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Frömmigkeit

Noch vor Prozessbeginn hatte ich per Anhalter eine Rundreise quer durch die DDR unternommen, mit vielen Menschen gesprochen, ihnen von meinen ethischen Vorstellungen erzählt. Viele schüttelten verwundert und ungläubig den Kopf, andere hörten mir, dem gerade erst den Kinderschuhen Entwachsenen, interessiert zu und erklärten, wenn sie in meinem Alter wären, würden sie das Gleiche tun und nicht noch einmal in den Krieg ziehen.

Warum muss ich immer etwas tun, was Anderen imponiert oder missfällt? Entspringt dieses Verhalten nicht gar einem an Krankheit grenzenden Geltungsbedürfnis?

Warum setzen sich Menschen feindlichem Kugelhagel aus? Um den Feind zu töten, zu sagen, hier bin ich, erschießt mich, ich bin ein Held? Doch vielleicht bin ich unverwundbar und gelange vom Schlachtfeld als strahlender Held zurück in die Heimat?

Eigenartig, dass ich auf diesen Fahrten nie Männer traf, die sich dazu bekannt hätten, durch ihre Schüsse Feinde erfolgreich ins Jenseits befördert zu haben. Wie aber hatte es zu den Millionen von Kriegstoten kommen können, wenn doch niemand getroffen haben wollte? Diese mir perfekt vorkommende Verdrängung der Schuld an den Kriegsschrecken, der persönlichen Verantwortung am massenhaften Morden bestärkte mich in der Überzeugung, mich unter gar keinen Umständen im Handwerk des Tötens ausbilden zu lassen.

Oder war ich einfach nur ein Drückeberger, ein Angsthase, der auf keinem Feld der Ehre sterben wollte? Oder waren es die als Kleinkind erfahrenen Gräuel des Krieges, die sich in mein Unterbewusstes geschossen und für spätere Kriegsspiele untauglich gemacht hatten?

Ein hoher Offizier, der mich in seinem Wolga von Berlin nach Dresden mitnahm, hörte aufmerksam zu und sagte zum Abschied, mein Denken sei sehr wahr und schön, in die Tat umsetzen allerdings dürfte ich diese Gedanken nicht, denn sie widersprächen den Gesetzen der DDR. Sollte ich mich nicht in letzter Minute eines Besseren besinnen, müsste ich eben die Konsequenzen zu spüren bekommen. Früher oder später würde ich schon noch vernünftig werden und dem Staat geben, was des Staates sei. Ich entgegnete darauf, er werde sich wundern, aber Denken und Tun seien für mich eins.

In Dresden suchte ich die Adventisten auf. Von ihnen versprach ich mir psychische Unterstützung. Sie waren nett, aber erstaunlich zurückhaltend.

Vielleicht dachten sie ja, ich sei ein Spitzel, ein Provokateur. Daran musste man in solchen Zeiten denken. Besonders im kirchlichen Raum. Die Spitzel schlüpften in verschiedene Gewänder. Zu erkennen waren sie nur selten. Wie der Pudel, den Faust heraufbeschwört, so konnten auch sie jede beliebige Gestalt annehmen. Trotz des hinter einem freundlichen Gesicht gut verborgenen Misstrauens hörte mir der Geistliche zu und verwies mich an einen Prediger in Bautzen, der befasse sich mit dem Problem der Wehrdienstverweigerung. Ihn solle ich aufsuchen. Er könne mir mit Rat und Tat zur Seite stehen. Auch wenn ich ins Predigerseminar aufgenommen werden wolle, sei der Prediger der richtige Ansprechpartner.

Dem Prediger in Bautzen gefiel mein Vegetariersein. Allerdings machte er mich darauf aufmerksam, dass ich die Verweigerung nur halbherzig betriebe, eigentlich dürfte ich auch keinen Fisch, keine Eier und keinen Käse essen und auch keine Milch trinken.

Der Prediger, dessen Frau und fünf kleine Kinder einen Rahmen bildeten, wie er einst in der protestantischen Kirche mit dem Pfarrhaus als Lebens- und Kulturzentrum der Gemeinde heimisch gemacht worden war, führte, so hätte man vor hundert Jahren gesagt, ein gottgefälliges Leben. Er war ein ruhiger und angenehmer Mensch, ein aufmerksamer Zuhörer.

Als Autoschlosser war er sehr beliebt gewesen. Sein Problem hatte darin bestanden, dass er als Adventist nicht bereit war, am Sabbat zu arbeiten. So führte ihn, der alles andere als der Typ eines Intellektuellen, eines Theologen oder Wissenschaftlers war, sein Weg fast zwangsläufig ins Predigerseminar.

