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Du hast recht. Es mag wirklich der Wein sein, der meine Tränen und mein Denken auf solche Wege lenkt.
Napoleon ist tot, die Mutter Marie Louise regiert in Parma und treibt es dort mit dem Grafen Neipperg. Wir werden das alles noch breitest erfahren.
KAPITEL 3
Im Jahr 1831, dem Jahr, in dem Joseph Moritz seinen dreißigsten Geburtstag beging, begann er, sein Tagebuch zu ergänzen, die Zeit ‚vorher’, nachzutragen. Die Notwendigkeit hierfür hat er sich sehr genau überlegt.
Der Franz spricht immer wieder von Flucht; nicht nur zu mir, sondern auch zu anderen. Und ich sage ihm immer wieder, daß das gefährlich sei. Spreche ich aber von Gefahr, scheint er mich sogleich zu fragen: wo ist sie, die Gefahr, sag mir, wo, damit ich mich ihr stellen kann. Mir scheint, er meint, daß sein Leben viel eindrucksvoller wäre, hätte er mehr Gefahren zu bestehen. Aber ich sage immer wieder, ob er nicht meine, daß es gefährlich sei, auch mit anderen als mit mir über seine Pläne zu sprechen. Heute hat er ganz vergnügt abgewinkt: „Gefahr! Verantwortung ist immer Gefahr!“
Ich vermag ihm nicht immer mit dem gleichen Feuer zu folgen, mit dem er von seinen Plänen zu sprechen pflegt. Derzeit bewundert er sehr die Polen, deren Krone er gerne angenommen hätte: „Jomo, die Vorstellung, an der Spitze der Polen zu marschieren, beherrscht mich mehr als alles andere. Ich würde freudig mich in Polen krönen lassen...“. Falls da ein Verführer wäre, würde Franz sicher seine Schritte in diese Richtung lenken. Aber da ist kein Verführer. Und der Franz ist traurig.
Prokesch-Osten -
- wir lernen ihn später noch näher kennen -
- sagte es sehr genau: „Die Krone Frankreichs ist ja nun in schwer erreichbare Ferne gerückt, aber die Länder Griechenland, Italien, Belgien oder eben Polen brauchten nur zu winken und der Herzog würde hinreisen oder hinfliehen, um sich an die Spitze des Landes stellen zu lassen.“
Aber es ertönte kein ernsthafter Ruf. Den Joseph Moritz hat es übrigens sehr geschmerzt, dass der Herzog mit ihm kaum über seine politischen Ansichten und Absichten sprach.
Wenn der Franz so seinen Träumen nachhängt, ist er mir fremd. Da ist er nicht mein geliebter Freund, sondern ein Herrscher ohne Krone und ohne Hoffnung. Ein Mensch, der sich für Höheres, für Besseres bestimmt fühlt; für Höheres, das ihm, so meint er und so will es auch die Historie, von der Geburt an bestimmt ist. Aber die Entwicklung der Zeiten nimmt auf seine Geburtsrechte keine Rücksicht.
Vater macht sich oft seine Gedanken: „Armer Teufel! Dazu geboren, um nichts zu werden. Nichts. Wofür ihn erziehen? Sie sollten ihn lieber leben lassen!“
Dann wandte er sich mir zu und Ärger kam in sein Gesicht: „Ich sollte sowas nicht vor Ihm schwatzhaftem Buben sagen!“
Vater hält mich für einen schwatzhaften Buben.
Das Höchste, was mir der Franz zubilligt ist, daß er heute gesagt hat: „Warte nur, Jomo, mit dir will ich nur das Heitere erleben, laß mich den Ernst mit denen erörtern, die ich nicht schätze und nicht mit denen, die ich liebe.“
Ist gar nicht wahr, das hat er nicht gesagt. Aber sein Blick, und es war ja nur ein Blick, den er mir zuwarf und den er mit keinem Wort ergänzte, ihn somit meiner Übersetzung überließ, dieser Blick sagte mir... aber vielleicht ist es auch gar nicht wahr.
Ich bin viel allein gelassen. Aber es kann mich nur einer allein lassen, der Franz. Niemand außer ihm fehlt mir.
Damals, in dieser Einsamkeit, fasste Joseph Moritz den Entschluss, das Bisherige aufzuarbeiten, sein Tagebuch um die ‚Zeit davor’ zu ergänzen.
