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Kapitel 2

Micha

Die Schaukel im Garten seines Elternhauses hatte sich nicht verändert. Micha hoffte, dass sie das auch in Zukunft nie tun würde.

Die Kanten des Autoreifens schnitten ihm durch die Jeans in die Beine, während er langsam vor und zurück schaukelte. Er spürte es kaum. Selbst nach fast fünfzehn Jahren kam es ihm noch nicht ganz wie sein Garten vor. Vor allem, da er die letzten sieben Jahre nicht hier gelebt hatte.

Er hielt sich oben am Reifen fest und ließ die Schuhspitzen über den Boden schleifen. Ihm war kalt. Er hätte eine Jacke anziehen sollen, brachte aber nicht die Energie auf, ins Haus zu gehen und sie zu holen. Er betrachtete die orangegelben Blätter, die den Boden bedeckten oder noch an den Bäumen hingen. Bald war Halloween und Pops würde das Haus von oben bis unten schmücken, wie er es immer machte.

Micha wünschte sich so sehr, sich hier zu Hause zu fühlen. Es gab keinen Grund, das nicht zu tun. Dad und Pops hatten immer alles getan, damit er sich als Teil der Familie fühlen konnte – zusammen mit seinen älteren Adoptivgeschwistern. Micha wünschte nur, er wäre nicht so verdammt kaputt.

Er wusste, er würde nie irgendwohin gehören.

Außer vielleicht in das Haus in Seattle. Für ein Jahr oder so hatte er sich dort wohlgefühlt. Solange er sich an Dales Regeln hielt, was er auch getan hatte…

Vergiss Dale, zischte eine Stimme in seinem Kopf. Der soll sich mit seinen Regeln zum Teufel scheren. Michas Finger krallten sich in den kalten, harten Gummireifen und er blinzelte die Tränen weg, die ihm in die Augen stiegen. Dale hatte ihn in dieser Nacht hinters Licht geführt und einfach fallen lassen. Beinahe hätte er sogar Brie mit reingerissen, und das konnte Micha ihm nicht verzeihen. Micha mochte ein Nichts sein, aber Brie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich. Sie wollte Sängerin werden.

Sie war etwas.

Micha wusste, dass er Glück gehabt hatte. Er war nur zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt worden. Na ja, eigentlich zu zehn Monaten, weil er zwei davon schon abgesessen hatte. Aber sosehr er es auch versuchte, er konnte es nicht als Gewinn sehen.

Er fragte sich, ob dieses quälende Gefühl der Demütigung wohl jemals nachlassen würde. Der Augenblick, in dem er zum Telefon gegriffen und seine Eltern angerufen hatte, war tief in sein Gedächtnis eingebrannt und überflutete ihn mit Schuldgefühlen, wann immer er sich daran erinnerte. Was nahezu ständig der Fall war. Die Enttäuschung in Pops' Stimme war unüberhörbar gewesen. Micha hatte es kaum ertragen können.

Doch Pops hatte Micha geglaubt, als er ihm die Geschichte erzählte. Die ganze Familie hatte ihm geglaubt. Natürlich hatten sie das. Micha wusste selbst nicht, warum. Sosehr er sie und ihr perfektes Leben auch von sich wies, um nicht an seine eigenen Fehler und sein Versagen erinnert zu werden, so sehr versuchten sie immer wieder, ihn in den Schoß der Familie zurückzubringen.

Er schnaufte. Seine Augen brannten, aber er wollte nicht weinen. Er war erst seit einigen Tagen wieder zu Hause und wurde schon wieder unruhig. Er wusste, sie gaben ihr Bestes, behandelten ihn freundlich und rücksichtsvoll. Sie sprachen seine Festnahme und die letzten sieben Jahre, die er sich in Seattle durchgeschlagen hatte, nicht an. Micha war das schwarze Schaf der Familie, hatte nicht studiert und schaffte es nicht, eine feste Arbeit anzunehmen. Ihr Verständnis und ihre Vergebung machten es für ihn noch schwerer. Er fühlte sich danach jedes Mal undankbar. Es war ein Teufelskreis, dem er nicht entkommen konnte.

Aber Micha war auch Realist. Er konnte nicht in das Haus nach Seattle zurück und durch die Vorstrafe würde es ihm noch schwerer fallen, dort Arbeit zu finden. Hier konnte er mietfrei bei seinen Eltern wohnen, was vernünftig war – wären da nicht diese Depressionen, die ihn immer wieder überkamen.