Einzig das Pfarrhaus fehlte. Stattdessen gab es eine beengte Wohnung, in der nicht nur ich als Besucher willkommen war. Abends nahm mich der bärenstark wirkende Prediger auf seinem Motorrad mit nach Löbau, wo er in einem Saal seiner Gemeinde eine Bibelstunde hielt.

Während ich in den Beiwagen kletterte, stülpte er sich eine russische Fliegermütze über und setzte eine Motorradbrille auf. Auch im Winter bei spiegelglatter Straße fuhr der Prediger in diesem Gespann über die Dörfer, um seine Schäfchen zu betreuen.

Der Besuch bei den Adventisten verleitete mich zum Heucheln. Alle waren so schrecklich nett. Obwohl ich die naiv anmutende Bibelbetrachtung nicht verinnerlichen konnte, täuschte ich tiefe Frömmigkeit vor. Dabei überzeugten mich die vermittelten Glaubensinhalte keineswegs. Vielmehr hatte mich die Atmosphäre des Zusammengehörigkeitsgefühls, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte, in ihren Bann gezogen.

Der Prediger lud mich ein, ihn bald wieder zu besuchen. Dann werde man sehen, ob ich geeignet sei, in seine Fußstapfen zu treten.

Noch wusste ich nicht, weshalb ich mich mit dieser christlichen Sekte nicht anfreunden konnte. Wahrscheinlich war es die geistige Enge, die mich nicht nur bei den Adventisten befremdete, sondern bei den anderen christlichen Glaubensgemeinschaften ebenso wie an der Weltkirche des Marxismus.

Im Laufe der folgenden Jahre, in denen ich mich auf dem nie enden wollenden Weg zur Wahrheit befand, entdeckte ich das Alte Testament als eine abendländische Glaubensquelle, die ich in ihren Grundzügen anzunehmen bereit war. Von der christlichen Kirche fühlte ich mich betrogen, hatte sie mir doch vorgemacht, dass Altes und Neues Testament eine Einheit bildeten und, so meinte ich, verschwiegen, dass das Neue Testament ein Werk begabter Epigonen sei.

Lichte Berggipfel und finstere Abgründe

Anfang Oktober 1963 etwa darf ich erneut mein Bündel schnüren und es mir in einer grünen Minna zusammen mit siebzehn weiteren Strafgefangenen auf Holzbänken bequem machen. Handschellen werden uns keine angelegt. An den beiden Bankenden vor der hinteren Tür sitzen zwei Vopos mit Maschinenpistolen, wie um zu unterstreichen, dass Fluchtgedanken besser in das Reich der Träume zu verbannen seien.

In der Mitte der Ladefläche befindet sich ein Loch, das ins Visier zu nehmen ist, um die Notdurft zu verrichten. Trotz höchsten Dranges bin ich unfähig, mich während der Fahrt über schadhafte Landstraßen zu erleichtern. Als vor dem Senftenberger Gefängnis endlich ein Zwischenstopp eingelegt wird, kann ich das Wasser fast nicht mehr halten. Die Wut über die Erniedrigung macht mich rasend. Ich schreie die Bewacher an, ich bestünde darauf, sofort eine Toilette aufsuchen zu dürfen. Sollten sie meiner Aufforderung nicht nachkommen, würde ich einen Riesenskandal machen und mich beschweren.

Zu meiner großen Überraschung fragen mich die Bewacher, weshalb ich einsäße. Meine Antwort, die darauf schließen lässt, dass ich ein Politischer bin, verfehlt ihre Wirkung nicht, auch wenn jeder Gefängniswärter in Seminaren gelernt hat, dass es in seinem Staat keine politischen Gefangenen gibt, Kriminelle leider ja, aber auch das sei nach offizieller Meinung ein Problem, das nach Abschluss des sozialistischen Aufbaus nicht mehr existieren werde.

In Begleitung eines Bewachers, der seine Maschinenpistole über die Schulter gehängt trägt, wohl um mich nicht auf dumme Gedanken kommen zu lassen, darf ich als einziger Häftling des Transports eine Toilette aufsuchen.

Mein hysterischer Wutausbruch hat sich gelohnt. Ein wenig peinlich aber ist es mir schon, denn die Drohungen, die internationale Öffentlichkeit auf die Verhältnisse im DDR-Strafvollzug aufmerksam zu machen, hätte ich schwerlich einlösen können.

