Читать книгу: «Andersfremd», страница 3

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Der schlesische Schwejk ist unter seiner Bärenhaut verletzbar. Und äußerlich ist er tatsächlich ein Bär, wenn auch einer, der anlässlich einer Kulturveranstaltung tapsig und im Stechschritt auf die Bühne marschiert und der vor Behagen grölenden Masse seiner Mitgefangenen in Goebbels-Manier zuschreit: „Majakowski: Der Fortschritt siegt!“ Oder auf der Lagerstraße, als sich die Sträflinge nicht mehr einzeln, sondern nur noch in Gruppen, aus mindestens drei Gefangenen bestehend, von der Speisebaracke zur Schlafbaracke und umgekehrt begeben dürfen. Aus Sicherheitsgründen, denn gegen die Oberen hat es eine Revolte gegeben: Der stellvertretende Lagerkommandant ist auf offener Lagerstraße im Dunkeln von jemandem geohrfeigt worden. Die Erzieher kennen den Übeltäter nicht, aber sie kennen die Drahtzieher, die zu den haltlosen Zuständen im Lager geführt haben, zur Auflösung von Ordnung und Disziplin. Mit den Drahtziehern könnte das kleine Häuflein der Politischen gemeint sein. Fortan steht hinter den zum Fahnenappell Angetretenen alle fünf Meter ein Erzieher, die Maschinenpistole geschultert und den Deutschen Schäferhund an der Leine, was mir und meinesgleichen ein mulmiges Gefühl vermittelt.

Wenn ich mit Schwejk über die Lagerstraße ziehe und einem Erzieher begegne, reißen wir uns die Mützen vom Kopf, stehen stramm, und Kurt erstattet im schneidenden Kommandoton, die Hände an der Hosennaht, Meldung: „Herr Hauptwachtmeister, Strafgefangener 371 aus 3 meldet gehorsamst, drei Strafgefangene auf dem Weg vom Speisesaal zur Baracke Nummer fünf!“

Verdattert ob solch militärischen Gebarens entlässt uns der Hauptwachtmeister gnädig. Wir, die Strafgefangenen, amüsieren uns königlich. Fast gieren wir danach, wir, die anderen, die wir Akteure und Zuschauer des Sträflingstheaters geworden sind, möglichst oft Meldung erstatten zu müssen, es unserem Schwejk gleichzutun.

Ein kleines Häuflein Politischer schart sich um Kurt und Walter. Etwa zwölf an der Zahl. Zu unserem Kreis gehören auch zwei, die sich ominöser Verbrechen gegen die sozialistische Wirtschaft schuldig gemacht haben. Hungerkiepe – ein zweiundzwanzigjähriges Geschäftsgenie, dem alle Reste zugeschoben werden, denn er kann nie genug bekommen, dabei ist er nur Haut und Knochen – ist sein fünfundachtzig Jahre alter Vater zum Verhängnis geworden, der aus Neid auf die Erfolge des Sohns, der es bereits zu einem eigenen Haus und einem Wartburg Sport gebracht hat, zur Polizei gegangen ist und ihn wegen Unregelmäßigkeiten in der Buchführung angezeigt hat.

Nicht ohne Erfolg, denn ein Genosse aus der Kreisleitung der Partei hatte schon ein Auge auf die kleine Villa geworfen, die er nach der Verurteilung des jungen Mannes wegen Vergehen gegen Volkseigentum und sozialistische Wirtschaftsinteressen zu drei Jahren bei gleichzeitiger Enteignung des unrechtmäßig erworbenen Privatbesitzes für einen Vorzugspreis erstehen konnte.

Hungerkiepe sitzt zu den Mahlzeiten meist neben mir, da ihm meine Fleischrationen sicher sind. Aber in der Regel finden auch die Reste von mehreren anderen Mitgefangenen den Weg durch sein stets weit geöffnetes Scheunentor. Er ist wie ein hungriger Ackergaul, der unentwegt fressen kann, wenn entsprechende Futtermengen nachgereicht werden.

