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Der Wert der Arbeit

Heute ist die Arbeit ein Beweis für Existenz. Wer nicht arbeitet, ist nicht.

In sich schon. Aber nicht im sozialen Netz der Vergleichspersonen. Mehr Einkommen lässt uns mehr Prestigegüter kaufen. Die gesellschaftliche Achtung steigt. So wie die Ächtung für jene, die nichts zu zeigen haben, weil sie vielleicht die Arbeit losgeworden sind. Unfreiwillig. Arbeitslos.

Arbeit gibt Prestige. Dessen Aufwertung zur Sinnstiftung bedarf keiner großen Schritte mehr. In diesem Fall könnten wir also formulieren: Arbeit macht Sinn.

Mehrarbeit macht demnach nicht nur mehr Sinn, sondern bringt auch ein höheres Einkommen. Und diese Mehrarbeit macht der Arbeitende selbstverständlich freiwillig. (Achtung Ironie.) Der Philosoph Nils Markwardt bringt es auf den Punkt: „Überstunden werden jetzt nicht mehr paternal verordnet, sondern die Kollegen werden vom jovialen Chef mit dem Verweis auf Teamspirit des gemeinsamen Projekts freiwillig zum Bleiben gebracht. Die Pointe: Der permissive Befehl ist viel stärker als der andere, weil ja der Chef mich nicht zur Arbeit gezwungen, sondern lediglich zur Einsicht in die vermeintliche Notwendigkeit gebracht hat.“10

Die deutsche Fernsehjournalistin Fabienne Hurst widmete sich in einer Reportage dem verordneten Glück durch Unternehmen, nennen wir es „Motivation Total“, und beschreibt, was in einer deutschen Bäckerei so abgeht.

In dieser Bäckerei herrscht „Corporate Happiness“. Nicht mittels höherer Löhne, sondern durch Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomie. Am auffälligsten ist das seit Jahren so beliebte Gummibändchen am Handgelenk zur Anbringung diverser Botschaften. Auf dem Bändchen der Bäckereimitarbeiter steht: „Stop complaining“. Also: „Hör auf, dich zu beschweren.“ Oder ins Österreichische übertragen: „Sudere nicht!“

„Ein Bändchen auf dem Weg ins Glück“, kommentiert es die Redakteurin des Beitrages. Aber laut Firmenphilosophie soll das Bändchen nicht tagaus, tagein am Handgelenk herumhängen, sondern dumme Gedanken am Arbeitsplatz verhindern. Das alles ist kein Scherz. Tatsächlich sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgefordert, das Bändchen auf das andere Handgelenk zu geben, wenn man sich über etwas aufgeregt oder beschwert hat. Ziel ist es, das Bändchen 21 Tage lang am selben Handgelenk zu tragen. Und zwar 21 Tage in Folge. Das bedeutet dann, dass man sich drei Wochen lang über nichts aufregen oder beschweren musste. Die Idee stammt von einem früheren Finanzmanager und heute – auch von der Großbäckerei – gut bezahlten „Erfolgs- und Glückscoach“.

In diesem Unternehmen können auch „Happiness“-Punkte gesammelt werden. Mehr Punkte bedeuten einen höheren Rang im Glücksranking der Firma. Natürlich kann man seinen Kontostand schon mal ordentlich aufbessern, wenn man – im Sinne des Firmenglücks – ab und an mal bis 22:00 Uhr noch Dinge erledigt. Schließlich gilt es, den Führenden im Glücksranking vielleicht heuer doch noch einzuholen.

Moderne Erpressung? Aber nein! Einfach ehrliche Motivation durch den so einfühlsamen Vorgesetzten. Wichtigste Zutat laut Fabienne Hurst: „Die Mitarbeiter sollen nicht merken, dass sie zielgerichtet motiviert werden.“11

Auch Nils Markwardt sieht das gleichermaßen: „Die vermeintliche Freiwilligkeit ist ein unglaublich effektives, aber unter Umständen auch perfides Instrument der Führung … denn Selbstführung produziert ja relativ wenig Widerstand, weil die Leute oft nicht merken, dass sie geführt werden – oder weil sie es selbst wollen … In dem Moment, wo Mitarbeiter Freunde oder sogar eine Art Familie sind, fällt auch so ein gewisser Spielraum weg, ‚Nein‘ zu sagen.“12

Anerkennung ist nicht Selbstverwirklichung. Vielleicht auf den ersten Blick. Wer heute mit dem Zug fährt, sieht viele Pendler in Arbeit vertieft. Texte schreibend, Mails beantwortend. Ähnlich im Flugzeug, wenn es sich nicht gerade um einen Ferienflieger handelt. Die Laptop-Benutzer wirken angespannt und ernst. Nicht wirklich glücklich. Aber auch nicht unglücklich. Man fragt sich, gehen diese Leute gerade in sich auf oder verfehlen sie sich gerade? Oder wissen und spüren sie nicht mehr, ob ihnen das, was sie machen, auch inneren Lebenssinn bereitet.