Die Fahrt ins Ungewisse geht weiter. Ich habe keine Ahnung, welche die vorläufige Endstation sein wird. Jemand, der schon mehrere Strafen abgesessen hat, meint, wir steuerten das Haftarbeitslager Schwarze Pumpe an, das bei Spremberg gelegene sorbische Čorna Pumpa, mit 14.000 Beschäftigten das größte Braunkohlenkombinat der DDR. Im Tagebau wird hier Braunkohle abgebaut. Um das Schienennetz des Kombinats in Schuss zu halten und zu erweitern und überhaupt, um die Industrialisierung des Sozialismus voranzutreiben, braucht es viele Arbeitskräfte. Um Planung und Lenkung des Arbeitskräfteflusses zu erleichtern, sind die Reserven der kriminellen Heerscharen eine nicht zu unterschätzende Hilfe.

Überall im Land wird der Archipel Gulag ausgebaut, eine, mit der Verbannung nach Sibirien, zaristische Erfindung, die unter der genialen Führung des weisesten aller Führer, eines ehemaligen Klosterschülers und Posträubers, eines Massenmörders, weiterentwickelt worden ist und ihre wirkliche Blütezeit erlebt hat.

Von all dem aber weiß ich damals nichts, höchstens spüre ich die mit dem Eingesperrtsein verbundene Ohnmacht, die Ohnmacht des im Käfig allmählich wahnsinnig werdenden Tigers.

Jawohl, wir fahren tatsächlich nach Čorna Pumpa. Werden von einem feisten Lagerältesten empfangen, der Sträflingskleidung trägt und sich aufspielt, als sei er der Lagerkommandant persönlich. Dabei ist er nur ein Kapo mit weitgehenden Befugnissen. Mir aber flößt er Angst und Respekt zugleich ein. Seine rundliche Gestalt und das rötlich aufgedunsene Gesicht deuten darauf hin, dass der ehemalige Major der Nationalen Volksarmee schon bessere Zeiten gesehen hat.

Ohne dass er angesichts seiner Immunität gegenüber literarischen Werken jemals gefährdet gewesen wäre, Figuren eines verlockenden Offizierslebens aus einschlägigen Romanen der Weltliteratur zu kopieren, hatte er nach dem Dienst einem Leben gefrönt, wie es der sozialistischen Moral keineswegs entsprach. Zusammen mit anderen kampferprobten Genossen ließ er junge Mädchen nackt auf Tischen tanzen, um sich anschließend an ihnen zu vergehen.

Als gutem Soldaten und Genossen hätte ihm die Partei diese feudalistisch-bürgerlichen Ausschweifungen vielleicht nachgesehen oder gar verziehen, hätte er nicht die Dummheit begangen, die fünfzehnjährige Tochter eines Parteisekretärs aus der Stadt betrunken zu machen und zur allgemeinen Freude seiner Kampfgefährten gleichfalls auf dem Tisch tanzen zu lassen.

Präziser formuliert, die mit derartigen Verfehlungen befassten Organe hätten aus Kameraderie vielleicht so getan, als wüssten sie nichts vom wüsten Leben ihres Genossen. Aber die Empörung des in Mitleidenschaft gezogenen Parteisekretärs ließ eine diskrete Regelung der Angelegenheit nicht zu.

Viele Jahre später ging er, der nach verbüßter Haftstrafe wieder ein nützliches Mitglied der sozialistischen Gesellschaft geworden und sogar zum Studium delegiert worden war, als diplomierter Psychologe ganz in seinem Beruf und in seiner Familie auf. Beim MfS, dem Ministerium für Staatssicherheit, bildete er Stasinachwuchs in der Kunst aus, Informanten anzuwerben. Nach der Wende verstand es sich von selbst, dass er nach eigenen Angaben seinen hehren Dienst im Interesse der Menschheit einzig zwecks Verhinderung von Schlimmerem geleistet hatte.

Jetzt nun hält der Respekt einflößende Lagerälteste im Namen der Lagerleitung eine kurze Ansprache, in der er die Neuzugänge auffordert, durch gute Arbeit im Tagebau unter Beweis zu stellen, dass sie wieder nützliche Glieder der Gesellschaft werden und auf diese Weise dem Umerziehungsprozess zu vollem Erfolg verhelfen wollen. Wer sich einer Umerziehung in den Weg stelle, dem könne es widerfahren, dass er sich nach seiner Entlassung aus der Haft bald wieder hier einfinde. Und wer gar an Flucht denke, den könnten die scharfen Hunde, die Tag und Nacht zusätzlich zu den Posten auf den Wachtürmen in den Laufkorridoren patrouillierten und nur auf eine zusätzliche Fleischration warteten, leicht zerfetzen.