Es war bedauerlich, dass er nicht in das Haus nach Seattle zurückkehren konnte. Es war der einzige Ort in seinem Leben gewesen, an dem er jemals offen schwul gelebt hatte – im Gegensatz zu seinen One-Night-Stands, aber die zählten nicht, weil er keinen der Männer jemals wiedergesehen hatte. In dem Haus waren alle schwul gewesen und Micha vermisste dieses wohltuende Gefühl, sich nicht verstellen zu müssen.

Doch er konnte nicht zu Dale zurück. So verzweifelt er auch sein mochte, das wusste er. Er war ehrlich gewesen und hatte der Polizei gesagt, er wäre in dieser Nacht nur gefragt worden, ob er das Auto fahren könnte. Aber er hatte zugeben müssen, Dale zu kennen. Warum hätte er sonst dort sein sollen? Er hatte geschworen, nicht gewusst zu haben, was die beiden vorhatten oder was in den Rucksäcken war. Und er hatte bestritten, das junge Mädchen – Brie – zu kennen. Was eine himmelschreiende Lüge war.

Micha konnte von Glück sagen, dass sie ihn nicht weiter dazu befragt hatten, weil er lieber selbst ins Gefängnis gegangen wäre, als Brie hinter Gittern zu sehen. Sie war von ihrer Mom aus dem Haus geworfen worden, weil sie lesbisch war. Ihre Mom hatte ihr nicht erlaubt, mehr mitzunehmen als ihre Börse und die Kleider am Leib. Micha kam sich in Pine Cove zwar vor wie ein bunter Hund, aber wenigstens war er hier immer willkommen und hatte ein Zuhause.

Es würde sich bestimmt bessern. Es musste einfach. Micha war schließlich älter geworden. Reifer. Vielleicht fühlte er sich jetzt nicht mehr so fehl am Platz und der Umgang mit seiner Familie wurde entspannter. Dad mochte ein bisschen grummelig sein, seit Micha entlassen und nach Pine Cove zurückgekommen war. Pops war aber immer noch so fröhlich wie früher, hielt Micha über den Dorftratsch auf dem Laufenden und schickte jeden Morgen Peri, den großen Pyrenäenhund, zu ihm, um ihn zum Frühstück zu holen. Pops war überzeugt davon, dass Micha bald einen Job finden würde, weil ihm die Leute hier glauben würden, dass er unschuldig war.

Micha war sich da nicht so sicher, musste aber zugeben, dass Pops sehr überzeugend war. Jedenfalls fühlte er sich danach etwas besser und machte sich nicht mehr ganz so viele Sorgen.

Das Beste an der Sache war, seine Nichten und Neffen wiederzusehen. Erwachsene hatten Micha immer eingeschüchtert. Sie hatten ihn als Kind wie Dreck behandelt und auch nach seiner Adoption hatte er noch mehr als genug beschissene Lehrer, machtgeile Chefs oder Freunde kennengelernt, die ihm in den Rücken fielen und ihn ausnutzten. Aber Kinder? Bei denen wusste man immer, woran man war. Sie waren ehrlich, nicht manipulativ und falsch. Sie strahlten wie der Sonnenschein an einem Sommertag. Micha respektierte Ehrlichkeit – wahrscheinlich deshalb, weil er selbst so sehr damit zu kämpfen hatte. Kinder waren einfach nur sie selbst. Punkt.

Noch besser war, dass sein Bruder Rhett während Michas Abwesenheit zwei Kinder adoptiert hatte. Zwillingsbrüder aus Puerto Rico. Die beiden Jungs allein waren es wert, wieder nach Hause gekommen zu sein. Sie waren erst ein Jahr alt und Micha war es gestern gelungen, den meisten Gesprächen aus dem Weg zu gehen, indem er den einen oder anderen der beiden in die Arme genommen und geknuddelt hatte.

Er wurde von einem Kind überrascht, das plötzlich hinter der dicken Eiche hervorkam. Soweit er wusste, gehörte das Mädchen nicht zur erweiterten Familie Perkins. Micha hatte sie noch nie gesehen.

