Читать книгу: «Halbierte Wirklichkeit», страница 4

Шрифт:

Die drei Säulen des Materialismus

Dies sind also die drei Säulen des Materialismus: 1) das Materieprinzip, 2) das Supervenienzprinzip und 3) das Prinzip von der kausalen Geschlossenheit der Welt (im Folgenden öfters kurz das Kausalprinzip genannt). All diese Prinzipien werden aus der Naturwissenschaft abgeleitet oder jedenfalls gibt der Materialismus vor, sie aus ihnen abgeleitet zu haben. Auf diese Art legitimiert sich die materialistische Weltanschauung mit der Hilfe und dem Gewicht der besten Wissenschaften, die wir haben. Es wird sich jedoch zeigen, dass all diese Prinzipien keine zwingende Konsequenz aus der Naturwissenschaft sein können. Oft genug handelt es sich um argumentativ nicht abgestützte Extrapolationen, manchmal auch nur um Projektionen lebensweltlicher Erfahrung in ein dazu fremdes Gebiet. In solchen Fällen macht der Materialist Gebrauch von einer nichtmaterialistischen Ontologie, wodurch er in einen Selbstwiderspruch hinein gerät.

Die Überlegungen des zweiten Kapitels zum Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt sollten die Überlegungen dieses dritten Kapitels vorbereitet haben. Es gibt nämlich eine wenig beachtete Dialektik zwischen Wissenschaft und Lebenswelt, die nicht nur darauf beruht, dass die Lebenswelt unhintergehbarer Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Bemühungen ist (woher sollte der Wissenschaftler sonst sein Objekt nehmen?). Es ist auch umgekehrt so, dass wir die Ergebnisse der Wissenschaft post festum einer lebensweltlichen Interpretation unterziehen, weil wir sie sonst gar nicht verstehen könnten. Physiker, Biologen und Chemiker unterhalten sich über die Ergebnisse ihrer Wissenschaft in der ganz gewöhnlichen Alltagssprache. Der Physiker Richard Feynman träumte sogar von einer Physik, die ganz auf die Mathematik verzichten würde!10

Um einige einfache Beispiele dieser kaum verstandenen Dialektik zwischen Wissenschaft und Lebenswelt vorwegzunehmen: Newton übersetzte in den „Principia“ seine Einsichten durchweg in ganz konkrete Vorstellungen aus der Alltagswelt. So illustrierte er z. B. „Kraft = Masse mal Beschleunigung“, also sein zweites Axiom, mit Hilfe eines Wagens einer bestimmten Masse, der vom Menschen angeschoben oder von einem Tier gezogen wird. Dadurch üben wir eine Kraftwirkung aus und der Wagen wird beschleunigt.

Dies ist eine hübsche Ausdeutung der Formel F = ma, aber man sieht schon an diesem einfachen Beispiel, dass solche lebensweltlichen Interpretationen über den physikalischen Sachverhalt hinausgehen. Newton beschreibt nämlich den entsprechenden Sachverhalt kausal: Die Kraft ist die Ursache, die Beschleunigung die Wirkung. Nun ist aber die Kausalrelation asymmetrisch, denn wenn A Ursache von B ist, ist B niemals Ursache von A, die Formel F = ma ist aber symmetrisch. Wir haben also den wissenschaftlichen Sachverhalt überinterpretiert. Weil nun Newton alle Kräfte kausal deutet, bezieht er diese Interpretation auch auf sein drittes Axiom „actio = reactio“. Seine Beispiele sind auch hier das Eingreifen des Menschen in den Naturzusammenhang: Ich drücke auf eine Tischplatte mit der Kraft F und die Tischplatte drückt wieder gegen meinen Daumen mit der entgegengesetzten Kraft – F. Aber auch hier haben wir die Situation, dass die lebensweltliche Interpretation mehr sagt als die Theorie, denn hier ist der Daumen aktiv, die Tischplatte passiv. Diese Asymmetrie kommt in der Formel F12 = – F21 nicht vor, es lassen sich nämlich F12 und F21 vertauschen, ohne dass sich an dem mathematischen Zusammenhang irgendetwas ändert. Es scheint uns ganz natürlich zu sein, die Entdeckungen der Wissenschaft post festum wieder ins praktisch bestimmte Verständnis der Alltagswelt rückzuübersetzen, so dass wir diese Rückübersetzung als solche gar nicht mehr wahrnehmen und mit der eigentlichen Wissenschaft verwechseln. Wir glauben also dort noch Wissenschaft zu treiben, wo wir längst in das praktisch bestimmte Gebiet unserer Lebenswelt zurück gesprungen sind.