Nach einem Duschbad verlieren die Strafgefangenen ihre bürgerliche Identität. Kleidung und Namen sind in der Effektenkammer abzugeben. Stattdessen erhalte ich Sträflingskleidung mit gelben Streifen, worin ich mich fast wie ein General fühle, und eine Nummer, die ich von nun an sein werde: 724/3, genauer: 724/63.

Wenn ich von einem Erzieher, so nennen sich die Bewacher, etwas will, dann habe ich militärisch strammzustehen und Meldung zu erstatten: „Strafgefangener 724 aus 3 meldet!“

Die Häftlinge sind in fünf Schlafbaracken mit jeweils etwa siebzig dreistöckigen Betten untergebracht. Haftarbeitslager wird das Freiluftgefängnis genannt, dessen Ähnlichkeit mit Buchenwald mich verblüfft, auch wenn die Inschrift „Jedem das Seine“ fehlt und es nicht als Konzentrationslager bezeichnet wird, was es ja eigentlich durchaus ist. Allerdings verbindet sich mit letzterem Begriff der in allen Ecken lauernde Tod. Der Tod in Schwarze Pumpe ist keineswegs allgegenwärtig. Ein nicht zu übersehender Unterschied! Aber der Lagergrundriss erinnert an die „Frommen in der Hölle“, wie einer ihrer Leidensgenossen die nach Buchenwald verbrachte Geistlichkeit nannte, die sich bei Hitler unbeliebt gemacht hatte.

So ein Frommer, der sich einem Diktator widersetzt, will auch ich sein, weshalb ich kein Fleisch esse und zu den manchmal kargen Mahlzeiten inbrünstig bete und Gott für all das, was er mir Gutes getan, danke, aber auch für die Heimsuchungen, die ich zu ertragen habe.

Im riesigen Speisesaal, in dem es Platz für tausend Gefangene gibt, befindet sich auch ein Kiosk. Wöchentlich einmal darf man für ein paar lumpige Mark, die einem für seine Arbeit gezahlt werden, einkaufen. Angeboten werden Zigaretten, Seife, Florena-Creme, in Anlehnung an die westdeutsche Niveacreme in einer blau-weißen Dose, Zahnpasta und Kekse. An Zigaretten steht dem Strafgefangenen pro Einkauf nur eine Schachtel zu. Aber wenn du Walter, den Chef des Einkaufs kennst, verlieren die restriktiven Anordnungen der Knastoberen ihre Wirkung.

Walter ist neben dem Lagerältesten der mächtigste Mann unter den Gefangenen. Außer dem Kiosk verwaltet er, gemeinsam mit einem in Ungnade gefallenen Stasimann, die gesamte Gefangenenkartei.

Die Bewacher, die mit dem Schreiben schon in ihrer Schulzeit Schwierigkeiten hatten, delegieren gern all den schriftlichen Kram, der ihnen wenig Freude bereitet und höchstens Kopfschmerzen macht. So kommt es, dass Walter in der Schreibstube sitzt und über die Neuzugänge genauestens informiert ist, vor allem über das Strafmaß. Meist weiß er sogar, wer unter den Häftlingen ein Politischer und wer ein Krimineller ist. Selbst Wühlmäuse, die als Politische eingeschleust werden und als Spitzel fungieren sollen, erkennt er an verdächtigen Lebensläufen und warnt vor ihnen.

Walter, dessen blaugraue Augen immer strahlen und alles zu durchschauen scheinen, dessen blondes Haar glatt nach hinten gekämmt ist und der selbst in seiner stets akkurat sitzenden Sträflingskleidung, die vom Maßschneider kommen könnte, wie ein Erbe aus reichem Haus wirkt, hüllt sich in einen dichten, aus Geheimnissen gewebten Schleier. Es heißt, er habe Menschen von Ost nach West geschleust und stecke familiär in Schwierigkeiten.

Neunzehn Jahre älter als ich, könnte er fast schon Enkel haben, zumindest dann, wenn er ähnlich früh wie ich einem süßen Leben gefrönt hätte. Allein schon wegen des erheblichen Altersunterschieds besteht zwischen uns ein gewisser Abstand, der Fremdheit bei gleichzeitigem Zutrauen und Respekt bewirkt.