Ein Bauernsohn aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Rostock, der auf der ABF, der Arbeiter- und Bauernfakultät, sein Abitur abgelegt hatte, hat sich mit einigen Freunden aus dieser Kaderschmiede den Rütlischwur zu eigen gemacht, sie wollten sein ein einig Volk von Brüdern und das Regime mit Waffengewalt hinwegfegen, sie wollten bewaffnete Zellen aufbauen und mittels wirkungsvoller Terroraktionen den Kampf gegen die ihnen verhassten Kommunisten aufnehmen, bis die die Macht freiwillig aus der Hand geben und sich zurückziehen würden, um den Weg freizumachen für ein einiges und demokratisches Deutschland.

Für diesen ungeheuerlichen Plan, denn es war nur bei einer im Freundeskreis ausgeheckten Fantasie geblieben, hatte er, zwei oder drei Jahre älter als ich, als einer der Rädelsführer nur dreißig Monate aufgebrummt bekommen. Die Stasi braucht ihn noch. Zwar will sie ihn kirremachen, nicht aber psychisch oder gar physisch zugrunde richten.

Nach seiner vorzeitigen Haftentlassung darf er sogar Physik studieren und zu konspirativen Treffs mit der Vorhut der Arbeiterfaust erscheinen. Das alles erfahre ich von ihm persönlich. Aber ob er tatsächlich zu dem geworden ist, wozu man ihn kneten wollte, ist ungewiss, seine Spur verliert sich 1969, als ich schon seit einem Jahr in Budapest lebe.

Die Politischen sind eine verschworene Gemeinschaft, Freunde. Spitzel in unseren Kreis einzuschleusen, so glauben wir, sei ein Ding der Unmöglichkeit. Nach endlosen Gesprächen unter jeweils vier Augen meinen wir, selbst in die geheimsten und dunkelsten Winkel des anderen vorgedrungen zu sein. Spitzel, davon sind wir überzeugt, gibt es nur unter den Kriminellen und denen, die nach wie vor am Rockzipfel der Mutter Partei hängen.

Kriminelle und Hundertfünfzigprozentige haben keine Chance, in unseren illustren Kreis aufgenommen zu werden, zu dem auch ein Kapellmeister aus Neustrelitz, und ein Fabrikantensohn aus dem Westen gehören, der vor der Bundeswehr in den Osten geflüchtet ist.

Ich ertappe mich dabei, den elegant wirkenden Brillenträger mit den glatt nach hinten gekämmten dunkelblonden Haaren, der irgendwie ein besonderes Fluidum ausstrahlt, das eines weit gereisten Westlers aus reichem und vornehmem Hause, ein wenig um seine Kindheit und Jugend zu beneiden, nicht zuletzt auch darum, dass ihn sein Vater nach Verbüßung der Haftstrafe nicht länger in der Russenzone schmoren lassen werde. So wenigstens sei es ihm in einem verklausulierten Brief versprochen worden. Das werde seinen Alten eine schöne Stange Geld kosten, fünfzig- bis hunderttausend würden sicher über den Tresen gehen, doch das störe ihn, den Sohn, wenig, das müsse er seinem Vater schon wert sein. Schließlich hätte der ihm, nachdem er die Nase vom Osten gestrichen voll gehabt habe, einen falschen Pass besorgen können, dann wäre er nicht erwischt worden, als er versucht habe, über die Mauer zu klettern, um sein Ingenieurstudium in Darmstadt fortzusetzen.

So einen Vater hätte ich auch gern gehabt.

Insgeheim mache ich mir Hoffnungen, mit Hilfe von Walter einen Weg in den Westen zu finden, um dem ungeliebten Land den Rücken zu kehren. Der geforderte Kadavergehorsam und die Kriminalisierung des Denkens machen mir das Leben in der DDR unerträglich. Dennoch weiß ich nicht wirklich, ob ich tatsächlich in den Westen will, ob ich mich in einer Welt der Freiheit und Belanglosigkeiten wohlfühlen würde.