Ein weiteres Beispiel aus der neueren Physik: Seit den 1960er-Jahren konnten die Physiker erstmals Phänomene der spontanen Strukturentstehung in der Natur berechnen und dies im Rahmen der neu entwickelten Selbstorganisationstheorie, die sich auf offene Systeme bezog, also solche, die von Materie und/oder Energie durchflossen werden (alle Lebewesen sind ein solches offenes System). Dabei traten völlig neue Erscheinungen zutage, wie z. B. die, dass sich diese Systeme deterministisch entwickelten, aber nur bis zu gewissen sensiblen Punkten, wo sie sich unvorhersehbar verzweigten, nämlich den sogenannten „Bifurkationspunkten“. Solche nichtantizipierbaren Kontingenzpunkte sind dann oft die Initialzündung zu spontaner Strukturentstehung. Der Biophysiker Ilya Prigogine erhielt den Nobelpreis für diese Entdeckung. Er beließ es aber nicht bei der exakten Theorie, sondern er interpretierte seine Theorie sofort in lebensweltlichen Vorstellungen, so etwa in seinem Buch „Dialog mit der Natur“. Dort projizierte er alle möglichen lebenspraktischen Vorstellungen in seine Physik hinein, sprach etwa davon, dass die Bifurkationspunkte ein Ort der „Spontaneität“ oder sogar der „Geschichtlichkeit“ der Natur seien, dass darin die Aristotelische „physis“ wiederentdeckt werden könne und was der Überfrachtungen mehr sind.

Andere haben solche Überinterpretationen auf die Spitze getrieben, wie z. B. der Physiker Paul Davies. In seinem Buch über die Chaostheorie macht er einen Urgegensatz auf. Danach beschreibt der II. Hauptsatz der Thermodynamik, also der Entropiesatz, die Zerstörung von Struktur und er nennt ihn deshalb den „pessimistischen Pfeil“ des Universums, während die spontane Strukturentstehung, beschrieben durch die Selbstorganisationstheorie, der „optimistische Pfeil“ sei und all dies sei, so meint er, objektive Wissenschaft, nämlich bloße Physik.11 Man sieht aber, dass das nicht der Fall sein kann. Optimismus und Pessimismus sind keine Begriffe der Physik, sondern Begriffe menschlicher Grundhaltungen. Weil wir hochkomplexe Wesen sind und weil wir unser Wohlergehen schätzen, während Krankheit und Tod zu einer Minderung oder Zerstörung dieser Qualitäten führen, werten wir spontan solche Ergebnisse der Wissenschaft und fügen sie ein in den Kosmos unseres lebensweltlichen Wissens und unseres Selbstverständnisses als menschliche Personen.

Dagegen gibt es nichts zu sagen, solange man sich nicht vormacht, dass es bei diesen Interpretationen immer noch um strenge Wissenschaft geht. Das hat Newton spontan so gesehen und es scheint dort noch relativ harmlos. Bei Prigogine ist es schon weniger harmlos, weil er vorgibt, in seinem „Dialog mit der Natur“, die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaft von der Physik her zu überwinden, während Davies in einer früheren Publikation sogar den Anspruch stellte, die Religion auf diese Weise physikalisch wegerklären zu können. Ganz gefährlich wird es, wenn gewisse Neurowissenschaftler das Gehirn personifizieren und etwa davon sprechen, dass Gehirne (statt Menschen) miteinander kommunizieren, dass Gehirne (statt Menschen) etwas wollen usw.

In all diesen Fällen bleiben wir nicht bei der Wissenschaft stehen, sondern wir reichern sie in einem Prozess der unbewussten Rückprojektion mit Inhalten aus unserer praktischen Lebenswelt an, tun aber immer noch so, als befänden wir uns auf dem Niveau der exakten Forschung. Dann gerät uns plötzlich die Physik zum alles erklärenden Schema, die Neurowissenschaft ersetzt Personalität und es entsteht eine monistisch-materialistische Weltanschauung, die wie eine giftige Blase aus einem schlechten Magen emporsteigt, der die verwirrende Vielheit der postmodernen Bezüge nicht verdauen kann. Vielleicht kann man wirklich nicht, aber dann wäre es ehrlicher zuzugestehen, dass uns die heterogene, zentrifugale Vielfältigkeit der modernen Welt intellektuell überfordert, anstatt dass wir uns an den Busen des All-Einen flüchten, wobei es rätselhaft bleibt, wie es kommt, dass die Nichtexistenz Gottes und die geliehene Allmacht der Materie dem Menschen Trost spenden. Aber wie der Mensch der höchsten Wahrheit fähig ist, so auch der radikalen Illusion.