Das Verbindende zwischen uns mag darin bestehen, dass wir beide eine Rolle zu spielen versuchen, der wir nicht in allen Punkten gewachsen sind. Die Rollen – er die des Partisanen, der der sozialistischen Staatsmacht unter den wachsamen Blicken der Stasi die Stirn bietet, ich die des Frommen – spielen wir mit wechselndem Erfolg. Doch wir führen ein Doppelleben, bekennen uns nur zu der einen Seite unseres Lebens.

Noch weiß ich kaum etwas von Walter. Lichte Berggipfel und finstere Abgründe liegen dicht beieinander.

Seit drei Monaten bin ich Vater einer Tochter, und die Geburt des zweiten Kindes soll in einem Monat erfolgen.

Ich habe das Gefühl, gute Gründe zu haben, mit meinen Erfolgen beim schwachen Geschlecht nicht zu prahlen. Der kaum beherrschbare Geschlechtstrieb will mit dem Drängen nach Gottes Nähe nicht zusammenpassen. Ich trage eine Maske, spiele den romantisch verklärten Jüngling, der reinen Gewissens über den Dingen steht. Mein in Wirklichkeit schlechtes Gewissen ist offensichtlich das protestantische Element in mir, der Anspruch, mit all meinen Taten vor Gott bestehen zu wollen, für all mein Tun verantwortlich zu sein. Ein unerfüllbarer und deshalb unmenschlicher Anspruch, der bei vielen zu Verlogenheit, seelischen Erkrankungen und Selbstmord führt. Walter schanzt mir entgegen den Vorschriften erhöhte Zigarettenrationen zu. Binnen weniger Tage bringt er mich mit einer kleinen Gruppe von politischen Strafgefangenen zusammen. Die acht Stunden Gleisbau in einer Brigade, der ich zugeteilt worden bin, erscheinen mir plötzlich weniger schlimm als in den ersten Tagen, als ich dachte, die Last der Schwellen und Schienen würde meine Kraft übersteigen.

Im Bericht eines Freundes über ein KZ der Nazis steht zu lesen, dass die Schwellen von einem Erwachsenen und einem Halbwüchsigen zu zweit geschleppt werden mussten. Die beiden seien unter der Last schier zusammengebrochen und hätten Übermenschliches geleistet. Der Lehrer hat die Strapazen und Schikanen der SS nicht überlebt, der Vierzehnjährige dagegen, der 1945 von den Amerikanern befreit worden ist und mehr als drei Jahrzehnte später, nachdem er der kommunistischen Partei wegen einer allmählich sich einstellenden Gottgläubigkeit den Rücken gekehrt hat und nach Israel gegangen ist, hat in einem bewegenden Buch versucht, seine schreckliche Vergangenheit aufzuarbeiten.

Die sozialistischen Strafgefangenen tragen die Schwellen, die um die vier Zentner wiegen mögen, zu viert. Vorn und hinten werden die Tragezangen zu beiden Seiten von je einem Gefangenen umklammert. Auf Kommando wird die Schwelle angehoben. Gewitzte Kriminelle, seit Jahren Profis im Gleisbau, wissen genau, wie sie sich im welligen Gelände zu bewegen haben, damit sich die Last überwiegend auf nur zwei der Träger verteilt. So manches Mal, wenn ich unter dem plötzlichen Gewicht die Zähne zusammenbeiße, spüre ich, dass die Grenzen meiner Leistungsfähigkeit erreicht sind.

Todesangst habe ich keine. Nur das Gefühl der Ohnmacht, das Gefühl des Ausgeliefertseins, erinnert mich an die Schilderung des Freundes. Zwei Posten, bewaffnet mit Maschinenpistolen, stehen auf einem Hügel und bewachen die Verbrecher. Sollte sich einer von ihnen zur Flucht entschließen, würde er nicht weit kommen. Die Kugeln aus den MPs oder die Wachhunde würden ihn schnell einholen und stoppen.

Zur Arbeit werden wir nicht von den Posten angetrieben, das besorgen die Brigadiers. Mein Brigadier, ein rothaariger, sommersprossiger Wichtigtuer, ein ehemaliger Leutnant der NVA, etwa vier bis fünf Jahre älter als ich, hat es auf mich besonders abgesehen, schikaniert mich, wo er nur kann, teilt mich zu den schwersten Arbeiten und zum unangenehmsten Trupp ein.

Als ich mich über die Schikanen des rothaarigen Ex-Leutnants bei meinen neuen Freunden beklage, holen die Erkundigungen ein, um zu überlegen, wie sie den Brigadier dazu bewegen könnten, sich anständiger zu verhalten.

