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Oft wird nicht zwischen einer gesicherten Theorie und ihrem Geltungsanspruch unterschieden. Aber beide sind logisch unabhängig voneinander. Wenn der Physiker eine „Great Unified Theory“ entwickelt, die in einem Formalismus alle vier Grundkräfte der Materie enthält, so kann er diese Theorie als eine „Theory of Everything“ interpretieren, mit dem Anspruch, alles zu erklären, was es auf der Welt gibt, vom Atom bis zur Trinität. In diesem Sinn hat sich z. B. der Physiker Steven Weinberg geäußert, der glaubte, er könne mit seiner Wissenschaft auch gleich noch die Biologie miterklären. Oder aber der entsprechende Physiker könnte auch den bescheideneren Anspruch mit seinen Formeln verbinden, lediglich die Kräfte der Materie zu berechnen, aber z. B. keine Aussagen über Lebendiges oder über den Menschen zu machen. So hat Werner Heisenberg seine Physik verstanden, obwohl er einer der Ersten war, der eine Weltformel an die Tafel schrieb. Die Formeln, die Heisenberg an die Tafel schreibt, könnten im Grenzfall genau dieselben sein, die Weinberg anschreibt, aber der damit verbundene Geltungsanspruch könnte dennoch radikal verschieden sein.

Diese Differenz betrifft alle Wissenschaften. Ich kann als Biologe den Anspruch stellen, die Eigenschaften aller Lebewesen unter Einschluss des Menschen erklärt zu haben. Oder ich kann gewisse Kulturleistungen, wie z. B. seine Moralität, davon ausnehmen. Die zugrundeliegende Biologie ändert sich dadurch nicht. Wenn also Konflikte zwischen Wissenschaft und Lebenswelt entstehen, dann ist man oft in der Lage, sie durch Überprüfung der Geltungsansprüche zu entschärfen. Ansonsten ist von einem Primat der Lebenswelt vor der Wissenschaft auszugehen. Die Menschheit hat lange ohne Wissenschaft im Sinn der Neuzeit gelebt, aber niemals ohne praktische Maximen oder ohne die Betroffenenperspektive. Und dann ist die Wissenschaft selbst von unseren praktischen Einstellungen substanziell abhängig. So schreibt uns z. B. die Natur nicht vor, welche Phänomene wir interessant oder forschungswürdig finden sollten. Wir legen die Richtung der Forschung fest, nicht die Objekte in Raum und Zeit! Theorie hängt entscheidend von Praxis ab, aber ohne in ihr aufzugehen. Diese etwas vertrackte Überblendung von Theorie und Praxis, die in diesem Buch eine wichtige Rolle spielen wird, steht allerdings bisher nicht im Focus des wissenschaftstheoretischen Interesses. Tatsächlich findet man dort so gut wie nichts zu dieser ganz entscheidenden Frage. Dies könnte ein gravierender Einwand gegen die hier vertretene Position sein: Wissenschaftstheorie in unserem Sinn gibt es seit rund 100 Jahren, also seit dem Wiener Kreis. Seither ist eine Menge Scharfsinn darauf verwendet worden, zu bestimmen, was eigentlich Wissenschaft sei z. B. im Unterschied zu Religion und Mythologie oder um zu verdeutlichen, welche logische Struktur wissenschaftliche Erklärungen haben sollten, auf welche Ontologie mich ein wissenschaftliches Modell verpflichtet usw. Es könnte vielleicht misstrauisch stimmen, dass in einer so mächtigen Tradition das hier verhandelte Problem praktisch ausfällt, aber der Sachverhalt klärt sich leicht.