Wenn etwa der Vorgesetzte anweist: „Gehen Sie doch in den Randzeiten zum Arzt“, dann ist das natürlich sein gutes Recht, aber die ausgesprochene Botschaft ist größer und versteckt sich im Wort Randzeit. Hauptzeit ist Arbeitszeit. Hauptlebenszeit ist Arbeitszeit.

Arbeit – die größte Selbstverständlichkeit der Welt. Warum eigentlich? Zur eigentlichen Sinnfrage kommen wir erst später, aber eine Vermutung des kanadischen Philosophen Mark Kingwell sei schon an dieser Stelle angeführt. Kingwell fragt sich, warum sich Arbeit als etwas Unvermeidliches präsentiert und gleichzeitig unter Verwendung eines Netzes von Finten und bestimmten Arbeitgebermethoden auch als etwas Angenehmes. Der wichtigste Effekt ziele auf die Verbreitung der Gewissheit ab, dass Arbeit grundsätzlich notwendig sei. „Jeder akzeptiert, dass jeder einen Job haben muss, weil er weiß, dass er einen Job haben muss.“13 Arbeit bringt Ansehen. Mehr Arbeit noch mehr Ansehen.

„Hatte Jahwe einst den Menschen mit lebenslanger Arbeit für den Sündenfall bestraft, scheint die Arbeit für uns heute selbst der Himmel auf Erden zu sein“14, schreibt die Philosophin Svenja Flaßpöhler.

Was aber ist, wenn nicht Arbeit ist? Egal, ob nun erzwungenermaßen (weil arbeitslos) oder freiwillig? Die Zeit einige tausend Jahre zurückdrehen und auf eine neue, wieder von der Muße bestimmte Antike hoffen? Für irgendetwas muss es sich doch zu leben lohnen außerhalb von reinen Genusswelten.

Wir stoßen nun auf eine der wahrscheinlich wichtigsten und ältesten Frage der Philosophie. Was ist das gute Leben?

DAS GUTE LEBEN

Das gute Leben.

Irgendwie haftet diesen in 1,73 Sekunden gelesenen drei Worten etwas Banales an.

Weit gefehlt.

Sokrates, Platon und Aristoteles haben in dieser Phrase das eigentliche Ziel der Philosophie gesehen. Gemeint haben sie eine gelungene Lebensführung und dass erst dadurch so etwas wie Lebensglück entstehen könne. Glück ist also das Resultat eines Verhaltens. Wobei Glück keine gute Übersetzung des Wortes ist, um das es tatsächlich gehen soll, das in der antiken Philosophie gemeinte Wort war Eudaimonie (auch Eudämonie, altgriechisch eudaimonía). Oft bleibt Eudaimonie bis heute unübersetzt. Am besten beschreiben würde es in etwa ein „seelisches Gesamtwohlbefinden als Resultat einer gelungenen Lebensführung nach den Anforderungen der Ethik“15.

Es ist schon merkwürdig. Nach vielen Jahrhunderten der Stille um „das gute Leben“ erlebt es in der Philosophie eine plötzliche Renaissance. Kaum ein Philosoph, kaum ein Qualitätsmedium, egal ob Print, Radio oder Fernsehen, kommt seit Jahren am guten Leben vorbei; an den Universitäten hat dieses eigentliche Ziel der philosophischen Forschung wieder Einzug gehalten, die Studierenden sind begeistert und spüren gute Lebensnähe des jahrzehntelang verstaubten Fachs. Dabei ist das gute Leben ein zentraler Begriff und das Hauptziel der Sozialethik.