Ich hatte heute Zeit und Muße. Das Wetter war so, wie ich es am meisten verabscheue, es war ohne Farben, grau und überschattet von dem Geräusch, das ich hasse, dem Geräusch des Regens. So blätterte ich zum ersten Male in meinem Tagebuch. Ich fand mich selber in vergangenen Zeiten. Und wenn mir der Franz schon nicht persönlich seine Anwesenheit schenkt, so rief ich ihn mir wenigstens mit Hilfe meiner Notizen. Dabei komme ich nicht umhin, festzustellen, daß mein Tagebuch im Lauf der Zeit immer mehr zu einem Buch über den Franz wird. Über mich und den Franz; über den Franz und mich.
Aber wie hat es angefangen? Das Tagebuch ist unvollständig, sind doch die Jahre, in denen ich noch kein Tagebuch führte, nicht enthalten, obwohl ich damals den Franz schon gekannt habe. Kurzum, ich habe mich heute entschlossen, diese Zeit nachzutragen, in meinen Erinnerungen zu kramen und mich an die Jahre mit Franz zu erinnern, als es dieses ‚Franzensbuch’ noch nicht gab.
Der Schriftduktus zeigt uns eine Pause an, die Joseph Moritz eingelegt hat.
Da sitze ich nun seit über einer Stunde mit gezückter Feder und weiß nicht, wo beginnen. Es ist mir nämlich nicht möglich, heute, nachher, so zu tun, als würde ich es damals schreiben, als ich es erlebte. Ich kann nicht so tun, als kennte ich den Franz noch nicht so wie heute. Ich kann nicht so tun, als wäre der Franz jetzt der kleine Bub, als den ich ihn kennengelernt habe. Ich kann nicht so tun. Ich, der Franz, wir beide, unser Leben war damals mit uns im Wachsen. Das IST nicht mehr, das WAR alles. Verstehst du das?
Joseph Moritz ist hier zweifellos an die Grenzen dessen geraten, was er für Dichtung oder Dichtkunst hielt. Hier bemerken wir aber auch das völlig verstellte Bild, das er von sich selber hatte. Niemand hat damals von ihm verlangt, das, was er erlebt hat, wie Heutiges zu erzählen. Einfach niederzuschreiben, was er empfand, war dem Joseph Moritz offenbar zu wenig; das war nicht des Dichters Werk, zu empfinden und das zu notieren. Beim Dichter musste seiner Ansicht nach auch ein gewisses Maß an Umformung, an Verformung, an Neuformung stattfinden, ob sie nun passte, sich aufdrängte, sich so ergab - oder nicht. Und wenn sie sich schon nicht aufdrängte, weil sie halt nicht passte und sich daher auch nicht ergab, dann musste man den ‚Stoff’ eben zwingen. Und genau dieses ‚Zwingen’ meinte Joseph Moritz nicht zu vermögen. Er hätte lügen müssen. Er hätte das tun müssen, was allerdings viele Schriftsteller tun, die Selbsterlebtes einfach in eine so genannt überhöhte und damit künstlerische Form umgießen, und damit Kunst vorgaukeln, Dichtkunst vorgaukeln, indem sie lügen und Selbsterlebtes zum Einfall umbilden.
So ergibt sich ein für Joseph Moritz trauriger Schluss: Er hätte nur die richtigen Gesprächspartner haben müssen; dann wäre er vielleicht kein Dichter, aber seiner selbst sicher geworden. Er hätte eben geschrieben, nicht als Dichter und nicht für eine Nachwelt, sondern einfach deshalb, weil es seine Art war, sich mitzuteilen, indem er es niederschrieb und beim Schreiben noch einmal durchdachte, noch einmal erlebte, nocheinmal durchlitt, sich noch einmal freute.
‚Verstehst du das?’, war die letzte Eintragung. An ihr knüpft Joseph Moritz nach einer Pause, die möglicherweise sogar ein paar Tage gedauert haben konnte, an.
Wer sollte mich denn verstehen? Wen habe ich denn da angesprochen? Wen habe ich da angefleht? Meine Mutter? Mutter! Mein Respekt verbietet mir, mehr zu sagen. Meinen Vater? Mein Vater! Er ist schon nicht glücklich mit mir, wie er mich kennt. Lernte er gar noch die Winkel an mir kennen, die ich verheimlichen muß, was wäre denn gar dann?
Ich muß mir einen anderen Platz zur Aufbewahrung meines Tagebuches suchen. Oder nicht alles schreiben. Aber ich schreibe sowieso nicht alles. Das, was ich schreibe, errettet mich vor dem Tode des inneren Erstickens. Oder vor einem anderen baldigen Tode.
