zu Anschlägen in Afghanistan und Einrichtung eines Terrorcamps im US-Staat Oregon, zu lebenslanger Haft verurteilt. Wir lesen „Abu Sumaya“ – er war ein IS-Kommandeur, der im Nachbarland Irak den Verkauf gefangener jesidischer Frauen organisierte; er wurde 2014 bei Kämpfen im Raum Mossul erschossen. Wir lesen „Al-Adiyat“ – der Name der Streitrosse, von denen der Koran in seiner 100. Sure berichtet. Es seien, so steht dort geschrieben, „schnaubende Renner“, die „Feuerfunken schlagen“, „frühmorgens anstürmen, Staub aufwirbeln und dadurch in die Mitte der Feinde eindringen“.

Die Assyrer haben das Glück, dass die Kurden heute nicht mehr gegen sie, sondern mit ihnen kämpfen. Im Nordosten des zerfallenden Staates Syrien haben deren „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG) seit 2013 das mehrheitlich von Kurden bewohnte Gebiet unter ihre Kontrolle gebracht. Unter dem Schutz der Kurden stellten die Assyrer eine kleine bewaffnete Truppe aus ein paar Hundert Kämpfern auf. „Sutoro“, so ihr Name, hat seither in christlichen Gebieten wie dem Khabur-Tal das Sagen. Ich bin aus dem irakischen Kurdistan mit einem Fährboot über den Tigris in diesen Teil Syriens gekommen – illegal, weil ohne Visum der Regierung in Damaskus; legal, weil die „Sutoro“ mir einen gestempelten Zettel mit einer Aufenthaltserlaubnis für sieben Tage ausstellte.

In Tel Shamiran taucht plötzlich eine Gruppe von ehemaligen Dorfbewohnern auf. Sie erzählen, dass im Khabur-Tal die Leichen von 70 daesh entdeckt worden seien. Die IS-Leute hätten bei ihrem Rückzug aber auch 253 Einheimische als Geiseln mitgenommen. Gut die Hälfte davon – meist Männer über 60 – seien mittlerweile freigelassen, vermutlich drei Gefangene erschossen worden. Für den Rest hätten die IS-Leute ein Lösegeld von 100.000 Dollar pro Kopf verlangt, vor Kurzem sei der Preis halbiert worden. „Aber niemand von uns“, sagen die Assyrer, „kann auch nur annähernd so viel Geld aufbringen.“ Ein 40-Jähriger mit Namen Ashur, der damals mitgekämpft hat, schält sich aus der Gruppe heraus. „Ich bin der Letzte aus meiner Familie“, sagt er, „alle anderen sind ums Leben gekommen, mein Vater und meine Mutter, meine Frau und meine fünf Söhne. Acht Menschen habe ich verloren, während ich bei meiner Einheit war. Vielleicht wissen Sie jetzt, wie ich mich fühle.“

Ich glaube zu spüren, dass Farbe aus meinem Gesicht weicht. Der Mann zeigt mit einem bitteren Lächeln auf ein dickes, freiliegendes Wasserleitungsrohr, das sich durch die Trümmerlandschaft zieht. „Setzen wir uns, das ist jetzt unser Gästezimmer.“ Dann hocken wir auf dem harten Metall, und ich frage ihn, ob man als Christ den Glauben an Gott verliert, wenn man vom Leben so grausam behandelt wird.

„Tja, wo war unser Gott, das frage ich mich auch“, antwortet er. „Als Kinder hatten wir immer Angst vor seinen Strafen. Warum nur hat er die daesh nicht bestraft? Wo war er, als sie unsere Häuser zerstörten? Wo war er, als sie unsere Kirchen zerstörten?“

„Die daesh haben auch die Kirchen zerstört?“, frage ich.

„Neun Kirchen“, entgegnet er. „Neun Kirchen allein auf der Südseite des Flusses. Fahren Sie hin, schauen Sie es sich an. Es gibt hier kein einziges Gotteshaus mehr, das unversehrt geblieben ist.“

Wir machen uns auf den traurigen Weg. Die Kirche von Tel Shamiran stand etwas abseits des Ortskerns, wir finden nur noch ein Meer aus Steinen und ein paar Säulen, die einst das Dach trugen. In Tel Telaa (aramäisch: Sara) steht noch eine Art Betongerippe, das die einstige Form ahnen lässt, aber kein Dach und keine Wände mehr hat. Wir sammeln ein paar Scherben mit aramäischen Schriftzeichen auf und setzen die Bruchstücke zusammen, es sind Reste einer Tafel mit den Gründungsdaten, die am Haupteingang hing. In Tel Baloua (Diznayeh) saßen die islamischen Gotteskrieger auf dem Dach der Kirche und nahmen den Feind unter Feuer.


IS-Parolen auf zerstörten Wänden. Ein „Sutoro“-Kämpfer zeigt, wie die „Gotteskrieger“ sich in Häusern verschanzten.

„Sutoro“- und YPG-Kämpfer schossen von einem Hügel auf der Nordseite des Flusses zurück.

Das Resultat mutet an wie ein Symbolbild für den Untergang des Christentums in einer Region, wo vor 2.000 Jahren sein Aufstieg begann: Die Kirche ist zernarbt von schweren Granattreffern. Von ihren Mauern sind die meisten Steinkacheln abgefallen, so liegt der nackte Beton darunter frei. Die Glocke hängt verloren in ihrem Gebälk, der Läutestrick sinnlos in der Luft. Das vierarmige orthodoxe Kreuz, das nicht nur von allen Seiten, sondern auch von oben als solches erkennbar sein soll, baumelt verkehrt herum auf dem Glockenturm; vermutlich wird es nicht mehr lange dauern, bis es endgültig herunterfällt.