Wie ich von Walter erfahre, muss er auch bei der Armee für seine Brutalität berüchtigt gewesen sein. Aber in Ungnade gefallen ist er nicht deshalb, sondern wegen seiner schrägen Neigungen, die er gelegentlich ausgelebt haben soll. Jedenfalls soll er sich an einem Muschkoten, den er sich zuvor durch unmenschlichen Drill gefügig gemacht hatte, vergangen haben. Derartiges duldete die Moral der Truppe nicht, und der Paragraf 175 schrieb eine Ahndung solcher Verirrungen zwingend vor.

Der freundliche Hinweis, dass die Hintergründe, die zu seiner Verhaftung geführt hätten, genauestens bekannt seien, und dass es ihm sicher nicht angenehm sein würde, im Lager als Hinterlader enttarnt zu werden, führt dazu, dass ich von nun an dessen Menschlichkeit zu spüren bekomme. Wunschgemäß verhilft er mir sogar dazu, einer anderen Brigade zugeteilt zu werden.

Ähnlich wie der Lagerälteste genießt auch der Rothaarige das Vertrauen der Erzieher, für die er nur ein verirrtes Schaf ist, einer der Ihren, der sich lediglich ungebührlich benommen hat und nun eine Weile in der Ecke auf Erbsen knien muss, von wo er bald wieder hervorgeholt werden wird, um erneut mit allen Rechten, Pflichten und Privilegien der sozialistischen Menschengemeinschaft ausgestattet zu werden. Für seinesgleichen sind die Erzieher im Grunde genommen gar nicht zuständig. Im Gegenteil, die vorübergehend in Ungnade Gefallenen sind Bestandteil des pädagogischen Gebäudes, sie sind die Klammer zwischen Strafgefangenen und Strafvollzug, sie verfassen Berichte und Einschätzungen über die Entwicklung, die einer im Umerziehungslager nimmt. Beliebt sind sie nur bei der Obrigkeit, denn die Sträflinge haben von ihnen nichts Gutes zu erwarten. Trotzdem sind sie keine Spitzel im eigentlichen Wortsinn, denn ihre Horchposten haben sie nicht im Verborgenen errichtet. Die echten Spitzel sind gut getarnt. Erst eine Akte, die mir durch die Irrungen und Wirrungen der Geschichte Jahrzehnte später in die Hand fällt, klärt mich darüber auf, dass gute Spitzel zum Freundeskreis gehören müssen.

Vor Schikanen brauche ich in der anderen Brigade, der ich bald darauf zugeteilt werde, keine Angst zu haben, auch wenn die Zwänge hier, denen man sich um einer guten Atmosphäre und Kameradschaft willen zu unterwerfen hat, keineswegs angenehm sind. Der Brigadier pflegt beste deutsche Tugenden und versucht, die ohnehin schon hohe Arbeitsnorm um wenigstens fünfzig Prozent überzuerfüllen.

Die Leistung wirkt sich auf die Höhe des Eigengeldes aus und verspricht höhere Zuteilungen an Zigaretten.

Der Brigadier ist ein schweigsamer, beharrlicher Bauernjunge aus Sachsen. Als er sich nach dem Tod seiner Eltern und dem erzwungenen Eintritt in die LPG entschlossen hatte, dem Land seiner Väter den Rücken zu kehren, kaufte er sich ein Fernglas der Marke Zeiss und eine Bahnkarte nach Magdeburg. Von da aus begab er sich über einsame Wege in Richtung Grenze. Im Reisegepäck Proviant und Wasser für eine Woche, Toilettenpapier, fein säuberlich aus dem Neuen Deutschland auf ein handliches Format zurechtgeschnitten, und eine alte Militärkarte von der Gegend zwischen den beiden deutschen Staaten.

Nachdem er die gefährlichen und kaum sichtbaren Hindernisse auf dem Weg zur Grenze überwunden hatte, befand er sich mitten im Sperrgebiet, wo es von Grenzern, Stasi, freiwilligen Grenzhelfern und Spitzeln aus Überzeugung, auch halbwüchsigen, nur so wimmelte.

Die Gefahr, die von ihnen ausging, war ihm bewusst. Deshalb robbte er nur nachts voran, tagsüber versteckte er sich unter einem Busch, in einem Graben oder hinter einem Baum. Meter um Meter näherte er sich den Grenzsicherungsanlagen. Als er diese am fünften Tag fast schon überwunden hatte, wurde er von einer Patrouille entdeckt, gerade als er sich ein letztes Mal in der alten Heimat zu entleeren gedachte.