Einem Freund geben? Das Tagebuch. Einem Freund? Franz, ja, der hat Freunde. Freunde, denen er vertrauen könnte, daß er ihnen ein Tagebuch wie meines hier anvertrauen dürfte? Dem Franz sind viele treu. Treu ergeben. Stehen zu ihm, nein, sind ihm ergeben. Der Kaiser ist sein Freund, sein verläßlichster. Ihm kann ich zweifellos nicht mein Tagebuch zur Aufbewahrung übergeben. Kaiserin Karolina Augusta? Sie liebt den Franz, sagt auch heute noch ‚Fränzchen’ zu ihm. Sie ist die einzige, die sich ihm gegenüber Herzlichkeiten herausnehmen darf. Sie ist auch die einzige, deren Herzlichkeiten gegen den Franz mir keinen Stich ins Herz versetzen.
Was tun?
Ich möchte alles vom Franz erzählen, alles von früher, als ob er da säße. So säße, wie er sitzt, wenn wir allein sind: Den mageren Oberkörper etwas eingesunken, leicht nach vorne gebeugt, die langen Beine gegrätscht von sich gestreckt, mit dem linken Arm auf die Lehne des Sessels gestützt, die rechte Hand auf dem rechten Oberschenkel, knapp in der Beuge, ausruhend, mich aufmerksam betrachtend, beim Zuhören hin und wieder nickend und, wie so oft, nicht ganz bei der Sache.
Dann frage ich ihn: „Franz, hörst du mir zu?“
Und er antwortet so wunderbar lächelnd: „Jomo, es ist zu viel. Nicht nur, WAS du erzählst, ist schön, sondern auch, WIE du es erzählst.“
Dann wird mir heiß, ich spüre mich erröten, er aber lächelt weiter: „Soll ich dir nun zuhören oder zuschauen? Bei dir kann ich nur eines!“
Dann schließt er die Augen. Jetzt kann ich nicht mehr erzählen, denn wenn Franz die Augen schließt, ist er nicht mehr da. Also bitte ich ihn, die Augen zu öffnen. Er tut's und blickt so verschlafen, als wäre er eben aufgewacht. Aufgewacht nach einer Nacht. Es ist Morgen.
Es ist Nachmittag. Ich beschreibe ihn mir, weil ich ihn nicht habe. Was weiß ich, was er tut?
Joseph Moritz ist in Gedanken versunken. Dieses Grübeln, das ihn in den Jahren 1830 und 1831 immer wieder befiel, begann seinem Vater Sorgen zu machen. Schwermut, Neigung zum totalen Versinken, sich zeitweise selbst nicht finden, so erzählte es der Vater dem Doktor Johann Peter Franck. Franck behandelte sowohl den Herzog, als auch Metternichs Sohn Viktor. Auf Vaters Bitten untersuchte er Joseph Moritz einmal, stellte aber keine Krankheitssymptome fest. Damals musste man schon seine Lunge heraushusten, damit der Arzt einen nicht auf einen nicht vorhandenen Ausschlag behandelte, wie es der Doktor Malfatti so lange Zeit beim Herzog tat, bis Doktor Franck endlich die wahre Krankheit erkannte. Da war alles schon zu spät.
„Ein romantisches Gemüt“, attestierte er dem Joseph Moritz. „Hang zu Schwärmerei, Anfälligkeit für mitteltiefe Melancholie“, das waren die näheren Erläuterungen. ‚Mitteltief’, das klang nicht nach Selbstmordgefahr. „Viel gehen in frischer Luft“, war die Therapieanweisung, die Franck dem Grafen Dietrichstein für seinen Sohn mitgab. Franck hat diese Diagnose sogar in seinem Patientenbuch festgehalten. Ein schräges Kreuz am Rande der Eintragung, mehr schon ein X, kennzeichnete den Fall Joseph Moritz von Dietrichstein als harmlos und erledigt.
Heute ist der Franz auf Inspektion zu seinem Regiment gefahren.
Das schreibt Joseph Moritz als einzige Eintragung eines Tages Ende Jänner 1831.
Der Schrift nach folgt der nächste Satz um einiges später.
Heute beginne ich, die Vor-Tagebuch-Zeit aufzuarbeiten. Ich habe Zeit. Der Franz ist bei seinen Kameraden. Ich bin ja kein Kamerad.
KAPITEL 4
Joseph Moritz wusste nicht, wo und wie er mit seinem Bericht „Was vorher war“ beginnen sollte. Er brauchte für seine Überlegungen sogar einige Tage lang. Das WAS und WIE hatte ihn ja schon in einer früheren Eintragung gequält. Je mehr er sich jedoch seinem Vorhaben zu nähern vermeinte, desto mehr Unsicherheiten tauchten ihm auf.
