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Funktion I:

Das Pluralsuffix -ler bzw. -lar kann die Vielzahl von „individualisierten Elementen“ (Ersen-Rasch 2004: 25) einer Klasse ausdrücken1:


(47)Çiçek-ler orada.Blume-PL dort‚Die Blumen sind dort.‘


(48)Kitap-lar-ım var.Buch-PL.1SG geb‚Ich habe Bücher.‘

In (47) geht es nicht um die Klasse Blumen, sondern um bestimmte, „individualisierte Elemente der Klasse“ (ebd.), die im Deutschen in (47) mit dem definiten Artikel ausgedrückt werden. Der Beispielsatz (49) ist aus Ersen-Rasch (ebd.) übernommen. Sie führt diesen Satz als Kontrast zu folgenden Sätzen auf, um den individualisierenden Aspekt des Pluralsuffixes zu zeigen:


(49)Bir kitap al-dım.ein Buch kauf-1.SG.PRÄT‚Ich habe ein Buch gekauft.‘


(50)Iki kitap al-dım.zwei Buch kauf-1.SG.PRÄT‚Ich habe zwei Bücher gekauft.‘


(51)Birkaç kitap al-dım.einige Buch kauf-1.SG.PRÄT‚Ich habe einige Bücher gekauft.‘


(52)Birçok kitap al-dım.viele Buch kauf-1.SG.PERS.PRÄT‚Ich habe viele Bücher gekauft.‘

(vgl. Ersen-Rasch 2004: 25)

In diesen Sätzen findet keine Markierung der Singularform statt, da es nicht um bestimmte Bücher geht. Bei der Betrachtung dieser Darstellung kommt folgende Frage auf: Liegt der Grad für die Individualisierung der Elemente der Klasse Buch in Beispiel (48) nicht bei der Verwendung des Personalpronomens bzw. des Suffixes, das das Personalpronomen 1. Person Singular markiert? Denn beim Weglassen der Markierung fällt der individualisierende Aspekt weg, wie der folgende Beispielsatz zeigt:


(53)Kitap-lar var.Buch-PL geb‚Es gibt Bücher.‘

Aus diesem Grund erscheint der Beispielsatz (49) ungeeignet, um die individualisierende Eigenschaft des Pluralsuffixes aufzuführen. Die Möglichkeit der Individualisierung durch Einsatz des Suffixes im Türkischen wird an dieser Stelle nicht bestritten. Unter diesem Aspekt der Individualisierung können sogar Pluralformen von Nomen gebildet werden, die im Deutschen nicht in den Plural gesetzt werden können:


(54)Berlin de hava-lar nasıl?Berlin LOK Wetter-PL wie‚Wie ist das Wetter in Berlin?‘

(vgl. Ersen-Rasch 2004: 26)

Funktion II:

Das Pluralsuffix -ler/-lar kann unterschiedliche, „nicht gleichartige Teile einer Klasse in einem Suffix zusammen[zu]fassen“ (Ersen-Rasch 2004: 25):


(55)Toka-lar, yüzük-ler, küpe-ler ve bilezik-ler satıyorum.Schnalle -PL, Ring -PL, Ohrring -PL und Armreif -PL verkauf– 1.SG.PRS‚Ich verkaufe Schnallen, Ringe, Ohrringe und Armreifen.‘

Die Pluralbildungsregeln im Türkischen sind jedoch nicht immer strikt (vgl. Ketrez/Aksu-Koc 2009: 39), so dass beispielsweise in diesem Falle auch die Pluralendung weggelassen werden kann, ohne dass sich die Bedeutung des Satzes ändert:


(56)Toka, yüzük, küpe ve bilezik sat-ıyorum.Schnalle, Ring, Ohrring und Armreif verkauf -1.SG.PRS‚Ich verkaufe Schnallen, Ringe, Ohrringe und Armreifen.‘

Das Suffix ist jedoch nicht immer fakultativ.1 Wenn beispielsweise die Sorte von etwas ausgedrückt werden soll, ist das Suffix obligatorisch und kann nicht weggelassen werden2:


(57)Yağlar nerede?Fett-PL/Öl-PL‚Wo sind die Fette/Öle?‘

(vgl. Ersen-Rasch 2004: 25)

Funktion III:

Das Pluralsuffix -ler/-lar kann die Häufigkeit einer Handlung ausdrücken.

Durch das Anhängen der Pluralendung kann auch eine oft auftretende Handlung beschrieben werden, wie das folgende Beispiel von Ketrez (2004) verdeutlicht:


(58)Çocuk parmak -lar kaldır -dı.Kind Finger-PL heb-3.SG.PRÄT‚Das Kind streckte/hob oft/mehrmals seine Hand/seinen Finger.‘

(vgl. Ketrez 2004: 8)

Erst mit der Deutung, dass das Kind viele Finger, beispielsweise von anderen Personen hochhielt, wäre für die Endung -lar in parmaklar eine Pluralfunktion anzunehmen, was möglich ist, da keine Markierung durch ein Possessivsuffix oder Ähnliches vorhanden ist.