Als ich mir wenige Monate vor der Inhaftierung am Deutschen Theater in Berlin den Don Carlos ansehe, gibt es an der Stelle, als Marquis Posa von König Philipp in stürmisch romantischer Verklärung fordert: Sire, geben Sie Gedankenfreiheit, nicht enden wollenden Szenenapplaus. Die da geklatscht haben, das sind meine Leute, zu ihnen fühle ich mich hingezogen. Im Westen, wo es Gedankenfreiheit gibt, würde man diese Stelle vielleicht gar nicht als einen der Höhepunkte in Schillers Drama begreifen.

Die wenigen Westler, die ich kenne, kommen mir alle überheblich vor. Bei Licht besehen, verhält es sich auch mit dem Fabrikantensohn nicht anders. Der Geruch des Geldes und die Weltgewandtheit machen ihre Überlegenheit aus, während Mauer und Stacheldraht die Ostler nicht nur hier im Lager zu Tölpeln abstempeln, denen von einem Stiefvater mit Zuckerbrot und Peitsche der nötige kindliche Respekt eingeflößt wird.

Aber Stiefkinder verbünden sich insgeheim gegen den Stiefvater, kapseln sich ab, werden aufmüpfig, führen ein Doppelleben. Die hier im Osten sind hochsensibel und trotz allem eigentlich reicher als ihre Brüder und Schwestern im Westen. Manch einen Ostler macht die Schizophrenie kaputt. Andere entziehen sich ihr, indem sie sich unwillig zeigen, zwischen Denken und Handeln, zwischen Fühlen und Sprechen einen Unterschied zu machen.

Gleich wie man es dreht und wendet, die Ostler sind extreme Persönlichkeiten. Viele von ihnen haben sich in eine anheimelnde Innerlichkeit zurückgezogen, in ein Glück im Winkel. Diese Nestwärme könnte es sein, die mich daran gehindert hat, ein Abenteurer zu werden und wegzugehen, als es noch möglich gewesen wäre.

Eines Tages aber wirst du flügge und willst das Nest verlassen, verzichtest auf die Nestwärme, möchtest den Rahmen deines Schicksals nicht mehr fremdbestimmen lassen. Der eine bahnt sich mit Waffengewalt den Weg in die vermeintliche Freiheit, scheut selbst vor einem Mord nicht zurück, oder geht mit bloßen Händen gegen brutale Waffengewalt vor, der andere versucht, auf verschlungenen Pfaden ans Ziel zu gelangen oder meint, es müssten auch ein paar Anständige im Land bleiben, und wieder ein anderer glaubt gar, er und der Arbeiter- und Bauernstaat seien eins, die Demokratien des Westens seien des Teufels, oder aber ihm fehlt die Kraft, Veränderungen anzustreben, weshalb er sich zum Mitläufer hat machen lassen, der leicht Täter oder Opfer werden kann.

Ich will weder Mitläufer noch Wegläufer sein, weder Opfer noch Täter, ich kann mich von der Erinnerung an meinen Großvater und meine arische Großmutter mit dem polnisch-jüdisch klingenden Namen nicht befreien. Selbst als das Leben des einen Sohnes an der Front durch einen Kopfschuss endet, loben sie den Herrn, der für sie Hitler heißt. Diesen Tod verklären sie und nehmen ihn als Opfer auf dem Altar des Deutschtums an. Er macht sie nicht bitter. Fast könnten sie in den Verdacht geraten, ähnlich gottesfürchtig wie Abraham zu sein, der bereit ist, Gott seinen Sohn Isaak zu opfern, oder Hiob, der die über ihn gekommenen Plagen klaglos erträgt, wäre da nicht das ihrer Meinung nach unwerte Leben Andersrassischer, wären da nicht die Täterrolle des Großvaters und das Hurragebrüll der Großmutter.