Er grub sich mit den Zehen in den Boden und hielt die Schaukel an, um das blonde Mädchen zu betrachten. Sie mochte fünf, vielleicht auch schon sechs Jahre alt sein. Jedenfalls irgendwo zwischen Kindergarten- und Grundschulalter. Ihre langen Haare waren verstrubbelt und sahen aus, als wären sie schon vor Tagen zu einem Zopf geflochten und seitdem nicht mehr gekämmt worden. Ihre Brille verdeckte fast das ganze Gesicht. Sie war knallrosa, mit Glitzer besetzt und geformt wie diese merkwürdigen Brillen, die in den Sechzigerjahren modern waren. Das Mädchen trug ausgebeulte, ausgewaschene Jeans und ein T-Shirt, das – ganz im alten Stil – mit einem kleinen Pony bedruckt war. Der Druck war ebenfalls schon ziemlich ausgewaschen und zersprungen und ließ das T-Shirt aussehen, als wäre es auch schon aus den Achtzigerjahren.

Das Mädchen schob die Ärmel seiner Strickjacke hoch und sah Micha aus zusammengekniffenen Augen an. »Wer bist du?«

Michas Augenbrauen krochen über die Stirn nach oben. »Micha«, sagte er. »Das hier ist das Haus meiner Eltern. Und wer bist du?«

»Oh«, sagte das Mädchen und nickte. »Okay. Ich bin Imogen und das ist nicht unser Haus.«

»Ja«, sagte Micha und grinste breit. Die Kleine hatte Haltung. Sie gefiel ihm. »Das dachte ich mir schon. Bist du mit jemandem zu Besuch gekommen?«

Imogen lächelte strahlend und zeigte sämtliche Milchzähne, die sie noch im Mund hatte. »Ja. Mit meinem Daddy. Er sagt, wir besuchen Onkel Brett. Aber die Erwachsenen sind so langweilig, dass ich mich rausgeschlichen habe. Darf ich deine Schaukel ausprobieren?«

Brett. Damit musste sie Rhett meinen. Rhett war ein sehr geselliger Mensch, der ständig neue Freundschaften schloss. Micha konnte es ihm nicht verübeln, weil Rhett derjenige seiner Adoptivbrüder war, den er noch am ehesten als Freund bezeichnen konnte.

Rhett war der Jüngste von vier Geschwistern, die Dad und Pops adoptiert hatten. Rhett war damals noch ein Baby gewesen und konnte sich nicht mehr an seine richtigen Eltern erinnern. Vielleicht hatten er und Micha sich deshalb so schnell angefreundet. Außerdem hatte Rhett ihn schon am ersten Tag mit seiner PlayStation spielen lassen. Micha war es nicht gewohnt gewesen, dass jemand mit ihm teilte. Er war es immer noch nicht.

Rhett war es auch gewesen, der Micha dazu überredet hatte, nach seiner Entlassung nach Pine Cove zurückzukehren. Micha hoffte, dass er sich dieses Mal beim Rest seiner Familie genauso unbefangen fühlte wie bei Rhett. Er musste sich nur etwas Mühe geben.

Da der Vater des Mädchens mit Rhett befreundet war, fühlte sich Micha in ihrer Gegenwart schon nicht mehr so seltsam. Er warf einen Blick über den Hof ins Küchenfenster. Richtig, da saßen einige Leute zusammen am Tisch.

Micha war immer vorsichtig, wenn er mit Kindern von fremden Leuten zu tun hatte, aber Imogen wollte nur schaukeln. Also rutschte er aus dem Autoreifen und hielt ihn für sie fest. Sie kam sofort angerannt und versuchte, an dem Reifen hochzuspringen und hineinzuklettern, war aber zu klein.

»Soll ich dir helfen?«, fragte Micha und krempelte sich die Ärmel hoch.

Imogen schnaubte und schob die Brille hoch. »Ja, bitte. Mir gefallen deine Bilder.«

Micha, der gerade nach ihr greifen wollte, hielt überrascht inne. Dann dämmerte ihm, dass sie seine Tätowierungen meinte. Seine Unterarme waren voll davon und er hatte vor, sich auch die Oberarme und den Rücken tätowieren zu lassen. Micha war nicht sehr muskulös und groß und kam sich durch die Tattoos nicht ganz so schmächtig vor. Sie waren seine Rüstung und schützten ihn vor einer Welt, die ihn allzu oft hungrig in der Kälte alleingelassen hatte. Einige der Tattoos hatte er sogar teilweise selbst entworfen.