Wissenschaftstheorie zerfällt nämlich, grob gesprochen, in zwei Arten, die genau dem Gegensatz zwischen Wissenschaft und Lebenswelt entsprechen. Die Mehrheit der Wissenschaftstheoretiker geht davon aus, dass Wissenschaft das wahre Wesen der Dinge erforscht. Der mainstream der Wissenschaftstheorie beschränkt sich eben nicht darauf, die logische Struktur wissenschaftlicher Erklärungen zu untersuchen, deren ontologische Verpflichtungen aufzuklären oder den Unterschied zwischen Wissenschaft und Religion herauszuarbeiten. Wissenschaftstheorie versteht sich seit dem Wiener Kreis vielmehr gerne als normativ in dem Sinn, dass sie darstellen kann, wie Rationalität auszusehen habe und zwar nicht nur die Rationalität der Physik, Chemie, oder Biologie, sondern Rationalität schlechthin. Die Intuition, die dahinter steckt, hängt mit der negativen Erfahrung zusammen, die man mit der spekulativen Philosophie namentlich des Deutschen Idealismus gemacht hatte. Es war besonders der Hegel’sche Idealismus, der den Eindruck hinterließ, man sei mit den empirischen Wissenschaften besser bedient als mit einer spekulativen Metaphysik. Dass es so einfach nicht ist, wird sich im Hegelkapitel des vorliegenden Buches zeigen. Aber zunächst einmal war dies die sehr verständliche Reaktion. Empirie statt Spekulation, Logik statt Dialektik, ein aufs Endliche gerichteter Verstand statt einer aufs Absolute gerichteten Vernunft, Analyse statt Synthese, kontrollierbares Experiment statt ausschweifender Phantasie usw.

Fasst man die Wissenschaftstheorie normativ in diesem Sinn, dann kann sie kein Interesse an pragmatischen Relativierungen haben, und in der Tat lässt sich beobachten, dass sich die Wissenschaftstheorie in ihrer Geschichte nach Kräften gegen die Pragmatik wehrte und sie nur ganz kontrolliert zuließ, und zwar dann, wenn ihr nichts anderes mehr übrig blieb. Man kann das z. B. sehr gut an der Entwicklung von Wolfgang Stegmüller verfolgen, der über Jahrzehnte der führende Wissenschaftstheoretiker in Deutschland war. Stegmüller hinterließ ein gigantisches Werk, in dessen zweiter Auflage er vorsichtige pragmatische Retuschen anbrachte, aber nie so, dass er sich ernstlich auf Praxis, also z. B. auf das experimentelle Handeln oder auch auf die Moral eingelassen hätte. Die Lebenswelt blieb außen vor; die Theorie genügte sich selbst.

In dieser Tradition hatte man also wenig Interesse daran anzuerkennen, dass ein volles Verständnis wissenschaftlicher Erkenntnisse nur möglich ist, wenn wir sie in die Lebenswelt zurückbinden, denn dies würde ja eine fundamentale pragmatische Relativierung bedeuten, woran bei solchen Autoren kein Interesse bestand. Es soll weiter unten im Kapitel über das Materie- und das Kausalprinzip gezeigt werden, was das praktisch bedeutet. Der Wissenschaftstheoretiker ist nämlich darauf festgelegt, auch das Materie- und Kausalprinzip allein aus der exakten Wissenschaft abzuleiten. Es wird sich aber zeigen, dass das ausgeschlossen ist. Was Materie und was Kausalität sind, wissen wir aus unserer praktischen Lebenswelt, nicht aus der Physik. Das bisher Gesagte betrifft allerdings nur den mainstream der Wissenschaftstheorie, die das Wort Theorie nicht umsonst im Namen trägt.

Anders ist es mit einer Minderheit von Wissenschaftstheoretikern, die sich wesentlich auf die Praxiskonstitution von Wissenschaft beziehen, die also die Wissenschaft an die Lebenswelt rückbinden. In Deutschland betrifft diese Minderheit vor allem die Erlanger Schule mit Autoren wie Paul Lorenzen, Friedrich Kambartel, Jürgen Mittelstrass oder Peter Janich. In dieser Schule wird der Akzent auf die Praxis gelegt und zwar auf beides, politisch-moralische und experimentell-technische Praxis. Insofern hat diese Schule ein großes Verdienst, denn die analytischen Wissenschaftstheoretiker haben gerne so getan, als finde Wissenschaft gleichsam im luftleeren Raum statt, so als wüchsen die Theorien auf den Bäumen. In der angelsächsischen Welt, die die wissenschaftstheoretische Diskussion dominiert, hat die Erlanger Schule Deutschlands kaum Spuren hinterlassen. Ein trauriges Beispiel für die auch sonst zu beobachtende Hegemonie der Angelsachsen. Wissenschaft folgt leider oft denselben Mustern wie der politisch-militärische Bereich. Wer die Macht hat, hat auch das Recht, so scheint es.