Das Wochenende war kalt und klirrend. Wir gingen kaum aus dem Hause. Mein Vater, der auch in seinen Dienst gehen muß, wenn der Franz nicht da ist, schimpfte wie ein Rohrspatz, zumal sich Metternich noch kaum jemals um die Anwesenheit des Erziehungsstabes des Herzogs gekümmert hatte. Aber just gestern hat er vorbeischauen lassen, wie der Adjutant es ausgedrückt hatte.
„Nicht der Herzog hat mit Ihnen zu studieren, sondern Sie alle haben in Permanenz den Herzog zu studieren!“, so ließ Metternich freilich ohne gegebenen Anlaß, wie ausdrücklich betont wurde, ausrichten.
Mein Vater fluchte, wie ich ihn noch nie gehört habe.
Unser Haus ist bei der strengen Kälte nur sehr schwer zu beheizen. Wirklich warm ist es nur in der Küche, an deren großem Tisch wir auch unsere Mahlzeiten derzeit einzunehmen pflegen. Mäßig warm ist es noch im großen Salon, wo sich die Familie aufhält. Die eigenen Zimmer aufzusuchen ist nur möglich, wenn man sich dort gleich zu Bette begibt. So sind alle mißmutig und beäugen, mangels eigener Tätigkeit, jeder den anderen, wie auf der Suche nach Zerstreuung durch den anderen.
Ich lese ein wenig von Collin. Nicht von Franzens Lehrer. Der dichtet zwar auch. Versucht es halt. Wie ich. Nein, ich lese von seinem Bruder, der - seiner Verbreitung nach - sehr wohl sich zum Berufstand der Dichter zählen darf. Aber ich weiß nicht, was ich da alles gelesen habe. Ich habe leere Worte, aneinandergereihte Buchstaben eingesogen. Und irgendwo im Gehirne verloren, noch bevor ich sie verstanden habe. Wie soll ich da einen Gedanken fassen? Und wenn ich einen fasse, wie ihn niederschreiben? Ich habe so meine Gedanken, gewiß. Aber sie verflüchtigen sich wieder. Wenn ich’s nicht niederschreibe, hält es nicht. Und mir erscheint es qualvoll, daß es sicherlich die besten Gedanken sind, die ich so nicht niederschreibe.
Jetzt sitze ich in meinem Zimmer; es wird kalt und kälter. Ich werde gleich zu Bette gehen. Keiner der Gedanken des Tages ist da. Keiner zum Niederschreiben. So beschreibe ich meine Zeit ohne Gedanken. Vielleicht dann, wenn ich im Bette liege, wenn mein Körper auftaut und sich in jedem Glied füllt mit meinem Denken und Fühlen. An den Franz wohl. Ganz ohne Probleme. An den Franz. Nur schnell einschlafen.
Klamm sind die Schriftzüge. Joseph Moritz ist schlafen gegangen. Die nächste Eintragung spricht vom nächsten Tag.
Plötzlich hab’ ich’s: soll ich berichten ab der Zeit, in der der Franz lebt? Soll ich auch die Zeit vorher erzählen? Habe ich denn gelebt, bevor es den Franz gab? Doch, ich habe gelebt. Zehn Jahre lang. Und dann noch vier Jahre lang, bis ich den Franz zum ersten Male erblicken durfte. So werde ich dem Franz alles das erzählen, was ich seit seiner Geburt erlebt habe.
Ich habe gesagt, ich hab’s. Ich weiß, WAS ich erzählen werde, und ich weiß, WEM ich es erzählen werde. Und da der Franz es nie lesen wird, ist jeder, der es einmal liest, der Franz. Also niemand.
So beginne ich:
Ich weiß noch, daß es Ende März des Jahres 1811 war, als wir erfuhren, daß am 20. März, morgens um neun Uhr und fünfzehn Minuten die Glocken von Notre Dame in Paris und die Glocken aller Kirchen der Stadt mit voller Stärke dröhnten. Ein Kanonenschuß zerriß die Luft. Alle wußten, einundzwanzig Schüsse würden die Geburt einer Tochter des Franzosenkaisers Napoleon und seiner Gemahlin Marie Luise verkünden. Erzherzogin Marie Luise, deiner Mutter, Franz, die ein Jahr zuvor in der Wiener Augustinerkirche per procura mit deinem Vater vermählt wurde. Fünf Tage nach dieser getrennten Hochzeit wurde Ihre Kaiserliche Hoheit an der österreichischen Grenze an Frankreich übergeben, um in das Ehebett Napoleons geführt zu werden.