Eine der Expertinnen zu diesem Thema im deutschsprachigen Raum, Univ. Prof. Dr. Dagmar Fenner von der Universität Basel, die sich selbst als Philosophin und Ethikerin bezeichnet, zitiert selbst einen Philosophen: Man habe in den letzten Jahren tatsächlich den „Eindruck gewinnen können, dass die Grundfragen der Ethik auf die Gasse geraten“ seien.

Und tatsächlich hatte sich diese Suche nach einer wissenschaftlich begleiteten Lebensformel in die Ratgeberliteratur, die Welt der Lebensberater, bis hinein in die Wellnesstempel begeben. Von der Werbebranche gar nicht zu reden. Wie viele Produkte hatten in den letzten Jahrzehnten gleichzeitig ein gutes Leben und körperliches Wohlbefinden – natürlich für mindestens fünf Jahre garantiert – versprochen, wenn man sie doch einfach nur kaufen würde. Ratenzahlung willkommen. Nicht inkludiert: die oft Abertausende Euro teuren Esoterikpakete dubioser Heiler und Lichtgestalten.

Aber zurück zur Definition. Man bringe eher zwei Philosophen dazu, die gleiche Zahnbürste zu benutzen, als die gleichen Begriffe zu verwenden, schreibt Dagmar Fenner.

Apropos Zähneputzen. Der deutsche Philosoph Albert Kitzler versteht bezüglich des guten Lebens die Welt schon lange nicht mehr. Für alles Mögliche nehme man sich Zeit, nur für unsere ureigenen seelischen Bedürfnisse nicht. „Im Vergleich schneidet das Zähneputzen besser ab als die Sorge für den eigenen psychischen Haushalt. Wen wundert es? Wer hat uns denn beigebracht, wie wir uns um unser Seelenleben kümmern sollen?“16

Weshalb sind wir bei der Einhaltung bestimmter Abläufe und Rituale nur so unglaublich streng mit uns, warum stets so erpicht darauf, nur ja nicht von den selbst – oder den Eltern – vorgezeichneten Lebenslinien abzuweichen, wissend, dass es sich selten um tatsächlich Bedeutendes oder gar Existenzielles handelt? Wie wichtig ist in vielen Familien nach wie vor die punktgenaue Einhaltung der Essenszeiten oder gar die auf einen bestimmten Wochentag festgelegte Speise. Spaghetti immer samstags. Ja, warum denn eigentlich? Und man denke nur an die an den Wochenenden und vorwiegend in manchen Land- oder stadtnahen Gegenden zu beobachtenden Pkw-Schlangen samt Sonntagsfahrern vor Waschanlagen.

Völlig anders geht der Mensch von heute mit seinen ureigenen Bedürfnissen um. Wer nimmt sich Zeit, kurz innezuhalten? Was wäre denn hier und jetzt für mich gut? Sodass ich am Ende des Tages ruhigen Gewissens sagen kann: Das war ein guter Tag. Ist die Sorge um das eigene seelische Wohlbefinden und um jene, die uns wirklich nahestehen, nicht nur ein Bruchteil jener Sorge um andere?

Wie oft stecken wir Energie in die Aufrechterhaltung oder Wiedergewinnung der Gunst des Vorgesetzten, um Arbeitstage friktionsfreier erleben oder manchmal auch nur aushalten zu können?

Wozu das alles?

Spätestens an den Wochenenden schlägt sie dann zu, diese für immer mehr von uns offenbar unbeantwortbare Frage nach der Lebenskunst. Wer nimmt sich Zeit und überlegt einmal für eine Stunde?

Will ich diese jahrelang eingeübten Abläufe in meinem Leben noch?

Mag ich meine mir selbst immer mehr auffallenden Gewohnheiten noch?

Will ich meine Persönlichkeit überhaupt weiterentwickeln?

Den eigenen Körper betreffend, sind die meisten schon viel weiter. Vor allem seit die Welt der Breitensportler dem Vermessungswahn verfallen ist, kennen wir ihn so gut wie noch nie. Ohne Arzt, aber dank smarter Laufuhr und Online-Fitnesstrainer. So ist uns jede Übung für jeden speziellen Muskel bekannt, wir wissen, wie hoch der Puls im anaeroben Bereich ist (also dort, wo man während des Laufens nur noch atemlos sprechen kann), und Sixpack hat schon lange nichts mehr mit sechs Bierflaschen zu tun.

Aber was es zu tun gilt, damit es der Seele wieder besser geht – ohne jetzt an fremde Hilfe oder Tabletten zu denken –, also das, was wirklich Zufriedenheit in uns auslöst, das wissen in den westlichen Wohlstandsgesellschaften immer weniger Menschen.

