Читать книгу: «Der Herzog», страница 3
Weit und breit keine Zwischenrede mehr vom Herzog. Joseph Moritz konnte ihn vergessen und berichten, wie es ihm und nur ihm ums Herz war. Und gleich wurde sein Stil freier und flüssiger, wenn er sich der immerwährenden Kontrolle des Herzogs entzogen hat.
Und am Abend ist die ganze Stadt festlich beleuchtet. Ich erinnere mich da besonders an die Beleuchtung des Odescalchi’schen Palastes; er war überirdisch schön beleuchtet. Als würde er nicht fest gemauert auf dem Boden stehen, sondern schweben; nicht hoch, sondern gerade so, daß es den Boden nicht berührt und sich vielleicht gar schmutzig machen könnte.
Ach Gott, ich weiß so viele Einzelheiten gar nicht mehr; eines jagte das andere. Den Kongress haben sie veranstaltet, wo sie das Chaos, das Napoleon hinterlassen hat, neu regeln wollten. Bälle hat es gegeben, Militärfeste und Militärparaden, eine wunderschöne Schlittenfahrt, wo sie alle aus der Stadt nach Schönbrunn hinaus gefahren sind. Mein Vater mußte damals mit und regte sich fürchterlich über die Verschwendung auf. Zurückgekommen ist er mit einem recht starken Schnupfen. Mutter hat damals zu ihm gesagt: „Siehst du, das kommt von der dauernden Schimpferei. Hättst dir lieber was Warmes angezogen!“
Mein Vater antwortete nicht. Er antwortete meiner Mutter nie vor uns allen, wenn er ihr etwas Ernsthaftes zu sagen hatte. Und er hatte ihr sicherlich etwas Ernsthaftes zu sagen nach dieser respektlosen Bemerkung.
Am 5. März, ich glaube, 1815 war es -
„Ja“, sagt der Herzog.
Ich erschrecke. Der Herzog. Ganz so sieht er mich jetzt an. Der Herzog. Nicht der Franz. Der Herzog. Der zutiefst getroffene Sohn Napoleons. Ja, kommt mir in den Sinn, du schaust eben der Geschichte in das Gesicht. Ich sehe nur die Geschichte, ich habe den Menschen dahinter vergessen.
„Ja“, hat er gesagt.
Also 1815. Er wird es wohl wissen: Am 5. März. Ich weiß es noch genau, weil mein Vater am selben Tag zürnend sagte: „Und ich soll der Erzieher von seinem Buben werden. Das hat sich wohl jetzt!“
Am 1. März war nämlich Napoleon aus Elba zurückgekehrt. Alle waren sie durcheinander; auch der lustige Kongress ging nicht so recht weiter.
Mein Vater aber sagte damals: „Hat auch sein Gutes, jetzt müssen sie wenigstens zusammenhalten, weil sie einen Feind haben, vor dem sie sich alle fürchten!“
Aber dann kam ja gottlob bald Waterloo und der Spuk war endgültig vorbei.
„Eine grandiose Schlacht“, sagt Franz leise.
Für den, der Schlachten liebt, vielleicht ja. Ich erschrecke. Der Franz liebt Schlachten. Er muß Schlachten lieben. Er ist zum Staatenlenker erzogen. Ein Staatenlenker muß Kriege führen.
Aber Joseph Moritz sieht seinem Franz offenbar nicht in die Augen. Selbsterlebtes ist eben nicht Geschichte. Für ihn ist Napoleon ein Feind. Und der Herzog ist sein Freund, dem er alles erzählt. Was schert den Joseph Moritz eine verloren gegangene Dynastie? So halten auch seine auftauchenden Bedenken nur ganz kurze Zeit, dann geht er in ungewohnter Konsequenz seiner selbst gestellten Aufgabe des Erzählens nach. Hätte er sich nur selbst zuschauen können, er wäre sicher stolz auf sich gewesen. So aber sieht er gar nichts. Nicht sich selbst und nicht den anderen in seiner armseligen Situation.
Einer war übrigens damals sehr unglücklich; das war der Erzherzog Johann. Er hat sich nicht gerade Freunde gemacht, wie er verkündet hat: „Es ist ein jämmerlicher Handel mit Ländern und Menschen! Napoleon haben wir und seinem System geflucht, und mit Recht; er hat die Menschen herabgewürdigt, und eben jene Fürsten, die dagegen kämpfen, treten in seine Fußstapfen.“
„Das hat er gesagt?“, fragt leise der Franz.