Der Vollständigkeit halber muss noch erwähnt werden, dass die vorliegende Arbeit zwar streng antinaturalistisch vorgeht, aber nur relativ zum szientifischen Naturalismus = Materialismus. Es gibt auch einen völlig anders gearteten Naturalismus, der sich verwirrenderweise genauso nennt, nämlich der pragmatische Naturalismus, wie man ihn z. B. bei John Dewey findet und wie er heute erneut Beachtung erfährt, so z. B. auch in der pragmatischen Wissenschaftstheorie eines Baas van Fraassen. All diese Autoren nehmen die Lebenswelt sehr ernst und gründen ihre Philosophie auf den praktischen Umgang des Menschen mit seinesgleichen und mit der Natur. Solche philosophischen Ansätze sind hier nicht zu kritisieren, die hier vorgestellten Überlegungen beruhen vielmehr zum guten Teil auf ihnen. Dieses Buch handelt ausschließlich vom szientifischen Naturalismus, den wir aber künftig Materialismus nennen werden.

3.1 Das Materieprinzip

Es versteht sich, dass der Materialismus dieses Prinzip als gültig voraussetzen muss. Gleichwohl fällt auf, dass sich die Materialisten keine sonderlich große Mühe geben, diesen ihren Grundbegriff zu klären. Sie unterstellen zumeist, dass wir alle immer schon wüssten, was Materie sei. Aber so einfach ist das nicht. Wenn man vergleicht, welche Mühe sich Hegel gab, den Begriff des Geistes näher zu bestimmen (man kann sein gesamtes Werk als eine Explikation dieses Grundbegriffs ansehen), dann ist die Sprödigkeit der Materialisten doch ein recht erstaunliches Phänomen. Natürlich unterstellen die meisten von ihnen, dass die Physik schon wisse, was Materie sei und da doch niemand die Ergebnisse dieser gründlichsten aller Wissenschaften in Frage stellen werde, brauche man sich weiter um eine angemessene Definition des Begriffs der Materie nicht zu kümmern.

Es ist aber so, dass dieser Begriff der Materie in keiner einzigen physikalischen Theorie vorkommt. Es verhält sich damit so ähnlich wie mit dem Begriff der Kausalität, der später behandelt werden soll. In beiden Fällen wird sich zeigen, dass diese Zentralbegriffe Interpretamente unserer praktischen Lebenswelt sind, die wir von dort aus in die Wissenschaft hineinprojizieren, um sie uns verständlich zu machen. Aber dann hat der Materialismus ein Problem, denn er macht präzise von dem Gebrauch, was er vorgibt, hinter sich gelassen zu haben, denn die Ontologie der Lebenswelt ist nicht materialistisch. Sie ist natürlich auch nicht spiritualistisch, sondern wir erfahren uns im Alltag als wenig durchschaubare Amphibien zwischen Geist und Materie, irgendwie beides, ohne dass allzu klar wäre, wie es zusammenhängt.

Einer der einflussreichsten Materialisten heute ist der Physiker und Philosoph Mario Bunge. In einem Buch zum „wissenschaftlichen Materialismus“ definiert er: „Matter is, what science studies.“ Das ist ungefähr so, als wollte ich wissen, was ein Pferd sei und erhielte zur Antwort: „Pferd ist, worauf der Reiter sitzt.“ Dies ist eine Art negativer Definition, die in der Wissenschaft eigentlich verboten ist. Wenn ich vom Menschen sage, er sei kein Tier, dann weiß ich noch immer nicht, was er wirklich ist, denn auch ein Eisblock oder eine Wolke sind keine Tiere. Doch die Verlegenheit Mario Bunges verweist auf ein Grundproblem, das den Materialismus bis heute belastet. Wir hatten oben gesehen, dass der heute so verbreitete nichtreduktionistische Physikalismus die materialistisch-monistische Einheit hinter den Phänomenen nur unterstellt, aber nicht aufzeigt. Das macht sich bei Bunge so bemerkbar, dass er von „matter, inanimate or alive“ oder von „thinking and social matter“ spricht.12 Was ist denn „soziale“ oder „denkende Materie“ und könnten wir dann nicht auch von einer fröhlichen, friedfertigen oder ängstlichen Materie sprechen und wäre dann nicht schon rein sprachlich dieser materialistische Monismus widerlegt?