Franz schlägt die Hände vor das Gesicht. Ich weiß, die Nennung der Mutter verschafft ihm Pein. Denn mittlerweile, wenn ich dies niederschreibe, weiß er schon alles über sie. Und der Vater ist tot.
„Franz, ich will dich nicht quälen. Franz!“
Er löst langsam seine Hände vom Gesicht. Ich bin mir nicht sicher, ob er geweint hat. Schatten verhüllen eine genaue Sicht in sein Antlitz.
„Sprich weiter“, sagt er fast ohne Ton.
Alle in Paris, die jetzt die Kanonenschüsse zählen, wissen, wenn es über einundzwanzig hinausgeht, dann ist er geboren, der Thronfolger, der sofort mit seiner Geburt König von Rom wird. Nun Franz, es waren mehr als einundzwanzig Schüsse es waren die einhundertein Schüsse. Und sie galten dir. Deiner Geburt. Der Geburt des Königs von Rom. Sohn des geliebten Vaters, den er, so sagte er mir, persönlich nicht in seiner Erinnerung hat. Der König von Rom ist er nun auch nicht mehr.
„Franz“, frage ich zögernd, „soll ich weitererzählen?“
Franz ist blaß, aber er bittet fast: „Sprich weiter.“
Dann erfaßt ihn ein Zorn, er schlägt mit der Faust auf die Lehne seines Sessels - man hört nichts, denn die Lehne ist gepolstert - und er zischt: „Sprich weiter. Erzähl mir vom Entstehen einer Leere.“
„Einer Leere?“, frage ich erstaunt und nicht verstehend.
„Meines Lebens“, sagt er so, als wollte er sich verbessern.
Ich wollte nicht verstehen, weil ich gerade dabei war, mich in meine eigene Geschichte zu versenken, uns so vertiefte ich mich wieder in die Erinnerung.
Es war das Jahr, in dem unsere Familie viel Geld verlor. Mein Vater schimpfte irgendwas von „unfähiger Finanzverwaltung“ und „da schmeißen sie das Geld hinaus für alles mögliche und wir dürfen zahlen“. Unsere Bankozettel, Geld aus bedrucktem Papier, waren immer wertloser geworden. In jenem Jahr mußten wir sie umtauschen gegen - ich glaube - Einlösungsscheine. Neues Papier, das keinen Wert hatte. Meine Mutter fragte damals ängstlich: „Aber unser Silber, das bleibt doch was wert, Herr Vater?“
Der Vater zischte, blickte sich um, daß ihn nur ja niemand hörte, dann maßregelte er meine Mutter: „Geh’ sie doch gleich auf die Gass’n und erzähl’ sie’s einem jeden.“
Erst später erfuhr ich, daß mein Vater das gleiche getan hatte, das viele damals taten. wenn sie’s hatten: er hatte Silbergeld gehortet, in einer Truhe im Keller.
Nun, uns hat’s ja nicht so sehr getroffen, wir haben ja unsere Güter. Aber es soll viel Elend gegeben haben draußen, wo die Leute wohnen. Nicht nur, weil das Geld weniger geworden war, sondern weil für die, die kaufen mußten, auch noch alles teurer wurde.
„Arme Leut‘“, sagte mein Vater, „an die denkt keiner!“
Meine Mutter aber war nicht weiter unruhig: „Die Polizei paßt schon auf, daß uns nichts g’schieht! Gell?“
„Die Polizei“, antwortete mein Vater, „das sind ja auch keine armen Leut’. Da schaut schon der Metternich drauf.“
Vom Metternich war damals überhaupt viel die Rede.
Ich hatte den Franz vergessen: „Verzeih’, ich will deinem Wohltäter nichts nachsagen. Aber laß’ mich dennoch, soweit es geht, bei der Wahrheit bleiben.“
Franz staunt: „Meinst du, Jomo, ich erzähl’ ihm vielleicht was?“
Ich bin verwirrt: „Ich weiß nicht. Mußt du nicht? Muß einer wie du nicht? Muß ich jetzt schweigen?“
Der Franz lacht: „Ich will es nicht auf die Probe ankommen lassen, wer wem gegenüber was muß!“
Ich fühle mich plötzlich ohne eigenen Willen. Ich brauche einen Befehl. Aus mir selber kommt keiner. Franz ist mir im Augenblick fremd. „Metternich oder ich“, das sind beinahe gotteslästerliche Reden.