Ich weiß, der Franz verehrt den Erzherzog sehr. Spricht manchmal mit ihm, ist angetan von seinen Ideen. Weiß nicht recht, der Franz, ob er auf seinem dynastischen Standpunkt bestehen soll, oder ob er rückhaltslos die Ideen des Erzherzogs für gut befinden soll. Rückhaltslos, das war es. Es ging nur rückhaltslos. Denn einen Kompromiss ließen die Ideen des Erzherzogs nicht zu.
Ja, das hat er gesagt. Habt ihr darüber nie gesprochen? Der Graf de la Garde hat allerdings die wirkliche Situation des Kongresses viel deutlicher beschrieben; nie, meinte er, sind wichtigere Fragen inmitten so vieler Festlichkeiten verhandelt worden; auf einem Balle wurden Königreiche vergrößert oder zerstückelt, eine Verfassung auf der Jagd entworfen, und bisweilen brachte ein Bonmot, ein glücklicher Einfall einen Traktat zustande, den zahlreiche Konferenzen und geschäftiger Briefwechsel nur mit Mühe zum Abschluß hätte bringen können.
„Wurde viel geschwätzt damals“, murmelt Franz, „von Schmeißfliegen. Man kennt das ja!“
Schmeißfliegen, nun gut. Der Feldmarschall Fürst von Ligne hat zwar gesagt, daß der Kongreß nicht vom Fleck komme, er tanze.
„Er hat aber auch gesagt“, wirft Franz belustigt ein, „daß jetzt nur noch das feierliche Begräbnis eines Feldmarschalles fehle. Er werde dafür sorgen...“
Und ist selbst gestorben, ja. Der rosarote Prinz. Alles rosarot an ihm und um ihn herum, Kutschen, Livrees, Briefpapier, selbst sein Haus auf der Mölkerbastei samt den Stallungen, alles rosarot.
„Was hast du gegen rosarot?“, fragt der Franz mit einer Anzüglichkeit, die mich ganz zu ihm herumwirft.
Wie der Kongress dann aus war, ist ja auch die Frage deiner Erziehung geregelt worden. Genauso, wie es vor dem Zwischenspiel der Rückkehr deines Vaters beschlossen gewesen war: mein Vater wurde dein Erzieher. Und Ende Juni wurden wir einander vorgestellt. Ein etwas über vier Jahre alter Knabe, ein sogenanntes schönes Kind, das mit ‚Königliche Hoheit’ angesprochen werden mußte und vor dem wir alle die großen Complements machen mußten. Ich mit meinen vierzehn wohlerzogenen Jahren war eigentümlich berührt.
„Joseph Moritz?“, hast du mit heller Stimme wiederholt, als mein Vater dir meinen Namen mitteilte. Und noch einmal hast du’s gesagt: „Joseph Moritz?“ Und mir kam vor, als hättest du gesagt: „Joseph Molitz?“ Als hättest du den Namen komisch empfunden.
Und ich sagte einfach: „Ja.“
Mein Vater verbesserte: „Königliche Hoheit!“
Und ich setzte schnell nach: „Königliche Hoheit!“ Und bekam einen kleinen Stoß in den Rücken, weil ich mich retirieren sollte und mich dabei zu verbeugen hatte.
Du aber, Franz, drehtest dich zur Gräfin Montesquiou um und sagtest noch einmal: „Joseph Moritz“, so, als wolltest du, daß sie den Namen aufschreibt.
Ich halte inne, denn der Franz sinkt in die Erinnerung: „Maman Quiou, Toto, Chan-Chan, die lieben Frauen...“
Ja, mein Vater hat oft genug gejammert, daß er dich von lauter Weibern übernommen hat, die dich verzogen und vergöttert haben.
Joseph Moritz hält kurz inne, vielleicht erschrocken über das, was er dem Herzog da erzählt. Und wie er es erzählt.
Das, Franz, war die Zeit, wie ich sie verlebte, als ich das Glück noch nicht hatte, dich zu kennen. Ich war in der Zeit allein. Allein sein, heißt für mich heute, ohne dich sein. Bevor ich dich kannte, war ich zwar allein. Aber nicht ohne dich. Mag sein, daß ich die Zeit daher mit anderen Augen sehe. Mit Augen, die noch ganz mir gehört haben.
Joseph Moritz hat hier abgebrochen und am nächsten Tag weiter geschrieben.