Um nun zu klären, welchen Materiebegriff die Physik hat oder ob sie überhaupt einen hat, ist es nützlich, auf Kepler und Newton zurückzugreifen. Bei ihnen findet sich eine Weichenstellung, die bis heute nachwirkt und die den physikalischen Materiebegriff in die Aporie hineintreibt. Kepler steht auf halbem Wege zwischen einem metaphysischen Synkretismus und der modernen Wissenschaft. Seine Schriften sind eine schwer durchschaubare Mischung aus Neoplatonismus, Aristotelismus und einer auf Beobachtung beruhenden Quantifizierung und Mathematisierung. Diese Mischung war derart, dass sie ein Galilei nicht ertragen konnte. Obwohl er glücklich war, einen Mitstreiter in Sachen Heliozentrismus gefunden zu haben, konnte er es doch nicht über sich bringen, die Originaltexte Keplers zu lesen. Das war ihm alles zu verworren metaphysisch, zu wenig erfahrungsgesättigt. Tatsächlich ist Kepler noch zur Hälfte in einer qualitativen Naturphilosophie befangen, die Galilei weit hinter sich gelassen hatte. Bei Aristoteles hatte Kepler den Gegensatz von Form und Materie vorgefunden, aber nach und nach durch den der Kraft und des Stoffes ersetzt. Dieser Übergang ist philosophisch höchst bedeutsam, denn Form war etwas Geistiges, das nach Aristoteles aber nur in der Materie realisiert werden kann, also nicht abgetrennt wie bei Plato. Das heißt: Wir haben bei Aristoteles immer eine Verschränkung von Geist und Materie vor uns. Ersetzt man nun die Begriffe Form und Materie durch Kraft und Stoff, dann entsteht eine Ausweglosigkeit, weil nun Kraft etwas Geistiges sein müsste, da sie nicht mehr zum Stoff gerechnet werden kann. Aber eigentlich ist das verkehrt, denn physikalisch gesehen gehören auch die Kräfte zur Materie. Es ist eben nicht sinnvoll, einen einzelnen physikalischen Begriff mit der Materie zu identifizieren, weil sonst der Rest in den Bereich des Geistigen verschoben wird, wo er nicht hingehört.

Das heißt also: Das Gegensatzpaar Kraft und Stoff hat mit dem älteren von Form und Materie überhaupt nichts mehr zu tun, es ist ein rein historischer Zusammenhang ohne systematische Relevanz. Gleichwohl wird sich zeigen, dass Physiker bis heute Gebrauch machen vom alten Form-Materie-Gegensatz, um sich ihre Ergebnisse hermeneutisch anzuverwandeln. Aber dann treiben sie Metaphysik und bewegen sich nicht mehr im gesicherten Terrain wissenschaftlicher Erkenntnis. Diese Überblendung wird besonders deutlich bei Newton, wie schon in der Einleitung zu diesem Kapitel deutlich gemacht wurde.

Wer heute Physik studiert, wird sofort mit den Newton’schen Axiomen und dem Gravitationsgesetz vertraut gemacht und lernt dann, mit Hilfe von Rand- und Anfangsbedingungen aus diesen Grundprinzipien mathematisch die besonderen Fälle zu deduzieren, die dadurch erklärt werden. All dies ist ziemlich abstrakt und die Physikprofessoren bestehen auch immer darauf, man möge sich doch nichts Anschauliches darunter vorstellen, denn dies führe uns in die Irre. Sie haben durchaus Recht, was das Innerwissenschaftliche anbelangt. Derart geschult und gewitzt ist es ein Schock, Newtons Originalabhandlung zu lesen. Dort kommen nämlich nur verstreut mathematische Formeln vor! Newton beschreibt Vieles in der ganz gewöhnlichen Alltagssprache und fügt nur da und dort mathematische Ausdrücke hinzu.