Sowohl der obige Beispielsatz (56) als auch die Sätze (50–52) zeigen, dass beim Ausdruck der Pluralität in diesen Fällen keine Markierung am Nomen vorgenommen wird. In (50) ist dies mit der Regelung im Türkischen zu erklären, dass keine Pluralendung nach Zahlwörtern1 angehängt wird, da der Plural mit dem Zahlwort als markiert gilt (vgl. Moser-Weithmann 2001: 31). Dies wird mit dem Prinzip der Ökonomie, das typisch für das Türkische ist, erklärt und gilt auch bei anderen, die „Quantität“ ausdrückenden Wörtern, wie in (51) und (52) (vgl. Ersen-Rasch 2004: 25).

Einzige Ausnahmen, bei denen trotz Zahlwort eine Markierung am Nomen erfolgt, stellen Nomen dar, die „die Bedeutung von Eigennamen haben, wie z.B. yedi cüceler (Die sieben Zwerge), kırk haramiler (Die vierzig Räuber)“ (Moser-Weithmann 2001: 31).

Eine Markierung des Nomens ist im Türkischen in folgenden Fällen ebenfalls nicht möglich:


(59)Çorap al -dım.Strumpf/Socke kauf -1.SG.PRÄT‚Ich habe Strümpfe/Socken gekauft.‘


(60)Biz -e yumurta lazım.3.PL Ei brauch‚Wir brauchen Eier.‘

(vgl. Ersen-Rasch 2004: 25)

Dies kann mit der Eigenschaft der türkischen Singularform, dass sie „auch für den unbestimmten Plural gebraucht werden kann, der dann Kollektivbedeutung hat: elma (Äpfel), orman (Wälder)“ (Moser-Weithmann 2001: 27), erklärt werden.

3.2 Das Genussystem des Türkischen

Im Türkischen existiert keine Merkmalklasse Genus, das heißt, es gibt kein grammatisches Geschlecht und somit keine grammatische Geschlechtszuweisung (siehe Kissling 1960: 19, Underhill 1976: 32, Schaaik 1996: 13, Schroeder 1999: 270, Lewis 2000: 25, Moser-Weithmann 2001: 27, Ersen-Rasch 2004: 3, Korkmaz 2007: 254, Cakir 2010: 21f., Montanari 2010: 222). Lediglich eine kleine Gruppe von entlehnten Nomen markieren Genus bzw. „Sexus“ (Montanari 2010: 222). Oft handelt es sich dabei um Feminina, die auch als solche von der Ausgangssprache übernommen werden:


(61)şan (t) -öz‚Weibliche Sängerin, aus dem Französischen: chanteuse‘


(62)kral -içe‚Königin, aus dem Serbischen und Kroatischen: kraljica‘

(vgl. Schroeder 1999: 270)

Ansonsten werden Geschlechtsunterschiede im Türkischen durch eigene Lexeme bezeichnet oder dem Nomen werden die Bezeichnungen kadın (Frau) / kız (Mädchen) bzw. erkek (Mann) vorangestellt. Hierbei unterscheidet Korkmaz (2007) vier Gruppen:


Gruppe 1Gruppe 2Gruppe 3Gruppe 4
fem.kız kardeşSchwesterkızTochterdişi aslanLöwintavukHuhn
kadın doktorÄrztinkarıEhefraudişi kediKatzekoyunSchaf
mask.erkek kardeşBruderoğulSohnerkek aslanLöwehorozHahn
erkek doktorArztkocaEhemannerkek kediKaterkoçWidder

Tabelle 12: Geschlechtsunterscheidungen im Türkischen (nach Korkmaz 2007: 254f.)

In die erste Gruppe können alle Bezeichnungen für Menschen gezählt werden, denen entweder ein kadın für Frau, ein kız für Mädchen und ein erkek für Mann und Junge vorangestellt wird.

Die zweite Gruppe umfasst ebenfalls wie Gruppe 1 die Bezeichnungen für Menschen, genauer gesagt für die Verwandtschaftsverhältnisse.