Ich habe das gestrige überflogen und bin verwundert über den klaren, rücksichtsfreien Blick, den ich auf die Ereignisse habe. Es ist so sicher gut, daß Franz dies nie lesen wird. Es ist auch sicher gut, daß ich jetzt mit meiner Erzählung von früher fertig bin und den freien Blick verliere, der wahrscheinlich ein inniges Zusammentreffen mit dem Franz unmöglich machen würde. Fünfzehn Jahre sind seit damals vergangen, seit seinem von mir vermeintlich gehören ‚Joseph Molitz’.
Einen Tag habe ich Zeit, denn übermorgen soll er wieder kommen. Aber, stünde er jetzt plötzlich vor mir, ich würde von einer Sekunde auf die andere wieder in das Heute hineinfinden. In das Heute mit dem Franz.
Jetzt muß ich mich schnell zurückhalten. Eben war ich noch froh, einen Tag Zeit zu haben, um geordnet zurückzufinden, jetzt denke ich schon in Sekunden.
KAPITEL 5
Im Jahr 1817 begann Joseph Moritz sein ‚tagtägliches’ Tagebuch zu führen. Als er es begann, war noch keineswegs festgeschrieben, dass es ein Buch über ihn, und den Herzog von Reichstadt würde. Die Beweggründe, warum er überhaupt begonnen hat, ein Tagebuch zu schreiben, erfahren wir in seinen ersten Eintragungen. Ihnen werden wir uns noch widmen, führen uns doch diese ersten Notizen mit großer Eindringlichkeit in die Problematik ein, in der sich Joseph Moritz offenbar vom Anfang seiner denkenden Existenz an befunden haben dürfte. Am 20.3.1801 geboren war er genau 10 Jahre älter als sein späterer Schicksalsmensch, der Herzog von Reichstadt. Er begann sein Tagebuch im Alter von 16 Jahren zu führen. Nach damaligen Entwicklungsphasen war er eher noch ein Kind, bestenfalls ein Jüngling. Körperlich befand er sich sicher schon tief in der Pubertät, geistig aber war er, solang nicht Mann, eben Kind. Geistig hat er alles in der Einschätzung gesehen, die einem sechzehnjährigen damals zukam. Die Tagebuchnotizen allerdings sagen aus, dass Joseph Moritz ein zutiefst empfindsamer und empfindlicher Bursche war; beileibe kein Kind mehr, das er zu sein und als das er nach Lebensjahren zu gelten hatte. Dass aber Joseph Moritz die Jahre davor schon sehr wach miterlebt hat, das wissen wir aus seinen Ergänzungen, die er dem Herzog in seinem Tagebuch, das dieser nie lesen sollte, erzählt hat. Jene Ergänzungen, die die Jahre von 1811, dem Geburtsjahr des Herzogs bis zum Beginn der regelmäßigen Eintragungen, betroffen haben.
Im ersten Jahr der Tagebuchentstehung 1817 scheint Vater Dietrichstein seinen Sohn auch zum ersten Mal mit ins Theater genommen zu haben. Joseph Morìtz knüpft jedenfalls an ein Theaterereignis die Ursache der Einführung seines Tagebuches.
1. Februar 1817
Es ist dies übrigens eine der wenigen Daten, die Joseph Moritz in solcher Deutlichkeit vermerkt hat.
Gestern waren wir im Theater an der Wien. ‚Die Ahnfrau’ von einem Franz Grillparzer erlebte ihre allererste Aufführung. Der Dichter nahm den Dank des Publikums nach der Vorstellung des Stückes selber entgegen; seine Erscheinung brachte einen allgemein günstigen Eindruck hervor; Grillparzer ist nicht gerade hübsch zu nennen, aber eine schlanke Gestalt von mehr als Mittelgröße, schöne blaue Augen, die über die blassen Züge den Ausdruck von Geistestiefe und Güte verbreiten und eine Fülle von dunkelblonden Locken machen ihn zu einer Erscheinung, die man gewiss nicht leicht vergisst.
Nach dem Theater gab es im Garten der Karoline Pichler ein kleines Fest. Der Reichtum eines höchstgebildeten Geistes und eines edlen Gemüts zeigte sich deutlich in allem, was er tat und was er sprach. Mein Vater führte ein kurzes Gespräch mit dem Dichter, dessen Inhalt mich zutiefst beeindruckte, auch wenn ich jetzt nicht im Stande mich sehe, es wiederzugeben, war es doch zu schwer für mich, zu schwer.