Sollen wir uns diese Frage überhaupt stellen? Hätten wir kein Bewusstsein und unendliche Lebenszeit, müssten wir uns diese Mühe wohl nicht antun. Da wir Ersteres sehr wohl und Letzteres leider nicht haben, wäre es wohl nicht unklug, ab und an darüber nachzudenken, was zu tun ist, um am Lebensabend – ganz bei sich – mit einem „Ja, es war ein gutes Leben“ tief durchatmen zu können.

Der (philosophische) Spielraum verengt sich mit der ersten Geburtssekunde.

Jeder Mensch wird in eine Kultur, eine Gemeinschaft, Religion, Tradition hineingeboren. Viele Antworten sind also schon gegeben, bevor selbstständig geatmet wird. Viele bleiben diesen Antworten auch treu und orientieren sich an ihnen. Jahrhundertelang hat das auch funktioniert. Gott, Kirche, Elternhaus, Beruf und Wohnort der Eltern. Das „gute Leben“ lag am Tisch. Ob es wirklich gut war, diese Frage stellte sich nicht oder durfte nicht gestellt werden.

Das Koordinatensystem des Lebens war vorgegeben, klar und unverrückbar. Ein Kosmos mit einem Gott als alleinigem Eigentümer, dessen Geschäftsführer auf Erden der Papst war, und mit weltlichen Leitern wie dem König für die Menschen und dem Mann für die Familie. Hierarchie pur.

Ein gutes Menschenleben war eines, das sich an dieser Ordnung orientierte, Ausbruchsversuche untersagt.

Erst mit der Neuzeit vollzog sich die Wende zum Ich. Was hat sich seit Beginn der Neuzeit geändert? Dazu wollen wir sie hier ganz kurz definieren.

Wir sind im 15. Jahrhundert nach Christus, der Buchdruck ist erfunden, Amerika entdeckt. Schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts (1517) entwickelt sich mit Martin Luther die Reformation und die Spaltung des westlichen Kirchentums in verschiedene Glaubensrichtungen. 1543 rückt mit Nikolaus Kopernikus die Sonne statt der Erde in den Mittelpunkt des Weltbildes.

Um es salopper auszudrücken: Nichts ist mehr so, wie es war. Damals vor 500 Jahren.

Auch der Weg zu Gott, zur „göttlichen Ordnung“, ist ohne die Umleitung über das Ich nicht auffindbar. Es ist also schwieriger geworden, da plötzlich mehrere „Umleitungen“ möglich sind. Über den Verstand, das Bauchgefühl oder das Herz.

Aber diese Hinwendung zum Ich bleibt für unsere Suche nach dem guten Leben im neuen Koordinatensystem des Ichs nicht ohne Folgen. Denn die Gebrauchsanweisung fehlt. Jeder Mensch gelangt also zu einem anderen „guten“ und erträumten Lebensziel. Und weil durch den fortschreitenden Individualismus auch die Philosophie die Frage nach dem guten Leben nicht mehr verwissenschaftlichen kann, verschwindet diese Frage für lange Zeit aus den philosophischen Lehrstühlen der Universitäten.

Seit einiger Zeit scheint das allerdings nicht mehr zu gelten. Denn plötzlich war sie da. So rund um die Jahrtausendwende. Die unerwartete Renaissance der Frage nach dem guten Leben.

Aber warum? Was sind die Gründe dafür, dass Philosophen wieder reden und schreiben und Menschen wieder zuhören und lesen wollen.

Die Philosophin Dagmar Fenner sieht außer- und innerphilosophische Ursachen. Generell sei es das „allgemein gewachsene Bedürfnis nach Handlungsorientierung“ und zudem auch die neue Verständlichkeit der einfacher formulierenden Philosophen.

Andere Philosophen sehen die Krise der Moral im weiteren Sinne als Ursache für die Wiederbeschäftigung mit der Frage nach dem guten Leben. Eine Krise, die aus meiner Sicht durch die zweite große Weltwirtschaftskrise ab 2008 zumindest mitausgelöst worden ist. Wenn zu viele Menschen gleichzeitig vom „So kann es nicht mehr weitergehen“ sprechen, vergrößert sich das Potenzial zum grundsätzlichen Umbruch. Die einen sehen ihn mit Vernunft, die anderen treibt die Lust auf Unvernunft. So war es immer, und so wird es wohl immer sein.