Die Erinnerung an die Scheußlichkeiten, deren sich meine Großeltern begeistert schuldig gemacht haben, kann ich nur ertragen, indem ich keinem einzigen Ismus eine Chance gebe, mich zu besetzen.

Weder für den Sozialismus noch für den Kapitalismus, weder für den Katholizismus noch für den Judaismus, für nichts und niemanden bin ich bereit, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Will ich ein höheres Lebewesen sein als ein Tier, dann kann ich die Anforderungen an mich selbst nicht niedriger ansetzen.

Knastologenaristokratie

Der Kapellmeister mag den Fabrikantensohn nicht so recht. Warum, weiß er selbst nicht. Vielleicht mag er Grenzgänger nicht, die mal auf der einen und mal auf der anderen Seite der Grenze ihren idealen Lebensmittelpunkt gefunden zu haben glauben.

Er kennt Leute aus den fünfziger Jahren, die ihr Mobiliar kurz und klein geschlagen haben, um dann darauf ihre Notdurft zu verrichten, bevor sie sich in den Westen abgesetzt haben. Nachdem sie im Goldenen Westen überrascht feststellen mussten, dass sie weitestgehend auf sich selbst gestellt waren, dass Eigeninitiative gefragt war, um sich im Überlebenskampf zu behaupten, kamen sie nach wenigen Monaten reumütig in ihre Heimatstadt zurück, um sich eine Wohnung zuweisen und in der Zeitung als vom Kapitalismus enttäuschte Helden feiern zu lassen.

Der Kapellmeister hat es versucht, er wollte in dem Land bleiben, in dessen Städten der Geist Goethes und Schillers, Bachs und Händels wehte. Aber die Zeiten hatten sich gewandelt, der Geist schien wie Schnee weggeschmolzen zu sein. Die Kunst in der DDR wurde gegängelt, an einer Hundeleine gehalten, die sich mal auf zwanzig Meter abspulen ließ, mal die kalte Hand des Hundehalters im Genick zu spüren bekam. Obwohl die Freiheit in der Musik, im Musiktheater unverhältnismäßig größer zu nennen war als im Sprechtheater oder in der Literatur, wollte er kein Teil eines geknebelten Kulturbetriebs sein. Dass eine steile Karriere auch für ihn ohne Parteibuch nur schwer vorstellbar war, spielte bei seinem Entschluss, die DDR zu verlassen, fast schon eine untergeordnete Rolle. Es war einfach das Unbehagen, das er bei der ihn umgebenden eigenartigen Mischung von Begabung und Nicht-Begabung empfand, wenn die Begabten in ihrer Entwicklung behindert wurden, weil die Minderbegabten, denen die Partei den Rücken stärkte, den Wettbewerb zu ihren Gunsten zu entscheiden vermochten. Das Unbehagen war eines, das sich vordergründig zwar aus der ihm unsympathischen Politik herleitete, allein schon beim Anblick der Funktionsträger die Nackenhaare sträuben ließ, in Wirklichkeit aber ging es tiefer, rief einen Schmerz in ihm wach, den er auch beim Hören eines verstimmten Klaviers empfand. Die ständig falschen Töne waren es, die sein Gehör beleidigten, ihn nach dem Klavierstimmer, dem Menschenstimmer riefen ließen. Doch die waren der Taubstummheit verfallen, in Gefängnissen verschwunden oder rechtzeitig außer Landes gegangen.