Das hat Methode: Newton war offenkundig der Meinung, dass seine Physik unmittelbar die Natur beschreibt, wie sie uns im Alltag umgibt. Er differenziert also nicht zwischen Wissenschaft und Lebenswelt. Dies erklärt übrigens auch eine Eigenschaft der Kantischen Philosophie, die viele Leser irritiert hat: Auch bei Kant gibt es keine Differenz zwischen Wissenschaft und Lebenswelt. Kant folgt hierin ganz einfach seinem Lehrer Newton. Aber wenn ein so kluger Philosoph dieses Problem nicht gesehen hat, dann darf man sich nicht wundern, dass sich die Standardauffassung allgemein durchsetzte, die klassische Physik Newtons beschriebe unsere Lebenswelt, obwohl es in unserer Lebenswelt keine Idealisierungen wie Punktmassen noch Momentanbeschleunigungen, Trägheitsbewegungen oder perfekt reibungsfreie schiefe Ebenen gibt.

Es wurde schon oben darauf hingewiesen, dass diese Identifikation von Wissenschaft und Lebenswelt nicht stimmen kann, denn wenn man z. B. mit Newton Kräfte als Ursachen ansieht, dann entsteht, wie gesagt, die Paradoxie, dass die Newton’schen Gleichungen symmetrisch sind, während die Kausalrelation asymmetrisch ist. Es handelt sich also um einen dieser unmotivierten Sprünge von der Wissenschaft zur Lebenswelt. Ein ähnlicher Fall liegt vor, wenn man mit Newton die Masse m als Platzhalter der Materie deutet. Die Größe m ist nicht die Materie, sondern wie Newton manchmal zu Recht sagt, die „quantitas materiae“, also eine bloße Eigenschaft der Materie, nicht sie selbst. Gerade dieses Beispiel ist wichtig im Zusammenhang des vorliegenden Unterkapitels über das Materieprinzip. Es gibt nämlich viele Physiker und Wissenschaftstheoretiker, die bis heute einfach Masse = Materie setzen. Aber damit verwechseln sie eine Eigenschaft mit dem, was ihr zugrunde liegt und sie wären in der Konsequenz gezwungen, andere physikalische Größen, wie Kraft oder Energie für etwas Geistiges zu halten. Trotzdem hat es diese merkwürdige Auffassung bis in die Lexika geschafft, wie z. B. in den großen Brockhaus und man findet diesen absurden Sprachgebrauch bis heute unter vielen Wissenschaftlern und Wissenschaftstheoretikern. Dies heißt, dass die Physik überhaupt nur Eigenschaften der Materie erforscht, sie selbst, als den Träger dieser Eigenschaften, jedoch nie direkt zu Gesicht bekommt. Die Physik weiß nicht, was Materie ist. Damit stimmt überein, dass der Physiker seine Ergebnisse nicht in der natürlichen, sondern in einer mathematischen Sprache ausdrückt, die relational ist. Die natürliche Sprache operiert mit dem Ding-Eigenschafts-Schema. Das Ding ist der Träger von Eigenschaften, was wir mit Hilfe des prädikativen Urteils in der natürlichen Sprache ausdrücken, wie etwa: „Dieser Tisch ist braun.“ Hier ist der Tisch Träger der Eigenschaft, braun zu sein. Auf diese Weise hat schon Aristoteles seinen Substanzbegriff gewonnen. Solche einfachen, prädikativen Urteile sind wir derart gewohnt, dass wir im Ernst nicht damit rechnen, dass es auch andere Sprachen gibt, die nicht so funktionieren, wie z. B. die mathematische.

Es gibt in der Literatur viele Überblendungen von mathematischer und natürlicher Sprache, die bei näherem Zusehen ganz unmotiviert sind. Man hat etwa gesagt, dass die Masse-Energie-Äquivalenz Einsteins (E = mc2) Folgendes besage: Die Masse m (die man dann mit der Materie gleichsetzt), sei im Grunde nichts als Energie. In diesem Fall wäre Energie das Zugrundeliegende und Masse (oder Materie) ein Oberflächenphänomen, d. h. eine bloße Erscheinung, und man könnte aus diesem Zusammenhang spiritualistische Schlussfolgerungen ziehen, wie es die New-Age-Physiker getan haben.13 Aber die Physik spricht nicht vom Zugrundeliegenden, d. h. vom ontologischen Substrat, denn die Gleichung E = mc2 ist symmetrisch, das Substanz-Akzidenz-Verhältnis aber nicht. Aus diesem Grund gibt es nicht nur den Fall, dass Masse in Energie zerstrahlt, wie bei einer Atomexplosion, es gibt auch den umgekehrten Fall, dass Energie sich zu Teilchen verdichtet, wie bei gewissen Experimenten im Hochenergiebeschleuniger. Die mathematische Sprache setzt also Größen zueinander ins Verhältnis, deren ontologische Grundlage unbestimmt bleibt. Und wie in den mathematischen Formeln die Asymmetrie der Kausalrelation fehlt, so fehlt in ihr die hierarchische Unterordnung der Eigenschaften unter die Kategorie der Substanz als dem Zugrundeliegenden.