Ein letztes Dorf tun wir uns noch an, bevor die Sonne untergeht. In Tel Tal (Talnayeh) ragt aus einem riesigen Schutthaufen der ganze obere Teil eines Kirchturms. Es neigt sich schräg zur Seite wie ein sinkendes Schiff.

„Soll bloß niemand sagen, dieser Bau sei durch Bomben aus der Luft zerstört worden“, sagen die Assyrer. „Schauen Sie genau hin! Das Dach ist völlig ganz geblieben. Nein, die Bombe kam nicht von oben, sondern von unten. Die daesh haben die Kirche in die Luft gesprengt.“ Ich streife leicht benommen durch den Ort. Hier sind kaum Kampfspuren zu sehen, das stärkt die Vermutung von purer Zerstörungswut. Nun aber sehe ich, dass etwas in aramäischen Schriftzeichen auf eine Hauswand gesprüht wurde. Die Assyrer übersetzen es für mich. Es ist eine überraschende Nachricht, die einzig gute an diesem Tag. „Wir kommen zurück in unser geliebtes Tel Tal.“ Wer hat das nur geschrieben?

Ein Bursche namens Baribal taucht auf und sagt voller Stolz, das sei er gewesen. Er winkt uns, ihm zu folgen, und führt uns in ein Haus, das tatsächlich wieder bewohnt ist. Wir gehen durch einen Garten, rot schimmernde Granatäpfel hängen an den Bäumen. Da steht Elias Antar, der Vater des jungen Mannes, auf der Veranda und streckt uns strahlend die Hand entgegen. Er war sein ganzes Leben lang in diesem Dorf als Lehrer tätig und ist als Erster schon eine Woche nach der Rückeroberung wieder in sein Haus eingezogen. „Vor dem Krieg lebten in Tel Tal 55 Familien“, sagt er. „Jetzt sind immerhin schon zwölf wieder da. Wir sind ständig dabei, weitere Familien zur Rückkehr zu ermuntern.“ Seine Frau zögere noch, aber sie komme immerhin schon ein- bis zweimal pro Woche zu Besuch, und sie verspreche die vollständige Rückkehr für den Fall, dass Shadadeh, die nächstgrößere Stadt weiter im Süden, aus den Händen des IS befreit wird.

„Meine Kindheit, meine Jugend, meine Frau, meine Vergangenheit und meine Zukunft – alles ist von hier“, sagt der 68-Jährige. „Warum soll ich von hier weg?“

Er geht in den Keller und holt eine Flasche hausgemachten Rotwein. So ein Tag und so ein Besuch – das muss gefeiert werden. Dann aber schaut er mich durchdringend an, während er die Flasche öffnet. „Sie kommen aus Deutschland, sagten Sie?“ Ich nicke und er hält für einen Moment inne mit dem Korkenziehen.

„Ich hasse Deutschland“, sagt er mit einem Lächeln, dem man ansieht, dass es von Schmerz verzerrt ist.

„Sie werden Gründe dafür haben“, entgegne ich.

Er füllt die Gläser und reicht mir eines zum ersten Schluck.

„Zwei meiner Töchter sind nach Deutschland gegangen“, erzählt er. „Sie selber wollten es eigentlich nicht. Aber letztlich haben sie ihren Männern nachgegeben. Sie waren beide Lehrerinnen in der Stadt Hassaka gewesen. Mein Gott, sie hatten doch alles, was sie brauchten. Jetzt arbeiten sie in einem Restaurant.“ Er habe gebrochen mit ihnen, fügt er hinzu, so groß sei seine Enttäuschung gewesen.

Ich kann nachvollziehen, was die Gründe gewesen sein mögen, die Familie, das Haus und das Dorf zu verlassen. Der Fluss Khabur ist zum Rinnsal geworden, von seinen 300 Quellen sprudelt nur noch eine einzige, und deren Menge wird durch einen Kanal zur Versorgung von Hassaka geleitet. Die Türkei hat mit ihren Staudammprojekten den syrischen Nachbarn das Wasser abgegraben. Die Dorfbewohner können kein Obst mehr anbauen, weil der Grundwasserspiegel so stark gesunken ist. Das Trinkwasser, das die Leute einst aus Brunnen holten, ist so salzig geworden, dass sie ihren Bedarf in Plastikflaschen kaufen müssen. Und zu all dem ist dann noch der Krieg mit all seiner Zerstörung und die Angst vor den daesh gekommen.

„Wer glaubt denn noch ernsthaft daran, dass viele Auswanderer je wieder zurückkommen werden?“, frage ich in die Runde.

Sie zucken stumm mit den Schultern. Es hänge halt alles davon ab, was aus diesem Land Syrien werde.

„Getreide und Baumwolle lassen sich hier immer noch anbauen“, beharrt Elias Antar, als wir uns verabschieden. Ich spüre, wie ohnmächtig er gegen den Gang der Zeit kämpft. Er drückt mir, obwohl ich aus Deutschland komme, einen reifen Granatapfel in die Hand.

1 539,26 ₽
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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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332 стр. 71 иллюстрация
ISBN:
9783990404225
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