Seine Flucht in den Westen war längst schon gescheitert, noch bevor er sie überhaupt angetreten hatte. Der Fluchthelfer hatte zweimal kassiert, einmal von den Verwandten des Kapellmeisters im Westen und ein zweites Mal von der Stasi in Ostberlin. Ein halbes Jahr lang hatte die mit ihm Katz und Maus gespielt. Wohl im Glauben daran, dass das Fleisch mit zunehmender Todesangst schmackhafter sei. Falsche Kuriere bestellten ihn nach Ostberlin, um die Einzelheiten zu besprechen. Als es dann so weit war, musste er zweimal die Autos wechseln, die sich über holprige Landstraßen und Feldwege der Autobahn näherten. Der Rhythmus des Holperns kam ihm vor wie Erlkönigs hastender Reiter mit dem sich in Fieberfantasien schüttelnden Kind in seinem Arm. Er versuchte, die Angst zu verdrängen, stattdessen den dahinjagenden Klängen des Liedes nachzulauschen. Im dritten Wagen dann, einem umgebauten alten Buick, verkroch er sich hinter den Rücksitz, fühlte sich wie der fieberkranke Knabe, der in den Armen des Vaters schließlich gestorben war. Würde es am Ende auch ihm so ergehen? Würden ihn gar die Abgase töten wie einen Juden, dessen Leben die Nazis für überflüssig erklärt hatten? Nein, nein, schoss es ihm in seiner pränatalen Körperstellung durch den Kopf, die zweite Hälfte der besprochenen Summe würden die Schleuser ja nur für den lebenden Flüchtling bekommen.

An der Grenze in Marienborn wurde das Automobil gründlich unter die Lupe genommen. Aber entdeckt wurde sein Versteck vorerst nicht.

Doch da er erwartet worden war, wurde der Fahrer in aller sozialistischen Form und Höflichkeit gebeten, einem Fahrzeug der Staatssicherheit hinterherzufahren. In der nahegelegenen Kaserne dann wurde der Kapellmeister von Kfz-Spezialisten aus seinem Verlies befreit.

Eine Befreiung freilich hatte er sich einige Kilometer weiter erhofft, nicht hier und nicht so, auch wenn ihm die endlich wieder möglich gewordene Bewegung der steifen Glieder wie eine Wohltat vorkam, die ihn fast die Angst vor dem, was nun unweigerlich kommen würde, vergessen ließ. Er konnte kaum vernünftige Gedanken fassen, dirigierte in Gedanken Beethovens Fünfte. Das Schicksal hatte sich Eintritt in sein Leben verschafft.

Während er fröstelnd und zitternd darauf wartete, abgeführt zu werden, wurde er auf einen 300er Mercedes aufmerksam, dessen Nummernschilder sich nach dem Rolltreppenprinzip veränderten. Verwundert registrierte er verschiedenste westliche Kennzeichen, die er sich sogar hatte merken können, besaß er doch als Dirigent ein fotografisches Gedächtnis.

Der Ansporn, Partituren auswendig zu lernen und die Technik, sie quasi zu fotografieren und als jederzeit aktivierbare Negative zu speichern, kam von seinem großen Vorbild, dem rumänischen Wunderdirigenten Sergiu Celibidache, den er noch zwischen 1945 und 1952 an der Spitze der Berliner Philharmoniker erlebt hatte.

In der Schwarzen Pumpe gibt es ein verstimmtes Klavier, auf dem der Kapellmeister in den Abendstunden, wenn die Kulturgruppe zusammenkommt, um einen Tucholsky-Abend einzustudieren, klassische Musik erklingen lässt.

Chopin macht mich sentimental. Ich versinke in der Welt berauschender Klänge, ein hauchdünner Tränenschleier versperrt mir die Sicht. Von unserem Klavierspieler höre ich zum ersten Mal im Leben den Namen Béla Bartók. Auch er sei aus seiner Heimat weggeekelt worden und noch schlimmer, er sei im amerikanischen Exil gestorben, ohne die geliebte Heimat je wiedergesehen zu haben.