Der Direktor Schreyvogel jedenfalls bedeutete meinem Vater mit großem Ernst und erhobenem, komisch nach hinten gebogenem Zeigefinger: „Selten einer, wo sich die Mühe dermaßen gelohnt hat. Und es war weiß Gott mühevoll, Entstehung und Aufführung des Stückes zu bewerkstelligen!“
Mein Vater sprach etwas vom „Adlerauge des Herrn Direktors, was Begabung betrifft“, was dem Direktor nur ein müdes Lächeln entlockte und den Seufzer: „Sag er das einmal unserer Theaterverwaltung!“
Es bestand also schon damals eine Diskrepanz zwischen den Verwaltern eines Theaters und denen, die das Theater tatsächlich zu machen hatten.
Viel bemerkenswerter in unserer Sache scheint es aber, dass der junge Joseph Moritz dem Stück selbst keine Zeile widmet, wohl aber dem Aussehen des Dichters, dessen äußere Erscheinung auf ihn deutlich mehr Eindruck gemacht hat, als ‚Die Ahnfrau’. Immerhin wird Grillparzer damit schlagartig berühmt. Schon ein Jahr später bringt er - diesmal am Burgtheater – ‚Sappho’ heraus, was ihm die Ernennung zum Hoftheaterdirektor auf fünf Jahre einbringt.
Joseph Moritz aber erklärt uns schon am nächsten Tag, wofür mit dieser ersten Notiz gleichsam der Grundstein gelegt war.
Ich habe das, was ich mir gestern auf mehreren Zetteln aufgeschrieben habe, heute in ein Heft übertragen. Ich wollte zuerst das eine oder das andere heute etwas anders exprimieren, habe aber dann doch alles so belassen, wie ich es gestern niedergeschrieben habe. Ich dachte für mich, daß es so, wie ich es gestern geschrieben habe und wie ich es heute lese, gestern eben so empfunden habe.
Überdies hat es mir eine Freude gemacht, heute zu lesen, was ich gestern gedacht und empfunden habe. Und wenn ich es heute da und dort vielleicht etwas anders empfinde, nun gut, dann hat sich eben von gestern auf heute was geändert. Und wer weiß, wie es morgen sein wird, wenn ich morgen das von vorgestern und das von heute, also von gestern lese?
Eine Zeitlang möchte ich das beobachten. Ist es doch das erste mal, daß ich eine Bewegung in mir und an mir sehe. Ein Weiterschreiten, ein Verändern. Das, wo ich hineinwachsen soll, ist ja schon vorgegeben, das haben andere schon bestimmt. Langeweile bedroht mich und meine Gedanken. Langeweile, die unsere Bestimmung zu sein scheint. Die wir jetzt sechzehn Jahre alt sind dürfen nur zuhören; kaum reden; nur wenn wir gefragt werden; und wenn wir gefragt werden, dann kommt es immer noch darauf an, was man gefragt wird; und wenn man Glück hat, dann kann man das, was man gefragt wird, auch beantworten; wenn man es aber nicht beantworten kann, dann wird einem mit einem milden Lächeln gedankt, das einem sagt: ‚Ich weiß, es ist zu früh, das Kind schon zu fragen!’ Und Scham und Zerknirschung macht sich in uns breit; Zerknirschung, die wohlwollend zur Kenntnis genommen wird. Zerknirschung ist überhaupt der beste Ausdruck, um ihn aufzusetzen, wenn man nicht gefragt werden will.
Joseph Moritz schreibt hier von ‚wir’. So klingt es wie eine verdrängte Jugend-Revolte, wie ein Konsens mit Freunden, zumindest aber mit Gleichgesinnten; von solchen ist aber keine Rede. Er spricht nur von sich weiter, verliert auch jetzt das ‚wir’.
Ich habe eine Pause gemacht im Schreiben. Mir geht der Gedanke aus. Mir reißt der Faden. Es drängt sich alles in die Feder. Es ist das Zwiegespräch, das ich nicht habe, das mich jetzt so zum Schreiben drängt.
Wieder muss eine Pause gewesen sein, der Schriftduktus sagt es deutlich aus. Aber immer ist es noch derselbe Tag.
Gewissenserforschung nennt es der Pfarrer. Genaues Nachdenken über sich selber. Ist es das, was ich hier tue? Habe ich den Weg zu meiner Wahrheit gefunden? Ist das alles wahr, was ich hier schreibe? Ist es nur jetzt wahr und morgen nicht mehr? Oder ist es immer wahr, wenn es einmal wahr war? Wer beantwortet mir die Fragen. Werden sie mir morgen beantwortet? Oder irgendwann einmal? Ich muß mir die Fragen merken, sonst kann ich einmal mit den Antworten nichts anfangen.