Zunächst zur Vernunft: Diesem Konzept zufolge soll der Mensch vor allem sein Hirn einsetzen, genauer seinen Verstand – und er soll dabei immer versuchen, sich zu kontrollieren. Klingt nicht wirklich neu (Descartes!), dennoch ist ein Unterschied zur Zeit der göttlichen Ordnung klar erkennbar. Denn entscheidend ist nicht, jemandem zu dienen, sondern das Regelwerk für ein gutes, rationales Leben in sich selbst zu finden, und so viele Wünsche und Ziele wie möglich in seinem Leben umzusetzen, aber immer unter der Prämisse, dass der Weg dorthin dem Verstand gehorcht. Spontaneität oder fehlende Impulskontrolle sind unerwünscht, ausschlaggebend ist der eiserne Wille. Es geht also nicht um die spontan an- und einfallenden Wünsche, sondern um Ziele und Erfüllungen stets mit dem Blick auf das ganze Leben. Dazu bedarf es einer genauen Einschätzung von Zeitdimensionen und – vor allem – des permanenten Eingeständnisses von Endlichkeit. Das bedeutet natürlich auch immer wieder Verzicht. Verzicht auf den kleinen, spontanen Wunsch zugunsten der Erreichung eines der großen Lebensziele. Wobei diese Ziele nicht unabhängig nebeneinander, sondern in einer „vernünftigen“ Verbindung zueinander stehen sollten. Denn es müssen auch Prioritäten gesetzt werden. Dazu ist eine gute Planung notwendig. Der Philosoph Martin Seel spricht von Konstellationen von Wünschen.17 Die Wünsche sollten keinen illusionären Charakter aufweisen („Ich bin zwar schon im letzten Lebensdrittel, werde aber noch bei olympischen Spielen mitmachen.“) und sinnvoll miteinander vereinbar sein.

Beim Hedonismus wählen Menschen den umgekehrten Weg: Das Wort hēdonē´ kommt aus dem Altgriechischen und kann kaum besser übersetzt werden als mit Lust und Genuss. Dieses Streben nach Lusterfahrung, so oft und so intensiv wie nur irgendwie möglich, soll hier nicht näher erläutert werden. Jede und jeder weiß, was gemeint ist. Faktum ist, dass die sogenannte hedonistische Theorie eine der philosophischen Grundvarianten für ein gutes Leben ist. Auch diese Lebensform ist aus der Antike bekannt. Nicht selten wird Gott selbst zum Verursacher erkoren, sei er es schließlich gewesen, der diese Lustbedürfnisse dem Menschen mitgegeben habe, was könne also verwerflich daran sein, das Angeborene auch auszuleben. Ein gutes Leben ist demnach umso besser, je größer die Anzahl lustvoller Erfahrungen innerhalb eines Gesamtlebens ist.

G = L / A G (Gutes Leben) = umso höher, je größer L (Lusterfahrung) oder je kleiner A (Aufwand, um zur Lusterfahrung zu gelangen)

Da schimmert als Lebensformel „Die Mischung macht’s!“ durch. Auf den ersten Blick mag das stimmen, auf den zweiten nicht unbedingt. So, wie nicht jeder Mensch ein aus bestimmten Eigenschaften zusammengeschüttetes Misch- oder Durchschnittswesen ist, so sind es auch die Theorien zum guten Leben in ihrer philosophischen Ausprägung nicht. Was dabei herauskommt, wenn Wissenschaften, die aufgrund fehlender Gesetzmäßigkeiten (nicht etwa wie in der Physik: Der Teller fällt vom Tisch auf den Boden, wenn ich ihn zu weit über den Tischrand schiebe = Gravitation!), streng genommen, keine Wissenschaften sind, zeigt die Ökonomie. Noch immer wird an den Volkswirtschaftslehrstühlen der Universitäten der „Homo oeconomicus“ gelehrt, ein Kunstmensch, der immer rational handelt. Wissend, dass die Verhaltensökonomie viele der – mit der Aufrechterhaltung der Theorie des absolut immer ökonomisch sinnvoll agierenden Menschen entstandenen – mikroökonomischen Regeln längst widerlegt hat.