Peter Janich ist vielleicht der radikalste Konstruktivist der Erlanger Schule. Er geht aus von der „wahrheitsstiftenden Funktion des Handelns“ und fächert dies in Bezug auf technische Handlungsnormen hin auf, um im Sinn einer „Protophysik“ die Praxiskonstitution von Wissenschaft zu klären. Das ist zwar sehr viel, aber bei ihm ist es auch schon alles. Er anerkennt z. B. keine ontologischen Fragestellungen. So wendet er sich etwa dagegen, dass bei „den meisten Wissenschaftsphilosophen naturwissenschaftliche Theorien als Aussagensysteme mit Behauptungscharakter“ gelten. Die Rede über Naturgesetze gehört nach Janich zu einer „mythisierenden Überhöhungsliteratur“. Naturwissenschaften seien letztlich nichts anderes als technisches Know-how: „,Naturgesetze‘ sind demnach nur Aussagen über funktionierende Maschinen, ja sie können ohne Umformulierung auch als Konstruktionsanweisungen für Maschinen gelesen werden.“9

Dies ist nun sicher verkehrt. Welche Konstruktionsanweisungen enthalten die Wellenfunktion in der Quantentheorie oder die Maxwellgleichungen in der Elektrodynamik? Ist es nicht vielmehr umgekehrt so, dass keine physikalische Theorie ohne Umformulierung als Handlungsanweisung gelesen werden kann? Sonst hätte es z. B. keine 40 Jahre gebraucht, bis die Techniker gelernt hatten, aus Einsteins E = mc2 den Bau einer Atombombe herzuleiten. Die Spezielle Relativitätstheorie Einsteins enthält durchaus keine Anleitung zum Bau von Atombomben oder Atomkraftwerken und die klassische Elektrodynamik enthält keine Anleitungen zum Bau von Radios, Handys oder GPS-Systemen.

Wir haben also den betrüblichen Sachverhalt, dass die fundierende Rolle der lebensweltlichen Praxis in der Wissenschaftstheorie aus zwei Gründen falsch bestimmt wurde. Das eine Mal, indem der mainstream der Wissenschaftstheorie Lebenswelt durch Wissenschaft ersetzen wollte und das andere Mal, indem der Ansatz bei der technischen oder experimentellen Praxis die Ontologie ganz aus dem Blickfeld verdrängte. Auf diese Weise geriet die hier interessierende Überblendung von Theorie und Praxis, Wissenschaft und Lebenswelt aus dem Blick.

Das Gesagte ist etwas holzschnittartig, aber es ist hier nicht der Ort, um auf die pragmatische Wende in der Wissenschaftstheorie einzugehen, denn die Situation ist inzwischen sehr komplex und verwickelt. Es scheint aber nicht der Fall, dass die Überlappung von Theorie und Praxis heute im Zentrum des Interesses stünde. Auch wenn Praxis in der Zwischenzeit deutlich höher gewichtet wird als zur Zeit Stegmüllers, führt dies doch gewöhnlich nicht dazu, unseren Seinsbegriff pluralistisch aufzufächern. Wir glauben nach wie vor, dass die Welt hauptamtlich aus Atomen, Molekülen oder Superstrings besteht und dass alles andere nichts ist als eine sekundäre Zusammenballung solcher Urelemente, und wenn wir menschliches Handeln und Erkennen als etwas Eigenständiges zulassen, dann glauben wir gewöhnlich nicht, dass dies etwas zur Sache beiträgt, also unser Seinsverständnis substanziell verändern sollte. Mensch und Welt sind indifferent gegeneinander. Sie sind sich so fremd wie der Bauer und die Großstadt. Letztlich leiden wir immer noch unter einer Spaltung zwischen Theorie und Praxis, Natur- und Sozialwissenschaften, Gesetz und Geschichte, Wissenschaft und Lebenswelt – so oft auch angekündigt wurde, diese Trennungen gehörten inzwischen der Vergangenheit an. Wenn wir aber beides zulassen, die formalen Konstrukte der Wissenschaft, ihre Ermöglichung technischer Weltbewältigung und unsere konkrete Leiberfahrung als geschichtlich handelnder, psychosomatisch verfasster Wesen, dann fächert sich uns das Sein auf. Wir glauben nicht länger an einen monistischen Block genannt Welt, der geheimnislos anwest als ein selbsttragendes Konstrukt ohne jede Bedeutung. Erst so schließt sich uns der Reichtum der Erfahrung auf und erweckt Zweifel an der Lehre von der reinen Immanenz, die sich selbst organisiert. Zuvor ist aber ein weiter Weg zu gehen, denn die gegenwärtig dominierende Position ist verbreitet und will bedacht sein.