»Danke«, sagte er und drehte den Arm um, um ihr mehr davon zu zeigen. »Hast du ein Lieblingsbild?«

Imogen schnappte nach Luft, schlug die Hand vor den Mund und stellte sich auf die Zehenspitzen. »Meerjungfrau! Meerjungfrau!«

Micha grinste und hielt ihr die Hand hin, damit sie die Tätowierung an seinem Handgelenk besser sehen konnte. »Und siehst du das?«, sagte er und zeigte ihr seine andere Hand. »Hier ist ein Piratenschiff. Glaubst du, die beiden könnten Freunde werden?«

Imogen nickte begeistert. »Sie singt für die Piraten und rettet sie, wenn ihr Schiff untergeht. Dann heiratet sie den Prinzen.«

Micha lächelte kläglich. »Es gibt immer irgendwo einen Prinzen, nicht wahr?«, murmelte er.

Vielleicht würde er eines Tages auch seinen Prinzen finden.

Er zeigte auf den Autoreifen. »Soll ich dir jetzt helfen? Dann kann ich dich anstoßen.«

»Ja, ja!« Imogen streckte die Arme aus und ließ sich von ihm hochheben. Er hielt sie vorsichtig um die Taille, während sie unbeholfen die Beine durch den Reifen schob. »Ich will ganz hoch schaukeln. Bis zum Mond!«

»Wow«, sagte Micha. »Bis zum Mond, ja? Das ist aber ziemlich weit.«

»Ich bin eine Entdeckerin«, erklärte ihm Imogen stolz. »Ich reise um die ganze Welt. Zweimal. Und dann zum Mond und übers Meer. Und auf den Meeresgrund. Dort sind nämlich die Meerjungfrauen.«

»Das ist ein wunderbarer Plan«, meinte Micha. »Darf ich mitkommen?«

Imogen nickte und Micha brachte die Schaukel zum Schwingen. Sie sah ihn über die Schulter an.

»Aber wir müssen erst packen. Du brauchst eine Zahnbürste und Socken zum Wechseln. Mommy hat das gesagt. Sie ist auch verreist, aber sie kommt bald zurück.«

Micha unterdrückte ein Lachen. »Socken zum Wechseln. Wird gemacht.«

»Höher!«, rief Imogen, warf die Arme in die Luft und kickte mit den Beinen. Sie wäre fast aus dem Reifen gefallen, aber Micha hielt ihr rechtzeitig die Hand an den Rücken und stützte sie. Sie schien es gar nicht zu bemerken.

»Nur, wenn du dich gut festhältst«, sagte er. »Wie willst du denn bis zum Mond fliegen, wenn du dich in deiner Rakete nicht anschnallst?«

Imogen salutierte und hielt sich wieder am Reifen fest. »Aye, aye, Kapitän!«

Micha lachte und stieß sie etwas fester an. Es war, als hätte das Kind all seine Sorgen wie weggewischt. Ja, sein Leben war nicht das beste, aber es hätte viel schlimmer kommen können. Er war zu Hause, war der Haft entkommen und Brie war, soweit er wusste, in Sicherheit. Seine Familie liebte ihn immer noch, auch wenn er sich bei ihr wie ein Außenseiter fühlte.

Und dann war dieser kleine Engel aufgetaucht und hatte ihn daran erinnert, dass er sein Leben noch vor sich hatte. Es gab noch so vieles zu entdecken. Doch jetzt wollte er einfach nur genießen, das kleine Mädchen glücklich zu machen, das in dem alten Autoreifen hin und her schaukelte. Sie war so voller Optimismus. Er fragte sich, wer wohl ihr Vater sein mochte. Vermutlich war er ein toller Mensch.

Der morgige Tag mochte wieder beschissen werden, aber in diesem Augenblick war das Leben gar nicht so schlecht.

Kapitel 3

Swift

Swift war sich ziemlich sicher gewesen, dass es eine gute Idee wäre, seinen besten Freund zu besuchen. Er hatte recht behalten.

Rhett war adoptiert und hatte gerade selbst zwei Kinder adoptiert.

Rhett war immer der Freund gewesen, an den Swift sich gewandt hatte, wenn in seinem wohlgeordneten Leben ein Hindernis auftauchte.