Also schreiben. Alles aufschreiben. Jetzt hab’ ich’s. Das ist mein neuer Weg. Mein eigener Weg. Da mag mir niemand dreinreden und mich in Zerknirschung treiben.
‚Alles aufschreiben’, das war die Devise der Joseph Moritz in den ersten Wochen nach der Geburt seines Tagebuches in peinlicher Genauigkeit folgte. Schon Mitte Februar, also etwa vierzehn Tage nach der Eröffnung seiner „Gewissenserforschung“ jubelt er:
Endlich, endlich nicht mehr allein. Endlich einen Partner. Einen geduldigen, der mich anhört, bis ich zuende bin. Der mich versteht. Der mich Fehler machen läßt, ohne sie gleich zu ahnden. Oh, es ist nicht stumm, mein Buch. Es spricht zu mir indem es nicht widerspricht.
‚Widerspruch’ ist ihm ein Problem, das ihn beschäftigt.
Alles an mir scheint Widerspruch hervorzurufen. Mein Vater findet alles an meiner Kleidung auszusetzen. Wenn ich es wage, dem Schneider ein paar Details anzugeben, die er an meiner Kleidung modischer machen könnte, dann fährt mein Vater dazwischen: „Soll man meinen Sohn an seinen Mäschelchen und Bändelchen erkennen?“
Und er befiehlt, alles wieder abmachen zu lassen. Mein Schneider findet es schade und sein allerliebster Sohn, der exakt in meinem Alter ist, auch. Mein Vater hat heute dem Schneider verboten, mir französische Journale zu zeigen: „Dieses weichliche Geschmeiß bringt den Joseph Moritz nur auf Bändelchen und Mäschelchen!“
Bändelchen und Mäschelchen, so spottet mein Vater meiner.
Joseph Moritz hat also eine Neigung zu der stark verzierten, etwas zur Zierlichkeit neigenden, französischen Mode. Die Informationen darüber lieferte der Sohn des Schneiders, den wir schon als ‚allerliebst’ kennen gelernt haben und der gleich alt wie Joseph Moritz ist. Bleiben wir darum noch ein wenig beim Thema Schneider und Mode; es finden sich noch einige Sequenzen in Joseph Moritz' plauderndem Buch.
Ein richtiger erster Aprillentag. Als ich eben beschlossen hatte, den Schneider aufzusuchen und mich für den Zu-Fuß-Weg entschieden hatte, da schien noch die Sonne. Als ich aber eben das Haus verlassen wollte, da regnete es schon wieder. Ich habe also anspannen lassen und wie wir auf die Herrengasse hinausfahren und eben in die Schauflergasse einbiegen, da sehe ich auf der anderen Straßenseite den Hans sich unterstellen.
Dieser Hans ist der ‚allerliebste’ Sohn des Schneiders.
Ich lasse also anhalten und winke ihm. Er eilt eilfertig herbei und erkennt mich erst in dem Augenblicke, in dem er gerade vor mir steht. Er reißt die Augen auf und höchste Verwirrung zeigt sich in seinem Gesichte, über das soeben die ersten, von seinem pitschnassen Hut überlaufenden Wassertropfen laufen, sodaß er einen Moment aussieht, als würde er weinen. Ich öffnete rasch den Schlag und sage: „Steig er schon ein, Hans. Oder will er ersaufen da draußen?“
Er springt herein und bleibt gebückt stehen. Ich muß ihm erlauben, sich zu setzen. Er setzt sich neben mich auf die Bank, aber ganz vorne: „Daß ich nicht alles naß mach’!“, sagt er leise.
Ich aber gebe ihm einen kräftigen Schubs, daß er nach hinten in die Polster kippt: „Ist noch nichts naß geworden, was nicht wieder trocken geworden wär’!“, lache ich. Er ist gegen mich geplumpst, lehnt jetzt an mir, starr und ängstlich und respektvoll.
„Der Herr Graf sind sehr gütig“, sagt er leise.
Ich aber bin höchst vergnügt: „Und was glaubt er, wo ich gerad’ hinfahr?“
Er sieht mich unwissend an, wobei er sich vorsichtig aufrichtet und sich von mir loslöst.
„Zu seinem Herrn Vater. Trifft sich das nicht gut?“
„Da wollt’ ich eben auch hin, ja“, sagte der Hans leise und nickend.
Sein Wams begann etwas zu dunsten, es riecht muffig. Es riecht nach feuchtem Stoff und feuchtem Körper. Schweiß, Achselschweiß, aufgewärmter, mischt sich auch dazu. Aufregend ist das so.