Alles andere, was dann kam, kommen musste, Verhaftung, Verhöre, Prozess, Verurteilung, darin unterscheidet sich hier kaum einer vom anderen. Abgesehen von kleinen Abweichungen, die für den einzelnen manchmal von großer Bedeutung sein können, ähneln sich die Fälle erschreckend. Einmal in die Mühlen der sozialistischen Umerziehungsjustiz geraten, spielt es nur noch eine untergeordnete Rolle, ob du ein Krimineller oder ein Politischer bist.

Nach der Verurteilung bist du nur noch eine Nummer, und nach der Entlassung, die möglichst vor der Verbüßung der Gesamtstrafe erfolgen sollte, damit du wegen der Bewährung, zu der die Reststrafe ausgesetzt wird, besser erpressbar und kontrollierbar sein wirst, erhältst du deinen Namen zwar zurück, aber deine Sträflingsnummer wird dich von nun an ein Leben lang begleiten, wird ein fester Bestandteil deiner Kaderakte sein, die den Behörden bei einem eventuellen Wohnortwechsel hinterhergeschickt wird.

Zur neuen Brigade gehört auch Kurt, an den ich mich fortan klammere. Kurt, Jahrgang 1933, stammt aus einer schlesischen Kleinstadt. Die Schuld der Väter, die Schuld der Mütter, die dem Wahnsinn nicht Einhalt geboten haben, stattdessen stolz waren auf die Heldentaten ihrer Söhne, die auf den Schlachtfeldern Europas die Menschlichkeit niedermähten, die Verbrechen eines einzelnen, eines schnauzbärtigen Gefreiten aus der k.u.k. Monarchie, der sich diabolisch für die ihm widerfahrenen Verfehlungen eines vermeintlich jüdischen Großvaters an einem ganzen Volk, ja, an der ganzen Welt rächte und sich dabei auf die Mordlust mehrerer Millionen Helfershelfer verlassen konnte, haben ihn als Zwölfjährigen dazu gezwungen, seine Heimat mit einem kleinen Bündel in der Hand für immer zu verlassen.

Die Verhaftung hat Kurt Ende 1961 in Greifswald ereilt, wo er als Student der Germanistik kurz vor dem Staatsexamen stand.

Ein Verbrechen im herkömmlichen Sinne, etwas als Straftat zu Würdigendes, begangen hatte er nicht, es sei denn sein loses Mundwerk, seine überschäumende Fantasie, die in Worten hervorsprudelte und sich witzig der Umwelt mitteilte, und seine Graphomanie, die in einer reichen Korrespondenz mit Schriftstellern, Philosophen und Theologen aus aller Herren Länder sowie Politikern der schlesischen Landsmannschaft ihren Niederschlag fand, wären etwas gewesen, was die Kriminalpolizei hätte beschäftigen müssen.

Als kriminell eingestuft wurde vor allem der Tatbestand des grenzüberschreitenden Briefverkehrs, nicht etwa in Richtung Bruderländer, nein, vorwiegend in Richtung kapitalistisches Ausland. Auch war es der Wachsamkeit der Behörden keineswegs entgangen, dass Kurt, bevor die Errichtung des sozialistischen Schutzwalls in Berlin verschiedensten feindlichen Umtrieben ein Ende gesetzt hatte, mit Vorliebe zu Veranstaltungen der Vertriebenenverbände ins westliche Ausland gereist war und dort anrüchige Kontakte mit dem Klassen- und Friedensfeind, mit den ewig Gestrigen, den ewigen Kriegstreibern und Revanchisten geknüpft hatte. Aber auch Briefkontakte zu den bei der Mutter Partei in Ungnade gefallenen marxistischen Philosophen Georg Lukács und Ernst Fischer, zu dem suspekten Existenzphilosophen Jean-Paul Sartre, zu, gemessen an weltliterarisch bedeutenden und humanistisch integren DDR-Autoren, belanglosen Schriftstellern wie Heinrich Böll, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Friedrich Thorberg, zum katholischen Theologen Hans Küng, und die Aufzählung berühmter Namen ließe sich noch lange fortsetzen, wurden dem Studenten der Germanistik verübelt.