Jetzt seufzt er, blickt mich an, dreht sein Gesicht ganz aus dem Schatten heraus, und sagt herausfordernd: „Na?“
Ich weiß plötzlich so vieles nicht. Wir haben im selben Jahr das „Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch“ bekommen. Aber es hat auch nichts genützt, als der Hornbostel, der Seidenfabrikant, den selbstwebenden Webstuhl erfunden und auch gleich in Betrieb genommen hat. Früher hat er für jeden Webstuhl einen Weber gebraucht, für Tag und Nacht also zwei. Jetzt treibt ein Schwungrad gleich acht Webstühle an und er braucht nur noch drei Leute für die acht Webstühle.
Ja, und der Heinrich von Collin, der Dichter, der Bruder von deinem Lehrer Matthäus von Collin, der ist damals gestorben.
Ein Schatten von Trauer zieht über Franzens Gesicht, denn auch der Matthäus von Collin, sein Lehrer, ist im November 1824 gestorben.
Ich aber beschließe jetzt, die Schatten auf dem Franz nicht mehr zu berücksichtigen, indem ich jedesmal auf sie einzugehen versuchte.
Ich vertiefte mich wieder in die Vergangenheit. Der Schikaneder ist gestorben, 1812 glaube ich. „Er hat alles verjuxt!“, spottete mein Vater. „Schulden machen und dann wahnsinnig werden“, das war sein Urteil über Schikaneders Leben.
„Hat er wirklich so gedacht?“, fragt der Franz. „Ich möchte über meinen Erzieher nicht solches hören, wenn es nicht ganz exakt der Wahrheit entspricht, Jomo. Denk’ nach! Hat dein Vater das gesagt?“
Es war nicht der Funken von Verlegenheit, der mich etwa jetzt befallen hätte. Wußte ich doch, daß mein Vater Mozart über alles schätzte und liebte und der festen Meinung war, daß Schikaneder den Mozart schamlos ausgenutzt hatte und viel Geld hatte, während Mozart an manchen Tagen nicht wußte, wie weiterleben. Und der Mozart wäre nun einmal der gewesen, dem aller Reichtum zu gönnen war, nicht der Schikaneder, dieser Opportunist schlechthin, der sich ein Genie zu Diensten machte.
Franz lacht: „Liebe und Ungerechtigkeit, wie nahe liegen sie doch zusammen!“
„Ja“, antworte ich ereifert, „weil die Liebe zu dem einen so viel Liebe zu anderen ausschließt. Ausschließen muß. Liebe ist an einen - darf ich so sagen - festen Gegenstand gebunden. Und der wiederum frißt alle Liebe auf. Alle Liebe!“
„Schon gut, schon gut“, beschwichtigt mich Franz, „ich weiß schon.“
Jetzt wird sein Ton zarter, sein Blick allerdings erreicht mich aus dem Schatten, in den er sein Antlitz zurückgezogen hat: „Ich weiß schon, Jomo.“
Joseph Moritz hat dies nicht alles in einem Zuge geschrieben. Dem Schriftduktus nach dürfte es sich über einige Tage, mindestens sechs oder sieben, hingezogen haben.
An der Stelle, an der wir jetzt halten, ist die Unterbrechung allerdings besonders auffällig, da sie von starker Emotion getragen scheint. Er hat hier aufgehört. weil er einerseits von seinem Gefühl übermannt worden war, andrerseits aber mit dem Kopf gegen eine Wand gerannt war, wie er vermeinte.
Ich habe ein Stück des bisherigen gelesen. Ich hätte es nicht tun sollen. Alles, was ich bisher über früher geschrieben habe, beweist doch nur, daß ich es dem Franz gar nicht so erzählen kann, wie es war. Er korrigiert mich während des Schreibens. Er sucht aus, was wichtig und was unwichtig ist. Er läßt gar keinen anderen Satz zu, als den, der ihm nahegeht, der seine Empfindungen anspricht, der ihn interessiert.
Was bin ich für ein Dichter!
Ich versuch’s halt weiter.