Die Größen, die die mathematische Physik zueinander ins Verhältnis setzt, sind also wie ein Spinnennetz, das nirgendwo festgemacht ist oder vielmehr: Wenn man wissen will, wo es festgemacht ist, muss man aus dem Netz heraustreten, also die Physik verlassen. Spinnennetze sind nicht an Spinnennetzen festgemacht, während die Alltagssprache auf die Dinge selbst referiert. Technisch drückt man das so aus, dass nur die Alltagssprache, nicht aber die Mathematik Indexicals kennt, also Ausdrücke wie ich, du, hier, jetzt, die alle auf etwas Konkretes hindeuten. Nun könnte man argumentieren, dass das Experiment die Fixpunkte enthält, an denen das Netz mathematischer Begriffe angeheftet ist. Aber das Experiment liefert zunächst nur Zahlenwerte, die ebenfalls keine substanziellen Größen sind. Wir müssen schon aus dem quantitativ bestimmten Geflecht mathematischer Begriffe heraustreten und mit lebensweltlichem Blick und in der natürlichen Sprache die Objekte beschreiben, auf die sich die Theorie bezieht. Das funktioniert in der klassischen Physik Newtons noch leidlich und deshalb konnte er seine Principia mit lebensweltlichen Beispielen anreichern, aber heute, wo Teilchen nur noch abstrakte Zustände relativistisch beschriebener, quantisierter Felder sind und wo die Beobachtung nur noch ganz abstrakt durch riesige Beschleunigermaschinen vermittelt wird, steht uns dieser Ausweg nicht mehr zur Verfügung. Denn die irrige Meinung, die Wissenschaft beziehe sich direkt auf unsere Lebenswelt, konnte nur entstehen, weil dieses Herausspringen in der Newton’schen Physik noch relativ leicht vonstatten ging. Daher konnte Newton in den Principia meist mit der natürlichen Sprache arbeiten, obwohl sich gezeigt hat, dass das eigentlich auch hier schon unangemessen war und deshalb stellt man die klassische Physik in den neueren Lehrbüchern ganz anders und viel abstrakter dar und die Professoren warnen zu Recht vor lebensweltlichen Interpretationen. In der Physik sind sie in der Tat fehl am Platze.

Heute aber, wo die Mikro- und Makroobjekte uns gar nicht mehr in natürlicher Einstellung gegeben sind, haben wir sozusagen nur noch das Spinnennetz mathematischer Begriffe und von vornherein keinen direkten Zugang mehr zu den zugrundeliegenden Objekten. Dagegen hat der Wissenschaftshistoriker Max Jammer versucht, den Begriff der Materie rein innerwissenschaftlich zu bestimmen, indem er die Geschichte des Massenbegriffs in der Physik nachzeichnete, denn auch er identifizierte Masse und Materie. Seine Untersuchung blieb ohne Ergebnis und so ist das bis heute und wohl nicht ohne tieferen Grund. Man begegnet dieser Paradoxie selbst noch in den neuesten Publikationen. So gab z. B. der Physiker und Philosoph Michael Esfeld vor kurzem einen Sammelband heraus mit dem Titel „Philosophie der Physik“, der sich auf die avanciertesten Theorien, vor allem auf die Quantenfeldtheorie, bezieht. In diesem Band schreiben die besten Fachgelehrten im deutschen Sprachraum, aber sie können sich nicht einigen, was das ontologische Substrat der Physik sei.

Das Problem entsteht schon dann, wenn man sich vor Augen führt, dass ein und derselbe Zusammenhang mathematisch ganz verschieden ausgedrückt werden kann. So kann man z. B. die Erhaltungssätze zugleich als Symmetrieprinzipien formulieren. Es ist z. B. die Translationssymmetrie äquivalent zur Erhaltung des Impulses, die Homogenität der Zeit zum Energieerhaltungssatz, die Isotropie des Raumes zum Satz von der Erhaltung des Drehimpulses usw. Wir haben aber eine ganz verschiedene ontologische Vorstellung, wenn wir die Natur durch Erhaltungssätze charakterisieren als durch Symmetrieprinzipien. Auf diese Art kann man in der Quantenfeldtheorie den Partikel- oder den Feldbegriff in den Mittelpunkt stellen, ohne dass sich an der Theorie etwas ändert. Wohl aber ändern sich dabei die ontologischen Vorstellungen von dem, was real ist. Das heißt aber, dass die Ontologie der Physik eine höchst problematische Angelegenheit darstellt. Niemand weiß offenbar, wo das Spinnennetz der physikalischen Begriffe festgemacht wird.