3. Die drei Säulen des Materialismus
Zusammenfassung

Der heutige Materialismus scheint auf drei Grundsätzen zu beruhen:

1) dem Materieprinzip,

2) dem Supervenienzprinzip und

3) dem Prinzip der kausalen Geschlossenheit der Welt.

Dabei betrifft Prinzip 1) den seinshaften Grund aller Dinge, Prinzip 2) den statischen Aufbau, also das Verhältnis verschiedener Organisationsebenen und Prinzip 3) betrifft die Dynamik, also das Werden insgesamt.

Es kann im Folgenden gezeigt werden, dass alle drei Prinzipien entweder unbegründet sind oder doch zumindest nicht aus der Naturwissenschaft folgen. Das gilt z. B. schon für 1) das Materieprinzip. Allgemein wird angenommen, dass es aus der Physik ableitbar sei. Man kann aber leicht zeigen, dass der Begriff der Materie in keiner einzigen physikalischen Formel vorkommt, ja dort gar nicht vorkommen kann. Der diesbezügliche Sprachgebrauch in der Physik ist äußerst lasch. Die Physiker bezeichnen gern etwas habhaftere Größen wie Partikel oder Masse als Materie. Aber dass das ein uneigentlicher Sprachgebrauch ist, sieht man schon daran, dass dann Felder oder Lichtwellen etwas Geistiges sein müssten.

2) Das Supervenienzprinzip bringt die Intuition zum Ausdruck, dass die Welt von unten her getragen wird. Die Materie bestimmt also alle höheren Formen oder anders gewendet: Es kann niemals der Fall eintreten, dass die zugrundeliegende materielle Konfiguration mit sich identisch bleibt, die höheren Eigenschaften, wie Leben oder Bewusstsein, sich jedoch verändern. Die Basis bestimmt den Überbau – die Welt hält von unten her zusammen.

Die nähere Prüfung wird zeigen, dass das Supervenienzprinzip häufig verletzt ist, wenn es darum geht, das hierarchische Verhältnis zweier Ebenen zu beschreiben. So supervenieren z. B. die Eigenschaften von Lebewesen nicht auf ihren Genen oder es spricht auch alles dagegen, dass unser Geist auf dem Gehirn superveniert. Das Supervenienzprinzip ist also ein materialistisches Glaubensbekenntnis, kein Ergebnis der Wissenschaft.

Das ist auch 3) der Fall bei dem Prinzip von der kausalen Geschlossenheit der Welt. Es bringt zum Ausdruck, dass ein materieller Weltzustand W1 notwendigerweise den nächsten materiellen Weltzustand W2 produziert, so dass der Geist kausal wirkungslos bliebe, selbst wenn es ihn gäbe. Auch gegen dieses Prinzip gibt es gewichtige Argumente: Zunächst einmal verhält es sich mit dem Begriff der Kausalität so ähnlich wie mit dem der Materie. Beide kommen in keiner physikalischen Formel vor und die Philosophen der Physik sind sich deshalb höchst uneinig, was sie unter Kausalität verstehen sollten, während viele von ihnen es sogar ganz ablehnen, in der Physik von Kausalität zu sprechen. Noch verworrener wird die Situation, wenn wir die anderen Wissenschaften zu Rate ziehen. Der Kausalitätsbegriff ist derart vielfältig, dass man daran verzweifeln muss, einen allgemeinverbindlichen Inhalt zu finden. Aber dann kann von einer kausalen Geschlossenheit der Welt nicht mehr die Rede sein. Die verschiedenen Formen von Kausalität addieren sich nicht mehr zu einer geschlossenen Kette, an der das Seiende hängt und von der es hinreichend festgelegt wird.