Neben jenen Menschen, die unter einem guten Leben ein eher hedonistisches oder ein rationales verstehen, gibt es auch jene, die ein an Gütern im allerweitesten Sinn orientiertes Leben als „gut“ ansehen.

Ganz neu ist die aktuelle individuelle Suche nach dem Guten im 21. Jahrhundert natürlich dennoch nicht. Trotz all der früheren klaren Orientierungen vom Himmel herab dachte auch schon Sokrates, dass immer ein wenig Spielraum bleibe, wenn er die Menschen dazu aufforderte, in jedem Gespräch das eigene Denken zu überprüfen. „Ein Leben ohne Selbstprüfung ist nicht lebenswert.“18 In anderen Übersetzungen heißt es sogar, dass man sich ein Leben ohne Selbstcheck „gar nicht verdient“ habe.

Natürlich kann das auch übertrieben werden. Zeitgenossen, die tagtäglich – und es gibt sie – über die Für und Wider ihres momentan geltenden Lebensentwurfes sinnieren, sollen wenn möglich nicht zum Vorbild gereichen. Sehr oft – muss man bedauerlicherweise feststellen – gleiten diese bemitleidenswerten (kein Zynismus!) Einzelkämpfer ins Neurotische ab und landen mehr oder weniger lang im Zwang.

Versuch zum „objektiv“ Guten

Bisher haben wir eher von subjektiven Theorien gesprochen, den Wünschen, Zielen und Bedürfnissen, die eine einzelne Person in sich trägt und mit deren zumindest teilweiser Erfüllung sie gerne ein an und für sich gutes Leben basteln würde. Legen wir aber die Betonung auf an und für sich, also auf das, was die deutsche Sprache unter „im Allgemeinen“ versteht, wird es deutlich schwieriger mit der Definition des guten Lebens. Und man kann es drehen und wenden, wie man will, der Mensch wird immer auch auf der Suche nach etwas Allgemeingültigen sein. Ob das dann wissenschaftlich fundiert ist, ist ihm eher egal. Es sollte also doch etwas sein, worunter viele Menschen ein gutes Leben verstehen könnten – unabhängig von den individuellen Lebenszielen des Einzelnen. Etwas „objektiv“ Gutes und Wertvolles. Hier landen wir sehr rasch bei Charles Taylor. Der 1931 in Montreal geborene Politikwissenschaftler und Philosoph sieht die Wurzeln für die Ratlosigkeit der Moderne ebenfalls in der späteren Neuzeit, als den Menschen schrittweise die „umfassende Ordnung“ abhandengekommen ist. Taylor spricht von einer kosmischen Ordnung und einer Kette der Wesen. Wir haben diese Kette bereits erwähnt: Gott, Kirche, Hierarchien – und viel mehr ist da nicht. Der Verlust dieser Ordnung leite eine Verengung des Lebens ein, so Taylor weiter. Eine Reduzierung vom großen Ganzen auf das Ich. Dass Menschen das Private zugunsten einer beruflichen Karriere opfern, ist nicht neu, dass aber heute viele meinen, sie müssten mit ihrem Leben so verfahren, weil es sonst ein vergeudetes wäre, stimmt schon längere Zeit nachdenklich.

Laut Taylor lande der Mensch so beim „Ideal der Authentizität“. Ideal ist ironisch gemeint, wenn der kanadische Philosoph gleichzeitig darauf hinweist, wozu dieses ausschließliche Hören auf die eigene innere (Vernunft-)Stimme führe. Denn, wenn jeder seine eigene Wahrheit in sich spürt, degradiert er damit alle anderen zu Instrumenten für sein eigenes Wohlbefinden, also für sein eigenes gutes, aber für andere gar nicht so gutes Leben. Es entsteht eine Welt von Einzelkämpfern oder eine fragmentierte Gesellschaft.

Da liegt die Vermutung nahe, dass die gesamte Gesellschaft, jede Vereinigung, ja jede politische Partei für diesen Einzelkämpfer, diese Einzelkämpferin instrumentalisiert wird. Wie kann dann aber ein gemeinsamer Zweck einer Gesellschaft definiert werden?

Für Taylor ist das nur dann möglich, wenn diese Selbstverwirklichung, nennen wir sie hier eine Selbstverwirklichung ohne Rücksicht auf (andere) Verluste, von einem Gefühl für das wirklich Wichtige begleitet wird. Es sollte also bei jeder individuellen Entscheidung etwas mitschwingen, von dem man spürt, dass es eine gewisse allgemeine Bedeutung hat. Oder noch präziser formuliert: Man sollte in der Lage sein, genau das herauszufinden, was einem in ganz bestimmten Punkten von anderen unterscheidet, warum es einem wichtig und warum dieses Unterschied machen zu anderen grundsätzlich bedeutend ist.