Die vielen Baustellen, die wir heute in unserem Wien haben, rühren auch aus der Zeit deines ersten Lebensjahres. Dein lieber Vater Napoleon - das ‚lieber’ bezieht sich auf die Bezeichnung, die wir ihm damals gaben, als er uns 1809 zum zweiten Male heimsuchte - hatte die Burgbastei sprengen lassen. Ein paar Jahre lang wurde überlegt, ob man die Mauer wieder aufbauen solle oder nicht. Dann aber entschied man sich höchsten Ortes, die Innenstadt an der Stelle zu vergrößern, die Mauern also nicht mehr aufzubauen. Seither haben wir dort eine Baustelle. Sie haben einen Park angelegt, das Äußere Burgtor errichtet. Und wie sie aus dem Paradeplatz den Äußeren Burgplatz gemacht haben, da hat man in unseren Kreisen schon etwas gestöhnt, war doch die ‚Ochsenmühle’ plötzlich verschwunden.“
Franz lacht: „Ochsenmühle? Was ist denn das?“
„Das ist nicht mehr“, antworte ich, „das war eben. Das war der Korso. Und weil dort nicht viel Platz war, mußten wir immer im Kreis gehen. Und von dieser ‚Im Kreis Geherei’ hat unser Korso den Namen ‚Ochsenmühle’ gehabt. Du weißt, diese Mühlen, die von Ochsen angetrieben werden, die immer im Kreis gehen.“
„Kein schöner Name, alles Ochsen?“, lächelt Franz.
Keiner dachte daran, ein Ochse zu sein, wenn er dorthin ging, um sich sehen zu lassen, obwohl er daheim sagte, er ginge jetzt auf die ‚Ochsenmühle’. Ein Jahr später ist dann der Eipeldauer gestorben. Er war, pardon, vor allem durch deinen Vater, als Schreiber nationaler, patriotischer Schriften sehr beliebt. Ja, und der Schubert ist irgendwie aufgetaucht. Seine erste Symphonie wurde uraufgeführt. Ich war mit dem Vater dort, frag’ mich nicht, Franz, wie’s war, ich kann mich nicht mehr erinnern. Mein Vater aber verkündete mir damals seherisch: „Den Namen wird man sich merken müssen!“
„Auch schon tot“, murmelt der Franz.
Ja, jetzt, da ich dies schreibe, ist er schon drei Jahre tot.
„Einunddreißig Jahre ist er geworden“, sinniert der Franz. „Ich bin zwanzig. Und du dreißig!“
Der Franz sieht mich groß an: „Dreißig, Jomo!“
Ich lache: „Ich kann noch nicht sterben, ich habe noch nicht eine einzige Symphonie geschrieben!“
„Wirst du je sowas Bedeutendes schreiben?“, fragt plötzlich ganz ernst der Franz; dann fügt er leise hinzu: „Ich wohl nicht. Bei mir müßt’ es schon eine Schlacht sein. Eine Schlacht wie eine Symphonie!“
Napoleon, Cäsar, Hannibal, das sind Franzens Künstler.
Dann rafft sich der Franz auf: „Mein Vater, der hat euch damals ganz schön zugesetzt, oder?“
Ich zögere mit meiner Antwort. „Es war Krieg. Ja, in Leipzig haben wir Napoleon besiegt.“
„Wir“, gibt sich Franz plötzlich aufgebracht, als wäre er der Verteidiger seines Vaters in einem Prozess, „das waren immerhin Österreich, Preussen und Russland. Sie alle hat’s gebraucht... Dennoch“, träumt er jetzt, „eine herrliche Schlacht, ich habe sie in allen Einzelheiten studiert.“
Eine herrliche Schlacht, denke ich für mich. Allein fast fünfzehntausend Österreicher blieben im Felde. Insgesamt fünfunddreißigtausend Tote und Verwundete auf Seiten der Franzosen, die Verbündeten verlieren noch mehr.
Ach, denke ich mir, was soll denn das bedeuten. Dem Franz das alles vorrechnen, nur weil er seinen Vater bewundert und liebt? Ich spüre eine Entfernung zwischen Franz und mir. Seine Überlegungen sind dynastisch, staatsmännisch, ich scheine da doch mehr mich dem Volke verbunden zu fühlen. Aber ich will diese Entfernung nicht, also erzähle ich weiter, in der Hoffnung, die kleine Kluft, vor der ich solche Angst habe, zu schließen.
Hier hat Joseph Moritz wieder abgebrochen. Er verstrickte sich beim Versuch, das Bisherige aufzuarbeiten, zum ersten Mal in einen Konflikt mit dem Herzog. Vergessen wir nicht, der Herzog war immer noch auf Inspektion. Es war immer noch Ende Jänner 1831, vielleicht schon Anfang Februar. Joseph Moritz nannte sein Schriftwerk zwar ein Tagebuch, vergaß allerdings meistens die Datierung, so, als wollte er eigentlich einen Roman, eine fortlaufende Geschichte schreiben. Jedenfalls brachte ihn die Beschäftigung mit dem, was vor dem Herzog von Reichstadt mit ihm, Joseph Moritz, war, in gedanklichen Widerstreit mit dem Herzog. Aber was geschehen war, war nun einmal geschehen. Die damalige Realität vertrug sich nicht immer mit der heutigen Realität. Ihm gegenüber saß der Sohn Napoleons, der Sohn des Mannes, der letzten Endes mehr oder weniger das ganze Leben des Joseph Moritz und seiner Familie bestimmte.