„Es gibt wieder neue Journale“, sagt er. „Wenn der Herr Graf wünschen...“
Selbstverständlich wünsche ich.
Er fährt fort: „Die Margarethe hat eines angezeichnet, das wär’ was für den Herrn Grafen, hat sie gesagt!“
„Die Margarethe?“, frage ich.
„Ach“, antwortet er, „ich dachte, der Herr Graf wüßten. Das ist mein Mädel. Die Tochter von der einen Weißnäherin.“ Er lacht: „Die andere, die wär’ wohl schon zu alt für eine so junge Tochter!“
Ab dem Moment finde ich sein Gered’ als Geplapper. Sechzehn Jahr’ alt und ein eigenes Mädel!
An diesem Tag hat Joseph Moritz nicht mehr weiter geschrieben. Zu tief scheint der Ärger gesessen zu sein, dass dieser junge, unstandesgemäße, ‚allerliebste’ Bursche, der sich erlaubte, mit ihm gleich alt zu sein, sich ein eigenes Mädel leistete. Der Hans hat ihn aber noch ein paar Tage später weiter beschäftigt. Ebenso die Margarethe, Tochter der einen, der jüngeren, Weißnäherin.
Ich weilte heute wieder beim Schneider. Der Hans zeigte mir einige wunderhübsche französische Modezeichnungen. Wunderhübsch. Eines davon wollte er mir unbedingt einreden. Es war genauso gestaltet, wie es mein Vater ‚Mäschchen und Rüschchen’ genannt hätte.
Um mich vollends zu überzeugen, rief er aus: „Die Margarethe hat auch gesagt: das wär’ was für den Herrn Grafen!“
Das war nun sicherlich nicht das Argument, mit dem Joseph Moritz unbedingt überzeugt werden wollte. Aus seiner niedergeschriebenen Antwort aber ist die plötzliche Kälte förmlich herauszuhören.
„Die Margarethe, so?“, antwortete ich.
Ich überlegte, was ich mit diesem Urteil wohl anfangen könne, da sprach er weiter: „Darf sie hereinkommen, dem Herren Grafen ihre Aufwartung machen?“
„Wer?“, fragte ich verwundert.
„Die Margarethe. Sie muß es dem Herren Grafen selber sagen.“
„Was denn?“
„Das mit diesem französischen Modell. Ich habe die Worte nicht. Darf sie, Herr Graf?“
Der Hans blickte mich so lieb an. Dabei sah ich zum ersten mal, daß er aus der Nähe besehen mit seinen wunderschönen, kugelrunden braunen Augen ganz leicht schielte; aber nur, wenn unsere Gesichter einander ganz nahe waren. Und das waren sie jetzt, wie wir über die Zeichnungen gebeugt waren. Er flehte mich an, als ob ich ihm was Liebes tun möchte. Ich tat es also.
„Soll sie kommen“, sagte ich jovial, „wenn ihr und ihm so viel daran liegt!“
Der Hans rief sie herein. Sie war so schnell da, als ob sie schon hinter der Türe gelauert hätte. Sicher hat sie hinter der Tür gelauert nach Weiberart. Sie blieb unter der Türe stehen, machte einen Knicks und blickte den Hans verlegen an.
„Nun komm sie schon her“, ermunterte ich sie.
Sie kam näher und stellte sich mit gesenkten Augen rechts neben den Tisch, auf den der Hans und ich über den Zeichnungen hingelümmelt lehnten.
Ich schob ihr die besagte Zeichnung hin und fragte sie: „Sie meint also, Mamsell Margarethe, daß mir das besonders gut stünde?“
Als ich ihren Namen nannte, errötete sie; ihr Gesicht hatte jetzt das Aussehen eines, nein gleich zweier rotbäckiger Äpfel. Wie sie überhaupt fast nur aus Kugeln zu bestehen schien. Ihre Schultern, rund, wie Teile von Kugeln; ihre Brüste, rund, Vollkugeln; ihre Hüften, rund, wie große Kugelhälften. Alles weitere verdeckte der weite Rock, ließ aber ebenfalls allerhand Kugeliges darunter vermuten. Ich trat einen Schritt zurück, um sie ganz zu sehen. Sie hatte sich mittlerweile über die Zeichnung gebeugt, sodaß der lange Rock hinten etwas hochkam; und ich hätte es mir doch denken können: unter dem Rock lugten Kugelwaden hervor.
Aber wir hatten ja die Zeichnung noch nicht begutachtet.
„Also?“, ermunterte ich die Margarethe.