„Anders formuliert, die eigene Identität kann ich nur vor dem Hintergrund von Dingen definieren, auf die es ankommt. Wollte ich jedoch die Geschichte, die Natur, die Gesellschaft, die Forderungen der Solidarität und überhaupt alles ausklammern, was ich nicht in meinem eigenen Inneren vorfinde, so würde ich alles ausschließen, worauf es möglicherweise ankommen könnte. Nur wenn ich in einer Welt lebe, in der die Geschichte, die Forderungen der Natur, die Bedürfnisse meiner Mitmenschen, die Pflichten des Staatsbürgers, der Ruf Gottes oder sonst etwas von ähnlichem Rang eine ausschlaggebende Rolle spielt, kann ich die eigene Identität in einer Weise definieren, die nicht trivial ist.“19

Aber was sind nun objektive „Güter“, die – sollte man sie zur Verfügung haben – zu einem guten Leben führen?

Selbstverständlich sind darunter auch

materielle Güter

zu verstehen. Es stimmt nicht, dass bestimmte Dinge, so man sie sich schon länger wünscht und irgendwann hat, nicht glücklich machen. Sie schaffen das manchmal sehr wohl, zumindest für eine gewisse Zeit. Dann muss wieder etwas Neues her. Doch davon, warum welche Dinge glücklich machen, allerdings nicht für immer und überhaupt zur Frage, was ist Glück und was führt dorthin, etwas später im Kapitel Glück.

Weiters führen

anthropologische Güter,

so man sie hat, ziemlich sicher zu einem besseren Leben. Darunter sind etwa spezielle Fähigkeiten und Eigenschaften zu verstehen, die man hat oder gerne besitzen würde, um bestimmte menschliche Grundbedürfnisse stillen zu können. Abraham Maslow hat auf vereinfachende Weise in seiner Bedürfnispyramide versucht, diese menschlichen Bedürfnisse zu beschreiben. Seine Hierarchie der Bedürfnisse basiert auf vielen Experimenten und bestimmten klinischen Befunden bei physisch Kranken.


Abraham H. Maslow. „Motivation and Personality“, 1954

Auch

konstitutive Güter20

sind Bestandteile eines guten Lebens:

• Gesundheit und Schmerzfreiheit,

• die Fähigkeit, Fantasie und Denkvermögen zu gebrauchen,

• die Fähigkeit zur sozialen Integration,

• Arbeit und politische Mitbeteiligung,

• Spiel und Erholung,

• die Fähigkeit zur Freiheit der Selbstbestimmung.

Und schließlich wollen wir noch auf die vierten „objektiven“ Güter eingehen, die zumindest jene gerne in sich tragen würden, für die der Weg des guten Lebens mit Schwärmerei, Verträumtheit, Fantasie, Idealen, Feingefühl und Feinsinnigkeit, Zartbesaitung und einer gehörigen Portion Realitätsferne gepflastert ist:

die romantischen Güter.

Aufgekommen vor 300 Jahren mit dem 1712 in der Schweiz geborenen Philosophen und Pädagogen Jean-Jacques Rousseau, zeigt sich dieses gefühlsbetonte Handeln letztlich bis heute als ein möglicher Weg, um ein gutes Leben zu führen. Die Gefühle und nicht die Vernunft führten zu Sinnstiftung, lehrte Rousseau, und dieser sinnstiftende Wert rage über den einzelnen Menschen hinaus. Gemeint sind das Schöne, die Kunst, die Erkenntnis, das Humane an sich – und natürlich auch das weit über Gefühle und Einzelinteressen des Menschen Hinausragende: die Religion, das Soziale und die Liebe.

Auch Menschen, die ihr Leben für eine gerechtere Welt aufs Spiel setzen, Menschen, für die die Vernunft nie Endzweck, sondern maximal Mittel zum Erreichen eines wirklich großen Gefühls ist, gehen den romantischen Weg. So gesehen, ist dieser romantische Weg auch klar abgrenzbar von seinem hedonistischen Bruder. Die Sinnstiftung ragt weit über das einzelne Ich hinaus.