Joseph Moritz hat da aber einen rigorosen Entschluss gefasst:
Ich werde mich ab jetzt kürzer fassen.
So schreibt er schon am nächsten Tag.
Gestern habe ich mich wohl verrannt. Ich habe deinen Einwänden und Bemerkungen mehr Gewicht geschenkt, als meiner eigenen Erzählung. Und um diese allein soll es hier ja gehen.
Verzeih mir, Franz, wenn ich dich also jetzt zum Schweigen verurteile. Wie ich allerdings auskommen werde, ohne mir deine liebe Stimme wenigstens vorzustellen, indem ich ihr in meinem jetzigen Geschreibe einige Worte zu sagen gebe, weiß ich nicht. Laß es mich versuchen. Ich weiß allerdings jetzt schon, wenn ich etwas versuche, daß mir das nie gelingt.
Ich bin ja schon bei dem Jahr angelangt, in dem - ich darf gar nicht sagen - eine glückliche Fügung es schickte, daß du nach Wien kamst.
„Warum darfst du das nicht sagen?“, mischt sich der Franz trotz meines Flehens ein. „Daß wir beide einander kennen, ist das keine glückliche Fügung?“
Dann seufzte er und - eben hatte er mich noch im Licht so klar angesehen - zieht sein Antlitz in den Schatten zurück, aus dem er leise spricht: „Vielleicht die glücklichste Fügung meines gesamten Schicksals, wer weiß?“
Ich schüttle verzweifelt den Kopf, weiß nicht, freue ich mich oder ärgere ich mich, mache also verbissen weiter.
Immerhin mußte dein Vater erst einmal abdanken und wurde auf das Fürstentum Elba geschickt. Der Bourbone Ludwig XVIII. hat den Thron Frankreichs wieder. Und deine Mutter Marie Louise kommt mit dir nach Wien zurück.
„Mit mir im Gepäck“, lächelt Franz zynisch, „denn ich war ihr sicher schon damals eine Last.“
Drei Jahre warst du damals alt, du kannst also noch keine große Last gewesen sein. Jetzt gebe ich mich zynisch.
Dann fällt mir aber ein, wie unser Kaiser, nachdem er den Frieden von Paris ausgehandelt hatte, am 16. Juni 1814 nach Wien zurückgekehrt ist.
„Ich weiß“, stöhnt Franz leise, „da kann ich mich gerade noch erinnern, daß ich da auch herumstehen habe müssen!“
Jetzt äußert er sich ganz aus der ihm zustehenden Sicht von oben her: „Was soll denn da Besond’res dran sein?“
Joseph Moritz scheint durch diese Äußerung in Verwirrung zu geraten. Immerhin hat ihm das ganze Rückkehr-Zeremoniell offensichtlich sehr gut gefallen. Durch des Herzogs herablassendes Wesen fühlt er sich in die Reihe der Plebs versetz, der Leute, denen so Etwas halt gefällt!
Was willst du? Ganz Wien hat aufgeatmet. Rund eineinhalb Jahrzehnte waren wir außenpolitisch und militärisch bedroht. Und jetzt schien endlich Ruhe, Beruhigung in Sicht. Was willst du? Einem Volk verwehren, daß es feiert? Der Kaiser wurde im Triumph empfangen.
Jetzt kennt er kein Taktgefühl mehr dem Sohn des Mannes gegenüber, dessen Untergang ganz Wien feiert.
Auf das Glacis vor dem Kärntnertor haben sie einen wunderschönen Triumphbogen hingestellt. Aber man hat es dem Kaiser auch angesehen, daß er was Gutes mitbringt. Seine dunklere, gesunde Gesichtsfarbe ist ihm gut angestanden. Meine Mutter stellte fest, daß die knappere, modisch wattierte Pariser Uniform seiner Gestalt eine Fülle und Eleganz gaben, die man sonst an ihm keineswegs gewohnt war. Und mein Vater stellte fest, daß - im Gegensatz zu seinem Äußeren - sein Wesen wohltuend gleichgeblieben sei: dieselbe Leutseligkeit, derselbe mit der tiefgefühlten Freude rückhaltende Ernst, dasselbe Gemisch von Würde und Bescheidenheit in seinen Zügen...