Bartóks Mikrokosmos ist ein ungewohntes und frappierendes Hörerlebnis. Wie elektrisiert lausche ich dem melodisch hämmernden Rhythmus, einer Musik, die mir eine geniale Verschmelzung von Klassik und Moderne zu sein scheint, ohne dass ich freilich in der Lage wäre, meinen Eindruck durch musiktheoretische Kenntnisse zu belegen, denn auf dem Gebiet der Musik bin ich ein blutiger Laie, zumal ich es bei meinen Klavierstudien nicht allzu weit gebracht habe. Hänschenklein und Ähnliches sind die Höhepunkte meines Repertoires. Noch schlimmer, die Struktur der Musik verschließt sich meinem Blick, höchstens nehme ich die metaphysische Ebene wahr. Die mathematischen Strukturen des Klanggefüges geben sich mir nicht zu erkennen. In ihrer strengen Klarheit bleiben sie mir unklar, ich stehe ihnen hilflos gegenüber wie jener Junge, den Kurt Tucholsky am Ende seines Familiendramas Wo kommen die Löcher im Käse her? mit gen Himmel ausgestreckten Armen ausrufen lässt: Aber ich möchte doch wissen, wo kommen die Löcher im Käse her?

In der Kulturbaracke zwischen Kommandozentrale und Speisesaal kommen wir an zwei Abenden in der Woche zusammen, wir, die Kulturträger des Lagers, wir, die wir gelegentlich ein Buch gelesen haben, ich sogar viele, wenn auch kunterbunt durcheinander, ohne inneren Bildungszusammenhang, fast wie Pawel aus Gorkis Mutter, der ohne Sinn und Verstand versucht, ein Lexikon auswendig zu lernen. In der Straßenbahn zwischen Dresden und Radebeul hatte ich damals tagtäglich ein bis zwei Dramen gelesen.

Eine wirklich fundierte Bildung besitzen aus dem Kreis nur drei: der Kapellmeister, Kurt und unser gemeinsamer Freund, der Bücherdieb, ein Libro-Kleptomane, der seinen Unterhalt aus dem Verkauf von gestohlenen Büchern bestritt, nachdem sich seine Eltern kurz nach dem Mauerbau, die Mutter im Rollstuhl, auf der Schwedenfähre von Saßnitz aus über den Umweg Schweden nach Westberlin abgesetzt hatten. Seit zwölf Jahren war die Mutter, die an Multipler Sklerose litt, nicht aus der Wohnung gekommen. Nun unternahm sie eine Reise übers Meer, um aus der Ostberliner Schonenschen Straße ein paar Straßen weiter nach Westberlin zu ziehen. Unseren Freund hatten sie zurücklassen müssen, hatten ihn aber später nachholen wollen. Doch dieses Vorhaben war fehlgeschlagen, so dass er sich auf intellektuell-kriminelle Abwege begeben musste, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Da er nichts gelernt, auch die Oberschule nicht beendet hatte und von körperlicher Arbeit nicht viel hielt, war ihm nichts anderes eingefallen, als seine Leidenschaft, unauffällig und unentgeltlich Bücher zu sammeln, in existenzsichernde Bahnen zu lenken. Von nun an stahl er von jedem Titel wenigstens zwei Exemplare, eines für seine ständig wachsende Privatbibliothek und eines, um es zu verhökern.

Wenige Augenblicke genügen ihm, um den Standort der lohnendsten Objekte festzustellen, denen er dann, um nicht aufzufallen, den Rücken zukehrt. Er, schwarz gelocktes Haar, bräunlicher Teint, Grübchen in den Wangen, immer ein Lächeln auf den Lippen, schlank, schlaksige Bewegungen, mit einem Wort, ein netter Junge von nebenan, mit dem über Bücher sich zu unterhalten ein Genuss ist, denn er ist belesen wie selten jemand in seinem Alter, er, der zwei oder drei Jahre älter ist als ich, verwickelt die freundlichen Buchhändlerinnen in ein Gespräch, um schließlich in einem günstigen Moment die ausgespähten Trophäen an sich zu nehmen und freundlich grüßend das Geschäft zu verlassen.