Soweit also zur Theorie, den subjektiven und objektiven Varianten für ein gutes Leben aus Sicht der Philosophie. In der knappest möglichen Form.

Jedenfalls scheinen diese verschiedenen Wege zum guten Leben kulturell tiefer verankert zu sein, als manchen heute noch lieb ist. Das Denken der Eltern, Großeltern, Ur- und Ur-Ur-Generationen so einfach abzulegen, gelingt wenigen, viele wollen es auch gar nicht. Und so landen doch einige von uns in einem der kulturell vorgesehenen Lebenswege. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Aufsatz des Salzburger Philosophen Michael Zichy, der für jeden Menschentypen auch die passenden „Anweisungen“ der Alten gefunden hat: von „Sei vernünftig!“ (der rationale Typus) über „Carpe diem!“ (der Hedonist) bis zu „Folge deinem Herzen!“ (der romantische Typ).21 Imperative, die für jeden von uns „nach wie vor zu spüren seien“. Das „Du lernst nicht für mich, sondern fürs Leben!“ meiner mich schultechnisch dominierend aufziehenden Großmutter hallt bis heute nach (rationalistischer Ansatz). Auch das von Oma stets an Sonntagen gepredigte: Heute früher schlafen gehen, denn „morgen beginnt wieder der Ernst des Lebens“. Oder das „Eine ordentliche Tanzschule ist für einen 16-Jährigen mindestens so wichtig wie gute Noten!“ meines Vaters (hedonistisch). Mit dem Imperativ „Nie lügen und immer deine Gefühle zeigen!“ (romantisch) meiner hochgeschätzten Mama wollen wir die Theorie belegende Praxisbeispiele fürs Erste aber auch schon wieder abschließen.

Gegen Ende des letzten Jahrtausends schien die Sache klar. Ein gutes Leben können alle führen, die das Glück gefunden haben. Also alle, die die Frage: „Sind Sie glücklich? / Bist du glücklich?“ mehr oder weniger verzögerungsfrei mit „Ja“ beantworten können.

Was lag also näher als der Schluss, wenn jede Einzelne, jeder Einzelne glücklich ist, dann wird wohl auch eine gesamte Nation, eine Volkswirtschaft, glücklich sein? Und so explodierte die Zahl der Glücksforscher – sowohl in der Populärpsychologie als auch in der Ökonomie. Zum einen sollte das Individuum in Glücksratgebern erlernen können, wie es rundum glücklich werden könnte, in „Fachkursen“ diverser Glücksexperten wurde man Sorgen und Geld los, das Geschäft florierte. Zum anderen traten mit zeitlichem Abstand die Ökonomen auf den Plan. Glücksforscher, wohin das wissenschaftliche Auge auch blickte. Bruttonationalglück statt Bruttonationalprodukt.

Das Königreich Bhutan in Südasien ist weltweit nach wie vor das einzige Land auf Erden, das den Wohlstand, den sein Volk genießen darf, mittels Bruttonationalglück (BNG) misst. Bald dreihundert Jahre (seit 1729) heißt es dort sinngemäß in der Verfassung: Schafft eine Regierung für sein Volk kein Glück, dann hat diese auch keine Existenzberechtigung.

Wohlstand statt Wachstum – und das vor knapp drei Jahrhunderten.

Der einzige Haken: Was Glück erzeugt, bestimmt der Staat. Politik und Wirtschaft sollen drei Ziele erreichen:

• eine sozial gerechte Gesellschaft,

• Kultur und Religion müssen bewahrt und gefördert werden,

• Umweltschutz und Nachhaltigkeit.

Die Regeln macht der Staat – allerdings, und darauf ist man recht stolz: basierend auf alle fünf Jahre durchzuführenden Umfragen mittels Fragebogen, in denen den Bürgern von Bhutan entlockt werden soll, was sie denn nun wirklich glücklich mache.

Womit wir uns im Kreis gedreht haben. Was, wenn der Einzelne nicht genau weiß, was ihn glücklich macht? Und auch wenn er es für sich ganz allein und vielleicht für seine Familie weiß, was, wenn diese Vorstellungen schon denen widersprechen, die der Straßennachbar gegenüber hat? Oder noch schlimmer, wenn jene Maßnahme, die das Glück des einen steigert, der andere als Nachteil, also als Glücksschrumpfung bilanziert?

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9783991003120
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