Dieses Mal war es nicht nur ein Hindernis auf seinem eingeschlagenen Weg. Dieses Mal musste er einen vollkommen neuen Weg finden. Und damit hätte er niemals gerechnet.

»Ich habe von nichts eine Ahnung!«, rief er und lief verzweifelt in der Küche auf und ab. »Wann muss sie ins Bett? Was isst sie? Was soll ich mit ihren Haaren anfangen? Auf YouTube lernt man auch nicht alles!«

Rhett hatte ein schönes Haus, aber es war nicht zu vergleichen mit dem großen Haus seiner Eltern. Deshalb – und weil Tyee heute nicht im Diner arbeitete – hatten sie sich hier getroffen. Außerdem war Rhett nicht das einzige Mitglied der Familie Perkins, das ihm helfen wollte. Tyee – Pops – gehörte auch dazu.

Er klopfte Swift, der immer noch im Kreis lief, auf die Schulter. »Du schaffst das schon, mein Sohn. Ich verspreche es dir. Du wirst im Laufe der Zeit alles lernen, was du wissen musst.«

Swift blieb nickend stehen und schüttelte sich die verkrampften Hände aus. Er war solche langen Autofahrten nicht gewohnt. Dazu kam noch, dass er während der Rückfahrt nach Pine Cove ständig darüber nachgegrübelt hatte, wie es weitergehen sollte.

Seine Mom, die am Küchentisch saß, lächelte Tyee zu und nippte an ihrem Kaffee. »Es ist sehr viel auf einmal, Tyee. Aber du bist nicht allein, Swift. Deine Brüder und Schwestern sind ganz aus dem Häuschen, genauso wie dein Vater und ich.«

Swift fuhr sich kopfschüttelnd mit den Fingern durch die Haare und ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen. »Ich habe sie geschwängert, Mom. Und ich wusste nichts davon. Ich habe mich um meine eigene Tochter nicht gekümmert.«

Rhett schnaubte und warf seiner älteren Schwester, die ebenfalls bei ihnen am Tisch saß, einen kurzen Blick zu.

»Es ist nicht deine Schuld, dass Amy es dir verheimlicht hat«, sagte Darcy.

Tyee stellte ihm eine Tasse mit frischem Kaffee hin. »Was zählt, ist doch, was du jetzt zu tun gedenkst. Du willst am Leben deiner Tochter teilhaben, nicht wahr?«

Swift richtete sich in seinem Stuhl auf und nickte ernst. »Auf jeden Fall. Aber… was mache ich mit meinem Job? Ich arbeite zu allen Uhrzeiten im Studio.«

Seine Mom tätschelte ihm die Hand. »Ja, also… Vielleicht könntest du etwas kürzertreten? Weniger arbeiten? Es ist schön, dass du so viel arbeitest, aber jetzt hast du die Chance, dein Leben auf eine andere Art zu bereichern.«

Swift spielte mit dem Henkel seiner Kaffeetasse. Sie hatte ihm in letzter Zeit oft gesagt, er würde zu viel arbeiten. »Ja«, gab er zu. »Ich könnte meine Stunden auf die Zeit beschränken, in der Imogen in der Schule ist. Vielleicht. Aber dann verdiene ich weniger und ich muss noch so viel für sie kaufen und…«

Darcy winkte kopfschüttelnd ab. »Nein. Aufhören. Wir haben noch so viele Sachen von meinen Kindern. Und Logan und Nell haben auch alles in Kisten im Keller verstaut, was sie für ihre drei nicht mehr brauchen. Wir haben immer damit gerechnet, dass es mehr Kinder gibt. Rhett und Louella haben sich damals schon um eine Adoption bemüht, und Micha und Hudson finden vielleicht auch irgendwann Partner und haben Kinder. Von den Enkeln gar nicht zu reden…«

»Hey, immer langsam. Nichts überstürzen«, grummelte Tyee gutmütig. »Ich habe mich immer noch nicht damit abgefunden, schon Enkel zu haben, von Urenkeln ganz zu schweigen.«

Rhett rollte mit den Augen. »Saul ist achtzehn, Pops. Du bist schon ziemlich lange Großvater.«

Tyee schmunzelte. »Ich bin eben ein Sturkopf.«

Auf dem Boden gähnte der Pyrenäenhund und rollte sich auf die Seite wie eine übergroße weiße Schäfchenwolke. Swift bückte sich lächelnd und rieb ihm den Bauch. Dann warf er einen misstrauischen Blick auf die Katzenbox, die auf einer der Kommoden stand.