„Ja“, begann sie zögernd, „Herr Graf“, wieder zögerte sie, „der Herr Graf hätt’ halt genau die Gestalt für sowas; die Grazie; den Adel; die Lustigkeit; die Gesichtsfarb’, alles, was man halt braucht, um sowas exzellent tragen zu können.“
Nett, wie sie das gesagt hatte.
„Findet sie, Mamsell?“, fragte ich, als ob ich es noch einmal hören wollte; oder als wollte ich noch mehr solcher Schmeicheleien hören. Oh, ich war eitel in dem Augenblicke, sehr eitel, Gott möge mir verzeihen.
Joseph Moritz benützte sein Tagebuch wirklich als Beichtstuhl. Und er genoss die Befreiungen, die ihm diese schriftliche Beichte schuf.
„Ja“, antwortete das Mädel einfach, anstatt fortzufahren, wie ich es so gerne gehört hätte.
„Jetzt müßt’ ich’s mir ja eigentlich machen lassen“, sagte ich, wobei ich ihr tief in die Augen blickte, „wenn eine so schöne Mamsell mich so überredet, da kann selbst unsereiner nicht widerstehen!“
‚Selbst unsereiner’ - man höre, wie der eitle Geck selbst dort, wo er sich kokett gibt, den Standesunterschied unfein herausarbeitet.
Die Margarethe füllte ihre soeben erst etwas erblaßten Wangen wieder mit Blut, sodaß wieder die zwei Äpfel dastanden. Sie sah mir erst ins Gesicht, erschrak, schlug die Augen nieder, schlug sie wieder auf, sah den Hans gleichsam hilfesuchend an, nickte plötzlich eifrig und sprach eilig: „Der Hans mahnt mich zurecht. Ich muß wieder an die Arbeit!“
Sie machte einen schnellen Knicks und rannte zur Türe hinaus. Ich mußte lachen und schlug den Hans auf die Schulter.
„Bei der brauchst du keine Angst zu haben, die ist dir sicher!“
Der Hans aber antwortete leise: „Ich bin trotzdem froh, daß der Herr Graf nicht weiter charmiert hat - man weiß nie bei einem so jungen Mädel...“
„So“, antwortete ich gedehnt, „er meint also, daß ich ihm bei der Margarethe könnt’ gefährlich werden?“
„Wenn der Herr Graf wollt’...“
„Wenn ich wollt’, ja. Aber sei er beruhigt, ich will ja gar nicht!“
Dann deutete ich auf die Zeichnung: „Und das da will ich auch nicht. In Wien braucht das Jahre, bis sich sowas durchsetzt. Und wenn man der erste ist, kommt man leicht in einen Ruf in unseren Kreisen. Aber das weiß er ja nicht. Braucht er auch nicht zu wissen.“
Wieder der Standesunterschied, auf den der Joseph Moritz deutlichen Wert legt. Es fällt allerdings auf, dass er die Betonung des Standesunterschiedes erst ab dem Zeitpunkt beginnt, als die Margarethe auftaucht. Solang er mit dem Hans allein verkehrt ist, war von diesem Unterschied keine Rede. Da waren sie einfach ‚Männer unter sich’.
Der „Störfaktor“ Margarethe wich aber bald neuen Komplikationen.
Eine Woche habe ich den Hans nicht gesehen gehabt. Heute aber war ich wieder dort, da hat er mich ganz schön erschreckt.
„Herr Graf“, begann er zögernd, „ich muß Ihm was sagen, was Ihm vielleicht einen Zorn auf mich macht.“
„Aber Hans“, lachte ich, weil ich ja noch nicht wußte, was da daher kommen sollte, „hat leicht die Margarethe wieder was ausgesucht für mich?“
Er aber blieb ernst: „Nein, Herr Graf. Es ist nur, vor zwei, drei Tagen waren zwei Herren bei meinem Herrn Vater. Ich wurde hinausgeschickt. Aber ich habe dennoch gehört, wie sie ihn gefragt haben, was für hohe Kundschaft bei uns verkehre. Und weil doch die einzige hohe Kundschaft, die unser Haus betritt, der Herr Graf sind, habe ich mir gedacht, ich muß es dem Herrn Grafen sagen.“
Ich mag wohl blaß geworden sein. Ich habe auch nicht gleich etwas gesagt.
Der Hans wurde sehr unruhig und ängstlich: „Ist das bös’, Herr Graf?“
„Der Sedlnitzky!“, mag ich wohl vor mich hingeflüstert haben.
Der Hans schlug die Hand vor seinen Mund. Und über der vorgehaltenen Hand schielte er mich leicht an mit seinen wunderschönen, kugelrunden Augen.