Vorbemerkung

Die hier folgenden Unterkapitel und auch das vierte Kapitel sind etwas technisch, also eher abstrakt. Das liegt am Thema. Die Sachverhalte, auf die sich unsere Überlegungen beziehen, sind ebenfalls von dieser Art. Es sei aber der Grundgedanke dieses dritten Kapitels an einem einfachen Beispiel vorweg verdeutlicht, das unmittelbar in die Diskussion einführt. Die heute herrschende, am meisten verbreitete Anschauung nennt sich nichtreduktionistischer Physikalismus. Ein Wort vorweg zur Nomenklatur: Man spricht heute gerne von Physikalismus, das klingt wissenschaftlich, von Naturalismus, das klingt nach Goethe, und selten von Materialismus, das klingt zu grob, außerdem will niemand ein Reduktionist sein. Aber in Wahrheit ist in all diesen diversen Flaschen immer dasselbe drin. Wir werden deshalb eher respektlos, aber wahrheitsgemäß von Materialismus reden. Heute am meisten verbreitet ist also dieser nichtreduktionistische Physikalismus. Er setzt sich dem reduktionistischen Physikalismus entgegen. Diese strengere Art von Physikalismus entstand vor 100 Jahren im Wiener Kreis. Man ging davon aus, dass alles, was existiert, hinreichend durch Physik erklärbar sei. Psychologie sei auf Biologie, Biologie auf Chemie und Chemie auf Physik reduzierbar und alle Weltinhalte seien daher aus wenigen physikalischen Formeln abzuleiten. Dieses Programm war von vornherein utopisch, denn wie sollte man z. B. Gefühle, Ahnungen, Phantasien, Begründungsleistungen, kurz das Mentale, quantifizieren und in physikalische Formeln hineinpressen, von Lebensphänomenen zu schweigen, die sich ebenfalls als sperrig erwiesen haben.

Dass dieser reduktive Physikalismus sehr lange, sozusagen wider besseres Wissen, gehalten wurde, scheint daran zu liegen, dass er die Einheit der Welt garantierte. In der Tat, wenn alle Weltinhalte aus wenigen Gleichungen abgeleitet werden können, dann liegt die Einheit der Welt eben in dieser Ableitung begründet und wenn wir weiter voraussetzen, dass die Physik eine materialistische Instanz ist, dann scheint der weltanschauliche Materialismus wissenschaftlich gerechtfertigt. Es ist offenbar so, dass die Menschen ein unstillbares Verlangen haben, die Einheit der Welt zu denken und wenn Gott als traditioneller Garant dieser Einheit abdankt, dann bleibt sein Thron nicht etwa leer, sondern es besetzt ihn ein Anderer.

Nun hat sich aber gezeigt, dass dieses rigide Reduktionsprogramm nicht erfüllt werden kann. Es gelingt uns nicht, Lebensphänomene auf physikalische Prozesse zurückzuführen, vor allem aber nicht die mentalen Zustände. Also führte man den sogenannten nichtreduktionistischen Physikalismus ein, der heute die Mehrheitsmeinung zu sein scheint. Der nichtreduktionistische Physikalismus verbindet einen ontologischen Reduktionismus mit einem gnoseologischen Antireduktionismus. Er hält also daran fest, dass alles Existierende nichts sei als bloße Materie, dass wir aber eine Mehrheit nicht aufeinander reduzierbarer Diskurse brauchen, um dieses Identische zu begreifen. Aber diese Mehrheit von Diskursen fällt nur auf die Seite des begreifenden Subjekts. Die Objekte sind davon unberührt und sind ihrer Substanz nach weiter nichts als Materie. Von daher ist der Begriff des nichtreduktionistischen Physikalismus ambivalent. Das nichtreduktionistisch bezieht sich nur auf die Theorie. Ontologisch gesehen reduziert dieser Physikalismus dennoch alles auf die Materie. Aber es klingt eben besser.

Die Inder vergleichen ihren – allerdings geistphilosophisch verstandenen – Monismus gerne mit Blinden, die einen Elefanten betasten: Der eine sagt, der Elefant sei eine Walze, der andere, es handle sich um vier Säulen und der dritte fasst den Elefanten am Rüssel und hält ihn für eine Schlange. Dabei handelt es sich um ein und dasselbe Objekt, aber unter drei verschiedenen Arten von Beschreibung.