Eine rote Katze fauchte ihn durchs Gitter an.

»Und ich hatte noch nie eine Katze. Niemand in unserer Familie hat eine Katze. Hätte sie nicht einen Hund haben können?«

Er warf einen erschrockenen Blick über die Schulter, aber Imogen spielte draußen im Garten. Er konnte sie auf der Schaukel sitzen sehen. Swift konnte nicht erkennen, wer hinter ihr stand und sie anstieß, aber es musste ein Perkins sein, also machte er sich keine Sorgen, solange er sie aus der Küche im Auge behalten konnte.

Er wollte nicht, dass sie dachte, er würde sich über sie beschweren. Weil das ganz und gar nicht stimmte. Allerdings war es erst einige Stunden her und er war trotzdem schon vollkommen erschöpft, weil er sich ständig Gedanken machte, ob sie genug gegessen hatte, ob sie wieder weinen würde oder – was am schlimmsten war – ob sie hier sicher war.

Jede harmlose Kleinigkeit kam ihm plötzlich wie eine erschreckende Bedrohung vor – Türgriffe oder Sicherheitsgurte, selbst der Bürgersteig. Wenn sie stolpern sollte und sich Knie oder Hände aufschlug, war das nur seine Schuld. Er brauchte einen Kindersitz fürs Auto und vielleicht Schutzkanten aus Gummi, die er an den Tischen und Schranktüren anbringen konnte…

»Tief Luft holen, Mäuschen.« Mom rieb ihm wieder über den Rücken.

Swift merkte, dass er vor Panik zu keuchen angefangen hatte. Wie peinlich. Er holte tief Luft und massierte sich die Schläfen.

»Also gut«, sagte er und machte ein gefasstes Gesicht. »Alles in Ordnung. Eines nach dem anderen, ja?«

Rhett grinste und gab ihm einen aufmunternden Klaps ans Bein. »Eines nach dem anderen.«

»Womit fangen wir an?«, fragte Darcy und ging zu der Kaffeekanne, um sich Kaffee nachzuschenken. Dann hielt sie fragend die Kanne hoch.

Nachdem niemand Kaffee wollte, trank sie einen Schluck aus ihrer Tasse und kam an den Tisch zurück. »Lasst uns mit dem Wichtigsten anfangen. Die Kleine und die Katze brauchen etwas zu essen und einen Platz zum Schlafen. Kannst du zum Laden fahren und deine Vorräte aufstocken?«

»Sicher. Womit?« Swift zog sein Handy aus der Tasche, um sich Notizen zu machen.

Darcy und Rhett tauschten einen Blick mit Tyee und Swifts Mom. »Mach es nicht zu kompliziert«, schlug Darcy vor. »Warum fragst du sie nicht, was sie am liebsten isst? Es ist ein großer Tag für sie und sie war sehr brav, also hat sie eine Belohnung verdient.«

Swifts Mom nickte. »Sie kann doch in deinem Gästezimmer schlafen, nicht wahr? Oma kann ihr einen Schlafanzug schenken und neue Puschen!« Sie sah aus, als wäre sie im siebten Himmel. Swift freute sich für sie und vergaß für einen Moment seine Probleme.

Imogen war das erste Enkelkind und die erste Nichte in der Familie. Es war eine ziemlich große Sache und so sehr er auch mit seinen Schuldgefühlen kämpfte, nichts von ihr gewusst zu haben, so sehr freute er sich auch über seine Familie, für die das Glas immer halb voll war. Sie waren alle unheimlich glücklich darüber, von Imogen erfahren zu haben – jeder und jede Einzelne von ihnen, mit denen er bisher gesprochen hatte.

Swift bedauerte, dass Amy erst in eine Entzugsanstalt eingeliefert werden musste, um sie alle zusammenzubringen. Er hoffte, dass sie ihre Sucht in den Griff bekam und sie die Verantwortung für Imogen zwischen sich aufteilen konnten.

Falls er die nächsten paar Wochen überlebte.