So habe ich also erfahren, so mußte ich es also erfahren, daß der Graf Sedlnitzky einen Verdacht geschöpft hat.
Der Graf Sedlnitzky - wir werden ihn noch näher beschreiben – ließ sehr schnell arbeiten.
Habe heute einen fürchterlichen Disput mit meinem Herrn Vater gehabt. Er kam wie immer an diesem Tag früher von Seiner Kaiserlichen Hoheit heim.
Es muss ein Montag gewesen sein, denn nur am Montag kam Vater Dietrichstein früher aus seinem Dienst. Und diesen Dienst versah er bei Seiner Kaiserlichen Hoheit, die der Herzog von Reichstadt damals ja noch war, als legitimer Thronfolger Napoleons mit dem Namen Napoleon II.
„Mein Herr Sohn lassen also den Schneider nicht kommen, sondern bemühen sich selber zum Schneider.“
Das schrie mein Herr Vater ganz ohne vorherige Ankündigung.
„Welch eine Herablassung: Kann er mir die vielleicht erklären?“
Ich war so sprachlos, daß ich sicherlich nicht fähig war, sogleich zu antworten. Das war aber auch gar nicht notwendig, denn mein Herr Vater schrie sogleich weiter: „Oder muß ich das wieder von der geheimen Polizei erfahren? Vielleicht erkundig’ ich mich überhaupt gleich beim Sedlnitzky, was in meiner Familie so alles vorgeht, ha?“
Erst jetzt verstummte mein Herr Vater. Er setzte sich brüsk in seinen Lehnstuhl und sah mich so herausfordernd an, daß ich wußte, jetzt war es an der Zeit, mir eine gute Antwort auszudenken.
Aber immer ging’s mir im Kopf herum, der Sedlnitzky. Wie vor einer Woche beim Schneider-Hans: der Sedlnitzky kümmert sich um uns, um mich; um den Sohn des Erziehers Napoleon des II. Na freilich, wir waren hochnotpeinliche Personen.
Joseph Graf Sedlnitzky war zu Anfang des Jahres ‚Präsident der Obersten Polizei- und Zensurbehörde’ geworden. Er hat, wohl ganz im Sinne Metternichs, den ‚Polizeistaat’ zu höchster Perfektion geführt. Das Spitzelsystem war nahezu lückenlos. Die Wiener nannten das Heer der ‚nebenberuflichen’ Spitzel ‚Naderer’. Damals wie auch später war es eine der Charaktereigenschaften des Wieners, über den anderen etwas zu wissen und aus diesem Wissen Kapital zu schlagen zu versuchen. Dieses Kapital war bis dato lediglich in Triumphe, Schadenfreude und heimliches Händereiben umsetzbar. Seit Sedlnitzky aber wurde bar bezahlt. Zudem schaffte der geheime Graf es auch, alle Druck-Erzeugnisse und Briefe fast lückenlos von seiner Zensur erfassen zu lassen.
Es war also nur zu klar, dass der Erzieher von Napoleons Sohn und dessen Familie strengstens observiert wurden. Völlig folgerichtig hatte der Joseph Moritz jetzt also Angst, Vater Dietrichstein war verärgert und im Hause Dietrichstein somit Krach angesagt.
„Darf ich also von ihm erfahren, was ihn dazu treibt, den Schneider aufzusuchen wie eine hergelaufene Straßenkundschaft?“
Mein Vater hat mit mir geschrien, seine an sich starke und eher sonore Stimme drohte fast überzuschnappen.
Ich kam aber gar nicht zum Antworten, da schrie er schon weiter: „Ich darf doch annehmen, daß mein Herr Sohn weiß, daß sein Vater eine Vertrauensstellung hat und somit ein Vertrauen genießt, das ihm sowohl Seine Kaiserliche Majestät als auch seine Durchlaucht der Staatskanzler entgegenbringen. Oder vielmehr entgegengebracht haben. Denn jetzt gilt es ja zu klären, was mein Herr Sohn beim Schneider zu suchen hat, anstatt ihn, wie es immer war, kommen zu lassen.“
Ich schickte mich jetzt zu gar keiner Antwort an; mich beschlich nämlich der Verdacht, daß mein Herr Vater nur erpicht darauf war, mir einen Vortrag zu halten. Vielleicht hatte er sogar Angst; und versuchte sich dieser Angst nun klar zu werden, indem er sie, wenn auch schreiend, so doch, formulierte.
„Ist ihm das klar?“, schrie mich der Vater plötzlich an.