Man sieht aber, wo die Voraussetzung dieser Metapher herrührt: Es muss außer den drei Blinden noch einen geben, der wirklich sieht, sonst kann die Einheit des Objekts nicht realisiert werden. Der Sehende ist der Erleuchtete. Aber woher nimmt dann der Materialist seine Erleuchtung? Es ist dem Verfasser nicht gelungen, in der ausgedehnten Literatur irgendein vernünftig nachvollziehbares Argument zu finden, das die Position des nichtreduktionistischen Physikalismus rechtfertigen würde. Sie ist in der Tat absurd und diejenigen, die sie halten, versichern immer nur, dass sie wahr sei, wobei offensichtlich der Wunsch Vater des Gedankens bleibt. An sich impliziert nämlich der nichtreduktionistische Physikalismus einen ontologischen Pluralismus, wie leicht zu sehen. Wenn es der Fall ist, dass uns Realität nur mit Hilfe nicht aufeinander reduzierbarer Wissenschaften, also Physik, Chemie, Biologie usw. erkennbar wird, dann kann die Einheit hinter dieser unreduzierbaren Vielheit nicht Gegenstand einer dieser Spezialwissenschaften sein, die uns ja nur Kenntnisse über bestimmte Aspekte der Welt vermitteln. Sie beziehen sich daher niemals auf das Ganze. Das heißt aber: Wenn wir von diesem Standpunkt aus die materielle Einheit aller Dinge begründen wollten, dann bräuchten wir einen von den Einzelwissenschaften gänzlich unabhängigen Zugang zur Realität und es ist nicht ersichtlich, wo der herkommen sollte, wenn es nach materialistischer Überzeugung keine Erleuchtung gibt. Wer also behauptet, alles sei der Substanz nach nichts als Materie, der trägt die Beweislast. Stattdessen versichern uns die entsprechenden Autoren immer nur, dass alles Existierende aus Materie und nur aus Materie bestehe und dass allein aus diesem Grunde der Materialismus wahr sei.

Aber das ist ungefähr so schlüssig wie die grobmaterialistische Aussage „Der Mensch ist, was er isst“. Zwei Personen können dasselbe essen, aber ganz Verschiedenes oder auch gar nicht denken. Natürlich wird, wer auf die Dauer nichts mehr isst, auch nicht mehr denken können, aber das bedeutet nicht, dass die materielle Basis den Überbau inhaltlich bestimmt.

Und so verhält es sich auch mit dem verbreiteten Argument, der Materialismus sei schon allein deshalb wahr, weil alle Objekte aus Materie bestehen. Ein Computer besteht z. B. ganz offensichtlich aus Materie, aber bei seiner Konstruktion musste der Ingenieur dezidiert Gebrauch machen von seinen geistigen Kompetenzen, sonst würde es keine Computer geben. Der Geist wird hier in die Materie hineingebaut. Er ist ihr immanent und wenn Menschen gleichermaßen aus Materie bestehen, so schließt auch dies noch längst nicht aus, dass es der Geist ist, der den Menschen zum Menschen macht, unbeschadet der Tatsache, dass er fest mit der Materie verbunden bleibt.

Die unreduzierbare Vielheit der Disziplinen, die der nichtreduktionistische Physikalist anerkennt, verweist in Wahrheit auf einen ontologischen Pluralismus. Es gibt im eigentlichen Sinne nicht nur Atome, sondern auch Lebewesen oder geistbegabte Menschen als selbstständige Größen.

Der nichtreduktionistische Physikalismus als die heute herrschende Mode ist nichts als ein materialistisches Glaubensbekenntnis, das dem verzweifelten Bemühen entspringt, die Einheit der Welt nach dem „Tode Gottes“ zu denken. Wir haben damit ein Muster gewonnen, nach dem die Beispiele des dritten Kapitels verständlich werden: Der szientifische Materialist fängt zunächst in der Tat mit der Wissenschaft an. Er stützt sich auf die verlässlichsten Erkenntnisse, die wir haben, stürzt dann aber in einen kruden Monismus ab, den er mit Hilfe von schwammigen, intensional unbestimmbaren Begriffen ausstaffiert. Das sind dann Begriffe, die wissenschaftlich klingen sollen wie Materie, Selbstorganisation, Information, Kausalität, Supervenienz usw. Die genauere Überprüfung wird aber zeigen, dass solche Begriffe extrem mehrdeutig sind und dass sie die weltanschauliche Last nicht tragen können, die ihnen aufgebürdet wird. Es handelt sich um Glaubensbekenntnisse im Gewand der Wissenschaft und dies rechtfertigt, im Sinn Karl Rahners von „gnoseologischer Konkupiszenz“ zu sprechen. Die Begierde hat den Verstand außer Kraft gesetzt.

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