Die größten Probleme für eine Ontologie der Physik entstehen also dadurch, dass sie eigentlich nur Relationen oder Strukturen kennt. Die sogenannten Strukturalisten ontologisieren diese mathematischen Gebilde selbst, d. h. sie machen aus der Not eine Tugend oder im Vergleich gesprochen, sie behaupten, dass die Realität überhaupt nur aus Spinnennetzen besteht, die frei in der Luft schweben. Dieser Strukturalismus kommt in einer starken und in einer schwachen Version vor. In der starken werden die Strukturen direkt ontologisiert und mit Platonischen Ideen verglichen, die an sich existieren. In der schwachen Variante glaubt man, dass die Strukturen nur in der Materie realisiert sind, also nicht als solche existieren. Allerdings müsste es in beiden Fällen Relationen ohne Relate geben, eine merkwürdige Vorstellung. Können wir uns eine Vaterschaft ohne Vater und Sohn vorstellen? Esfeld lehnt daher beide Sorten Strukturalismus ab und entwickelt einen, wie er es nennt, „ontischen Strukturenrealismus“, der als Relate der mathematischen Relationen Raum-Zeit-Punkte ansetzt, die aber keine intrinsischen Eigenschaften haben sollen, weil die Quantentheorie keine solchen intrinsischen Eigenschaften kennt, sondern nur relationale.14 Dies erscheint ebenfalls wie eine philosophische Verzweiflungstat. Können ausdehnungslose Punkte wirklich existieren? Sind sie mehr als bloße Gedankendinge? Können wir uns ein ontologisches Substrat ohne intrinsische Eigenschaften überhaupt vorstellen? Und sollten wir dann nicht ehrlicher mit Kant zugestehen, dass uns das Ding-an-sich unerkennbar bleibt? Es scheint also, dass Kant schon vor über 200 Jahren gesehen hat, dass die Physik aus sich keine eigentliche Ontologie rechtfertigt. Daher seine These, wonach das Ding-an-sich unerkennbar sei. Das ist für die Physik durchaus einsichtig (sonst eher nicht).

Da die Quantenfeldtheorie die Differenz zwischen Partikel und Feld zum Verschwinden bringt, entwickeln wiederum andere eine sogenannte Tropenontologie. Hier setzt man individuelle, substratlose Eigenschaften als das eigentlich Existierende, und Partikel wären dann bloße Tropenbündel. Aber man handelt sich auf diese Art die Probleme aller Bündeltheorien ein, über die schon gesprochen wurde. Ferner: Läuft diese Tropenontologie nicht einfach darauf hinaus, die Tatsache zu ontologisieren, dass sich die Physik nur auf Eigenschaften, nicht aber auf das den Eigenschaften zugrundeliegende Substrat bezieht? Können wir uns Eigenschaften ohne Eigenschaftsträger überhaupt vorstellen? Ist das nicht wieder ein ähnlicher Fall wie der der Strukturenrealisten, die ebenfalls einfach darauf verzichten, ein ontologisch Zugrundeliegendes zu bestimmen? Wiederum andere, nämlich die sogenannten Super-Substantialisten setzen allein die Raumzeit als das Reale und das allem Zugrundeliegende.

Wie dem auch sei, festzuhalten bleibt: Selbst die besten Fachleute können sich nicht einigen, was die Ontologie der Physik sein soll und vor allem identifiziert kein einziger von ihnen das ontologische Substrat der Physik mit der Materie! Aber das müsste doch geschehen, wenn der Materialismus wahr sein sollte und wenn die Physik zuständig wäre für den Materiebegriff! Dann müssten doch die Physiker hinabzoomen können in die Tiefen der Natur, um ein letztes Substrat, genannt Materie zu finden, auf dem dann alles aufruht. Aber sie finden dort offenbar nichts Bestimmtes, sondern lediglich das Unbestimmte, eine Einsicht, die Aristoteles vor über 2000 Jahren vorweggenommen hat, als er die prima materia als das Unbestimmte bezeichnete.