Kurt, der tapsige Bär, der schlesische Schwejk, der traurige Clown, er ist meine Universität, füttert mich mit Büchern und Namen bekannter Autoren, von denen ich aus seinem Mund zum ersten Mal höre. Kurt ist mein Lehrer, mein Freund, mein Vater und mein Beichtvater. Mit ihm philosophiere ich über Gott und die Welt, über Politik, Literatur, die menschliche Existenz, das Sein in Gott, über das eigene klägliche Versagen in der Beherrschung meines triebhaften Wesens. In Kurts Gegenwart komme ich mir recht klein vor. Dennoch brauche ich jemanden, dem ich mich anvertrauen kann, die Last der Verantwortung gegenüber zwei kleinen Kindern ist zu schwer, als dass ich sie allein tragen könnte.

Einen Tag nach John F. Kennedys Ermordung, von der wir aus den Nachrichten des Lagerfunks erfahren, vertraue ich mich im Vorraum der Baracke 3 Kurt an. Das Rätselraten über die Hintergründe des Mordes an Kennedy lässt eine Stimmung aufkommen, in der ich das Bedürfnis verspüre, mein Gewissen zu erleichtern. Wir tappen im Dunkeln. Wer steckt hinter dem Attentat? Sicher werden die Geheimdienste der Welt jetzt ein Lügengebäude errichten, um so die unabhängigen Medien in die Irre zu führen. Ich bin verwirrt. Wild schwirren die Spekulationen durch meinen Kopf. Ich sinne über die Verantwortung für Leben und Tod der anderen nach, über die eigene Verantwortung für gerade entstandenes Leben.

Kurt versichert mir, mich sehr gut zu verstehen. Ich aber glaube, dass Kurt in Wahrheit entsetzt darüber ist, dass sich hinter meiner vorgegebenen Frömmigkeit abgrundtiefer Leichtsinn verbirgt. Kurt behauptet, gleichfalls schon so manches Abenteuer bestanden zu haben. Seine Geschichte mit einer Pfarrerstochter, die er auf dem Schreibtisch des Superintendenten vernascht habe, der inzwischen Bischof geworden sei und sich für die Kassation des Urteils eingesetzt habe, scheint mir unglaubwürdig zu sein. Manchmal denke ich, Kurt habe die Geschichte nur erfunden, um aufzuschneiden oder dem Gespräch eine komische Wende zu geben, um meine quälenden Schuldgefühle zu lindern. Und natürlich entbehrt die Vorstellung vom korpulenten und nicht gerade sportlich zu nennenden Kurt mit der Pfarrerstochter auf dem Schreibtisch liegend nicht der Komik.

Als ich mein Gewissen bereits erleichtert habe und versuche, mich aus den Verstrickungen selbstanklagender Beichte durch Themenwechsel zu lösen, entdecke ich vor dem Fenster die neugierigen Blicke unseres Spezialfreundes, des Oberwachtmeisters Fensterschreck, wie wir ihn nennen, weil er die Gabe besitzt, immer dann am Fenster aufzutauchen, wenn sich in der Baracke Dinge abspielen, die gegen die Lagerordnung verstoßen. Angst haben wir keine vor ihm, obwohl der Aufenthalt in einer anderen Wohnbaracke als der eigenen strengstens verboten ist.

Wir können uns des Verdachts nicht erwehren, dass er um die Freundschaft der ihm anvertrauten Strafgefangenen buhlt oder aber, dass ihm zumindest daran liegt, von der Knastologenaristokratie, zu der die Politischen seines Erachtens gehören, Anerkennung zu ernten. Nachdem er sich in langen Tiraden über meine laxe Haltung gegenüber der Lagerordnung ergeht, gipfeln die Vorhaltungen des Erziehers darin, dass er betont, mich, den Strafgefangenen 724 aus 3, um nichts sonst als um meine Redegabe zu beneiden. Und im Übrigen studiere nicht nur er, der Genosse Erzieher, Pädagogik, sondern auch seine Frau habe sich dem Studium der Pädagogik gewidmet. Besonders einprägsam ist seine ungewöhnliche Betonung des Wortes Pädagogik auf der letzten Silbe. Es will scheinen, als wolle er den Eindruck erwecken, dass er des Griechischen mächtig sei und dies durch die Betonung auf der letzten, der deutschen, Silbe unterstreichen wolle.