Richtig. Kindernahrung. Katzenfutter. Pyjama. Es hörte sich alles so erschreckend an. Imogen hatte in ihrem kleinen rosa Koffer einige Kleidungsstücke und Toilettenartikel mitgebracht, die für die nächsten Tage ausreichen würden. Aus irgendeinem Grund enthielt der Koffer sogar zwanzig Paar Socken. Das Bett in Swifts Gästezimmer war immer frisch bezogen für den Fall, dass jemand von seinen Geschwistern zu Besuch kam und sich entschied, bei ihm zu übernachten. Imogen hatte also schon ein Bett, das nur auf sie wartete.

Aber… das war's auch schon. Was sollte Swift nur mit ihr anfangen? Er hatte zwar einige Worte mit ihr gewechselt, aber was machten Fünfjährige so tagein, tagaus? Swift hatte keine Ahnung.

»Ich brauche vielleicht Spielzeug für sie. Spielen Kinder heutzutage noch Brettspiele? Oder sollte ich ihr Spiele auf mein iPad runterladen?«

Rhett und seine Schwester zuckten mit den Schultern. »Kann beides nicht schaden«, meinte Rhett.

»Wir haben noch alte Puppen von Pepper. Ich bin sicher, dass sie die gerne spendet«, sagte Darcy. Die fünfzehnjährige Pepper war die beste Freundin von Swifts Schwester Kestrel. Schon lustig, wie klein die Stadt manchmal war.

Swift ließ den Kaffee in seiner Tasse kreisen. »So hatte ich das alles nicht geplant, wisst ihr?« Er sah sich in der Küche um. Der Gedanke hatte schon den ganzen Tag an ihm genagt und jetzt war er einfach so damit herausgeplatzt. »Ich dachte, ich lerne eine nette Frau kennen, wir heiraten, bekommen ein Baby… Jetzt ist alles wie auf den Kopf gestellt.«

Rhett schnaubte und trat ihm ans Bein. »Da hast du dir das falsche Publikum ausgesucht, Mann. In dieser Familie ist nichts normal. Wir haben es alle irgendwie anders gemacht.«

»Normalität wird sowieso überschätzt«, mischte sich Darcy ein.

»Was ist eigentlich normal?«, fügte Tyee hinzu und zeigte mit dem Finger auf Swift. »Sie haben uns beigebracht, ein weißer Gartenzaun wäre normal. Mann und Frau. Hausfrau und zwei oder mehr Kinder.«

»Bügeln«, ergänzte Swifts Mom kopfschüttelnd die Liste. »Und frischer Apfelkuchen.«

»Sunny und ich?« Tyee stieß sich mit dem Finger an die Brust. »Wir haben Nein gesagt. Nicht nur dazu. Wir wussten schon vierzig Jahre, bevor sie uns dieses Stück Papier erlaubt haben, dass wir ein Ehepaar sind. Wir wussten, dass wir Kinder wollen, obwohl uns niemand Pflegekinder überlassen wollte, von einer Adoption gar nicht zu reden. Und schau dir an, was aus uns geworden ist!«

»Was Tyee uns damit sagen will, ist, dass wir im einundzwanzigsten Jahrhundert leben«, meinte Swifts Mom. »Es gibt mehr als einen Weg, Vater zu werden oder eine Familie zu gründen. Und wir werden den richtigen finden. Das Wichtigste ist doch, dass du ein Teil von Imogens Leben werden willst. Der Rest findet sich schon.«

Swift nickte und rollte mit den Schultern. »Ja, du hast recht«, sagte er und fing langsam an, es auch zu glauben. Nur, weil das alles nicht geplant war, war es noch lange nicht falsch. Es war nur eine dieser Überraschungen, die das Leben manchmal bereithielt. Er durfte sich von seinen Zweifeln und Unsicherheiten nicht lähmen lassen. Er musste mit beiden Füßen voran ins kalte Wasser springen und schwimmen lernen.

Was konnte schon Schlimmes passieren? Solange er sich gut um Imogen kümmerte und für sie da war, konnte er auch einen Weg durch die unbekannten Gewässer finden, die vor ihm lagen.

Es fiel ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. Imogen war jetzt das Wichtigste in seinem Leben. Alles andere kam erst an zweiter Stelle. Und wenn man es so sah, war es wirklich nicht so kompliziert. Es war sogar ziemlich einfach.

»Daddy, Daddy!«, rief Imogen von der Veranda hinterm Haus und das Stampfen kleiner Füße war zu hören.