Es sollte aber darauf hingewiesen werden, dass diese ontologische Unbestimmtheit ein spezifisches Problem der Physik ist, zu der es wohl keine Entsprechung in den anderen Wissenschaften gibt. Einmal deshalb, weil wir in diesen anderen Wissenschaften zumeist mit der natürlichen Sprache arbeiten. Des Weiteren ist es zwar der Fall, dass wir die Objekte der Mikrobiologie genauso wenig sehen können wie die der Mikrophysik, der Unterschied ist aber dieser: Während uns die Gene in lebensweltlicher Erfahrung zwar nicht gegeben sind, sind die Organismen, die sie enthalten, in der Regel in Raum und Zeit klar identifizierbar. Die meisten Tiere, Pilze oder Pflanzen können wir sehen. In der Biologie stellt sich daher das Ontologieproblem auf eine ganz andere Weise, aber die Biologie ist auch nicht zuständig für den Materiebegriff.

In dem von Esfeld herausgegebenen Band fehlen übrigens idealistische Physikdeutungen. In der Philosophie herrscht heute eine negative Voreingenommenheit gegenüber dem Idealismus. Es gab aber große Physiker wie Planck, Einstein, Heisenberg und Pauli, oder Philosophen wie von Weizsäcker, die die Physik idealistisch gedeutet haben. Im Grunde machten sie dasselbe wie die Strukturalisten: sie ontologisierten die Formeln der Physik direkt, jetzt aber im Sinn zugrundeliegender Platonischer Ideen. Von Weizsäcker hat vergeblich versucht, daraus ein philosophisches System zu machen.15 Das musste aus demselben Grunde misslingen, aus dem auch die sonstigen Versuche gescheitert sind, aus der Physik allein eine Ontologie herzuleiten. Der relationale Charakter dieser Wissenschaft hindert, dass wir in diesem Bereich ein platonisches anhypotheton, ein voraussetzungsloses Erstes finden können, das allem zugrunde liegt. An sich hat Plato dieses Problem schon vor über 2000 Jahren gesehen, wenn er das Mathematische aufgrund dieses seines hypothetischen Charakters nicht mit zu den Ideen rechnete. Doch zeigt bereits die Möglichkeit einer idealistischen Physikinterpretation, dass der Materialismus keine zwingende Folge aus der Physik sein kann. Das sollte den Materialisten mehr zu denken geben, als tatsächlich der Fall ist.

Es scheint nun, dass das Problem, das sich hier auftut, schon vor 100 Jahren im Wiener Kreis beschrieben wurde. Rudolf Carnap vertritt in seinem ersten großen Werk, dem „Logischen Aufbau der Welt“ eine These, die dem Strukturalismus ähnelt. Er nimmt die Physik ganz ernst und unterstellt, dass sie kein substanzielles Verhältnis zu den Gegenständen ermöglicht. Was wir erkennen, sind immer nur strukturelle Eigenschaften der Gegenstände, niemals diese selbst: „Die Wissenschaft muss rein objektiv sein und jede wissenschaftliche Aussage kann in eine reine Strukturaussage umgeformt werden: Denn die Wissenschaft will vom Objektiven sprechen; alles jedoch, was nicht zur Struktur, sondern zum Materialen gehört, alles, was konkret aufgewiesen wird, ist letzten Endes subjektiv.“16 Das heißt: Für Carnap sind Fragen nach dem Wesen, nach dem Zugrundeliegenden usw. sinnlos. Sie sind in seinen Augen metaphysisch im pejorativen Sinn. Er nennt sie „externe Fragen“, wozu auch Fragen nach Realismus, Idealismus, Materialismus, Spiritualismus usw. gehören. Das würde mit dem hier Gesagten übereinstimmen. Von der Physik aus erkennen wir nur Strukturen und diese sind indifferent zur Unterscheidung zwischen Geist und Materie. Das heißt aber sofort, dass wir von dieser Wissenschaft her keine Aussagen über die Materie als das allem Zugrundeliegende machen können. Leider hat Carnap später diese konsequente Position aufgegeben und sich zu einem weltanschaulichen Physikalismus bekannt, ohne uns die Gründe zu nennen, die dazu geführt haben. Aber in der Regel gibt es keine solchen Gründe. Der Materialismus ist ein Glaube, keine begründbare Theorie.

1 722,70 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
380 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783766642271
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Новинка
Черновик
4,9
176