Die gute und angenehme Gesellschaft, in der ich mich hier befinde, kann dennoch nicht vergessen machen, dass ich eingesperrt bin, kann nicht die scharfen Hunde im Laufgang zwischen den beiden Zäunen vergessen machen, wovon einer unter Strom stehen soll, kann nicht die Wachtürme vergessen machen, die Tag und Nacht von Posten mit Maschinenpistolen besetzt sind, kann nicht die Wachen mit Maschinenpistolen über der Schulter und Hunden an der Leine vergessen machen, die beim Appell hinter den Strafgefangenen stehen, um die militärische Einhaltung der Ordnung zu sichern, kann nicht die vielen kleinen und größeren Unannehmlichkeiten vergessen machen, denen ich durch die Feindseligkeiten der Kriminellen ausgesetzt bin, mit denen ich Tisch und Etagenbett teile, kann nicht vergessen machen, dass, wenn auch mit geringem Erfolg, versucht wird, uns einer Gehirnwäsche zu unterziehen.

Als sich ein schlecht vorbereiteter und stotternder Redner im Speisesaal erkühnt, die Strafgefangenen in Marxismus-Leninismus zu unterweisen, verlasse ich empört und angewidert den Saal. Als Einziger. Der Redner hört auf zu stottern, starrt entsetzt in den Saal, hat Angst, dass sich weitere Strafgefangene von ihren Plätzen erheben und das Ungeheuerliche wagen, meinem Beispiel folgen könnten. Die Mitgefangenen triumphieren innerlich, dass einer von ihnen sozusagen symbolisch für alle das tut, was auch sie gern tun würden.

Draußen werde ich von einem Erzieher, der in kluger Voraussicht vor dem Saal Posten bezogen hat, nach meinen Beweggründen für das vorzeitige Verlassen der Religionsstunde befragt und ob ich nicht bereit sei zurückzugehen. Bin ich nicht. Mein aufmüpfiges Verhalten, das schon meine Mutter zu Beanstandungen veranlasst hat, verschafft mir im Lager den Ruf von Unerschrockenheit. Auch meine ungewöhnliche Eingabe, in der ich beantrage, mir das Lateinlehrbuch und die Bibel aus meinen Effekten auszuhändigen und dafür Sorge zu tragen, dass ich im Zuge der verfassungsmäßig garantierten Freiheit der Religionsausübung die Möglichkeit erhalte, einem sonntäglichen Gottesdienst beizuwohnen, nötigt den Mitgefangenen Respekt ab, auch wenn sich dem gelegentlich ein Anflug von Lächeln beimengt.

Die Lagerleitung hüllt sich in Schweigen.

Bei einer Gelegenheit, als meine Brigade am Wochenende unter scharfer Bewachung zu einem Ernteeinsatz auf ein Feld in der Umgebung gefahren wird, habe ich einen Brief bei mir, in dem ich meinem väterlichen Freund, einem Pfarrer aus Löcknitz, ausführlich über das Lagerleben Bericht erstatte. In einem Moment, da ich mich unbeobachtet fühle, drücke ich den Brief einem gutmütig wirkenden Traktoristen in die Hand. Dessen ehrlich dreinblickende Augen scheinen mir zuzuraunen, dass das beidseitig eng beschriebene Blatt Papier seinen Adressaten erreichen wird. Sprechen können wir nicht miteinander, das ist verboten.

1 339,67 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
391 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783954628599
Издатель:
Правообладатель:
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