Das Verleihen von im Ausland erschienenen Büchern an Professoren, Freunde und Kommilitonen war den Genossen der Staatssicherheit ein Dorn im Auge. Aber am meisten schmerzten die Scherze, Witze, Anekdoten und kabarettistischen Einlagen, in denen der vom Klassenfeind gesteuerte Student die real existierende DDR verächtlich machte. Das ging an die Substanz. Der schwarzhaarige Brillenträger, der das Selbstverständnis der DDR nach dem 13. August 1961, dem Tag, an dem dank den weisen Beschlüssen in den Politbüros von Moskau und Ostberlin der Weltfrieden gerettet, die Gefahr eines dritten Weltkrieges gebannt worden war, in seinen Grundfesten erschüttert hatte, musste dringend gemaßregelt werden.

Kurts Straftaten wurden vom Gericht in Greifswald mit sieben Jahren Zuchthaus geahndet. In Bautzen, wo er den ersten Teil seiner gerechten Strafe verbüßte, machte er Bekanntschaft mit Mördern und schloss Freundschaft mit Georg Dertinger, dem ersten Außenminister der DDR, der schon lange aus dem Verkehr gezogen worden war. In der Festung Torgau freundete er sich mit einer Gruppe aus Ilmenau an, deren Mitglieder sich um einen ehemaligen Staatsanwalt geschart hatten. Der Staatsanwalt, wegen seiner roten Nase Schnupprich genannt, ein Fabrikant, der bis zur Verhaftung in seinem Betrieb fünfhundert Arbeiter beschäftigt hatte, und ein Diplomingenieur hatten sich das abenteuerliche Ziel gesetzt, die Pankower Regierung zu stürzen und die Macht zu übernehmen, um der Demokratie zum Sieg zu verhelfen.

Nach ihren Vorstellungen wäre es schon in den fünfziger Jahren zu einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten gekommen, und vielleicht würden die Deutschen auch heute noch Johannes R. Bechers Nationalhymne singen, in der schon damals von einem „Deutschland einig Vaterland“ die Rede gewesen ist. Die Dreierbande aus Ilmenau hatte Glück gehabt. Denn wären sie ob der ins Reich der Märchenwelt zu verbannenden Fantasien von der Staatsmacht nicht insgeheim belächelt worden, hätten sie den Mauerbau sicher nicht mehr erleben dürfen.

Nachdem sich mehrere evangelische Bischöfe für Kurt eingesetzt hatten, wurde das auch für das Rechtsempfinden der DDR weit überzogene Urteil kassiert und in eine dreieinhalbjährige Gefängnisstrafe umgewandelt. Entsprechend einer Umrechnungsformel von Zuchthaus in Gefängnis muss Kurt für seine Unbotmäßigkeit nur mit insgesamt zweieinhalb Jahren Haft bezahlen. Als ich ihm begegne, hat er noch etwa acht Monate vor sich, meine Gesamtstrafe.

Die bisherige Umerziehung ist für den Dreißigjährigen nicht ohne Folgen geblieben. Depressionen quälen ihn, Zukunftsängste. Was wird er tun, wenn er aus dem Lager entlassen wird? Ein Studienabschluss gelangt in unerreichbare Ferne.

Ich glaube, eine leise Ahnung davon zu haben, was die DDR-Oberen an meinem Freund so sehr gestört haben könnte, dass sie meinten, sich an ihm rächen zu müssen. Er, der Schlesier, ist eine deutsche Schwejkkopie, der mit seinen verbalen Schelmenstreichen oft den Nagel auf den Kopf trifft und damit die Oberen verunsichert. Die kleinen Oberen begreifen die Ironie seiner Schwänke nicht und sind zwar irritiert, weil sie spüren, dass sie verulkt werden, trotzdem aber finden sie daran nichts auszusetzen, schließlich ist sein Verhalten, wenn auch ungewöhnlich, so doch durchaus korrekt. Die großen Oberen indes sind klug genug gewesen, um die Schwejkiaden richtig zu interpretieren, die Kritik am System zu verstehen und sich in ihrem Selbstverständnis, in ihrem Selbstbewusstsein verspottet zu sehen, ja, die eigene Lächerlichkeit im vorgehaltenen Spiegel zu erkennen, weshalb sie ihm den Spiegel aus der Hand reißen und auf dem Boden zerschmettern, was ihm sieben Jahre Pech bescheren soll. Was sie nicht wissen, sein Spiegel ist ein Zauberspiegel, und das Versprechen der Scherben setzt die zeitlichen Grenzen außer Kraft. Das Pech soll nicht sieben Jahre, sondern ein Leben lang andauern.

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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391 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783954628599
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