»Hier bin ich, Schätzchen!«, rief Swift zurück und freute sich, weil ihm der Kosename so leichtfiel. Seine Mom strahlte ihn an.

»Siehst du, du kannst es schon«, sagte sie und drückte seinen Arm.

»Hoppla!«, sagte eine zweite Stimme, aber Swift konnte nicht sehen, zu wem sie gehörte. Es musste der unbekannte Perkins sein, der die Schaukel angestoßen hatte. Es war eine männliche Stimme. Vielleicht war es Saul, Logans ältester Sohn.

Imogen kam in die Küche gerannt. Ihre Bäckchen glühten rot vom Spielen in der kühlen Herbstluft und ihre Haare waren noch strubbeliger als zuvor. Swift nahm sich vor, eine dieser speziellen Haarbürsten zu kaufen, die Kestrel immer benutzte.

Während er im Kopf seine Einkaufsliste zusammenstellte, wirbelte Imogen herum und zog sich ihre nach unten gerutschten Söckchen hoch. »Daddy, wir waren auf dem Mond und haben Meerjungfrauen gefunden und jetzt suchen wir einen verborgenen Schatz!«

Swift grinste und lud sie ein, sich auf seinen Schoß zu setzen. »Das ist ja fantastisch, Schätzchen! Und mit wem hast du gespielt?«

»Mit meinem neuen Freund«, erklärte Imogen stolz, während sie ihm auf die Beine kletterte. »Er hat schöne Bilder.«

»Ein neuer Freund?« Imogen nickte. Swift hob den Kopf und sah einen Mann, der mit Imogens kleinen Turnschuhen in der Hand die Küche betrat. Von wegen einfach. Swift musste kurz überlegen, wer der Mann sein könnte.

Er hatte sich sehr verändert. Das war nicht mehr der schlaksige Junge mit den braunen Augen und dem ruhelosen Blick. Das war ein grinsender Mann, der sich in den letzten Jahren von einem Teenager zu einem Erwachsenen entwickelt hatte. Seine Arme waren mit Tätowierungen bedeckt und die früher kurzen, dunklen Haare hingen ihm in dichten Locken in die Stirn.

Swift hätte Micha Perkins trotzdem überall wiedererkannt.

Er bekam einen trockenen Mund, was lächerlich war. Swift hatte sich mit Rhetts kleinem Bruder immer gut vertragen, hatte seine Gesellschaft sogar genossen, wenn Micha hier und da sein Misstrauen aufgab und locker wurde. Michas Blick war auf Imogen gerichtet. Er machte einen unbeschwerten, glücklichen Eindruck.

»Hast du die Karte gefunden, Schiffskamerad?«, fragte er grinsend und stemmte die Hände in die Hüften.

Dann bemerkte Micha die vielen Menschen, die in der Küche versammelt waren. Er ließ die Hände fallen und zuckte zusammen, als er ihre Blicke auf sich gerichtet sah. Innerhalb einer Sekunde hatte er sich vor Swifts Augen wieder in den verschlossenen jungen Mann verwandelt, an den Swift sich noch so gut erinnerte.

»E-entschuldige«, sagte Micha schuldbewusst zu seinem Pops. »Wir haben nur gespielt.«

Swift hatte nie erfahren, was Micha vor seiner Adoption widerfahren war und ihn Erwachsenen gegenüber so misstrauisch gemacht hatte. Mit seinen Nichten und Neffen konnte er wunderbar umgehen. Es war beinahe, als könnte er nur mit Kindern wirklich er selbst sein. In den Schock des Wiedersehens mischte sich Traurigkeit darüber, dass sich Micha in dieser Beziehung nicht geändert zu haben schien.

Körperlich waren die Veränderungen allerdings nicht zu übersehen. Swifts Herz machte etwas, was ihm in letzter Zeit nur noch selten passierte, wenn er einen Mann oder eine Frau ansah.

Es schlug einen Purzelbaum.

Micha war wunderschön, trotz der besorgten Blicke, die er seinem Pops und seinen Geschwistern zuwarf.

Dann sah er Swift und etwas noch Schlimmeres huschte über sein Gesicht. Hätte man Swift gefragt, er hätte es Entsetzen genannt.

Und dieses Entsetzen galt ihm.

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9783958238343
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