Die Differenzierung des Geschlechtes erfolgt in Gruppe 3 und 4 ausschließlich für Tiere. In Gruppe 3 wird auf die Methode von Gruppe 1 zurückgegriffen und erkek für männlich und dişi für weiblich vor eine Tierbezeichnung gestellt. Ein gesondertes Lexem wird in den Gruppen 2 und 4 verwendet (vgl. Korkmaz 2007: 254f., Lewis 2000: 25).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass im Türkischen kein grammatisches Genus existiert, wir jedoch einige Genusdifferenzierungen bezüglich des biologischen Geschlechtes vorfinden können, die allerdings in keinerlei Weise am Nomen oder an einem Artikel markiert werden, sondern immer „kombinativ“ (Montanari 2010: 222) erfolgen. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass das Türkische auch keine Artikel kennt: „Türkisch besitzt keinen bestimmten Artikel wie ‚der, die, das‘ und keinen unbestimmten Artikel wie ‚ein, eine, ein‘.“ (Ersen-Rasch 2004: 3).

Eine „quantifizierende“ (Lemke 2008: 119) Funktion besitzt nach Underhill (1976: 38ff.) lediglich der „quasi-indefinite Artikel bir, [der] gleichzeitig auch das Zahlwort eins [ist]“ (Lemke 2008: 119, siehe auch Moser-Weithmann 2001: 27):


(63)bir adam‚ein Mann‘


(64)bir kadın‚eine Frau‘


(65)bir kız‚ein Mädchen‘

3.3 Das Kasussystem des Türkischen

In der Merkmalklasse Kasus sind im Türkischen sechs Merkmale vorzufinden: Nominativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv, Lokativ und Ablativ (siehe Ersen-Rasch 2004: 42ff., Kissling 1960: 22)1. Wie bei der Beschreibung des deutschen Kasussystems sollen in diesem Kapitel die Kasusmarkierung und ihre Funktionen betrachtet werden und die Frage im Hinblick auf existierende Gesetzesmöglichkeiten im Vergleich zum Deutschen beantwortet werden.

Auch bei der Kasusmarkierung der oben genannten sechs Merkmale spielt die Vokalharmonie eine wichtige Rolle (vgl. Ersen-Rasch 2004: 10). Im Nominativ erhalten die Nomen keinerlei Markierungen (siehe Ketrez 2012: 27), so dass es insgesamt fünf „case suffixes“ (Göksel/Kerslake 2005: 70) gibt. Folgende Markierungen existieren im türkischen Kasussystem:


MarkierungBeispiele
+Vokalendung (VE)-Vokalendung (VE)+VE-VE
a/ıu/oe/iü/öa/ıu/oe/iü/ö
Nom.silgi kalem
Akk.-yı-yu-yi-yü-u-isilgi -yikalem -i
Gen.-nın-nun-nin-nün-ın-un-in-ünsilgi -ninkalem -in
Dat.-ya-ya-ye-ye-a-a-e-esilgi -yekalem -e
Lok.-da/-ta-de/-te-de/-te-da/-ta-da/-ta-de/-te-de/-tesilgi -dekalem -de
Abl.-dan/-tan-dan/-tan-den/-ten-den/-ten-dan/-tan-dan/-tan-den/-ten-den/-tensilgi -denkalem -den

Tabelle 13: Kasusmarkierung am Nomen im Türkischen

Endet das Nomen im Akkusativ, Genitiv oder Dativ auf einem Vokal, wird als Fugenelement im Akkusativ und Dativ zwischen der jeweiligen Endung und dem Nomen ein –y- und im Genitiv ein -n- eingefügt (vgl. Kissling 1960: 20). Die Zuweisung der Suffixe unterliegt, wie bereits erwähnt, den Regeln der Vokalharmonie. Diese Zuweisungsregeln, dargestellt in obiger Tabelle, gelten nahezu ausnahmslos. Es existieren nur wenige Fälle, in denen oft aufgrund phonologischer Gegebenheiten, zugunsten der Ausspracheerleichterung, einige Veränderungen vorgenommen werden, wie z.B. das Wegfallen von Vokalen im Nomen bei „vokalisch anlautenden Suffixen“ (Kissling 1960: 23):


(66)burunburnaburnun
‚Nase-NOM.SGNase-DAT.SGNase-GEN.SG‘

Eine Übersicht aller Ausnahmen ist in Kissling (1960: 22ff.) und Ersen-Rasch (2004: 10ff.) zu finden. In Anlehnung an die Vorgehensweise bei der Beschreibung des deutschen Kasussystems soll im Folgenden ebenfalls nur auf die Merkmale Nominativ, Akkusativ und Dativ eingegangen werden, da der Genitiv beim kindlichen Spracherwerb nur sehr selten Betrachtungsgegenstand ist.

Welche Funktionen erfüllen diese Merkmale des Kasussystems in der türkischen Sprache? Bei der Beantwortung dieser Frage sind deutlich mehr Gemeinsamkeiten des türkischen und deutschen Kasussystems festzustellen als im Numerus oder Genus. Denn auch im Türkischen erfüllen die Kasussuffixe die Funktion, des „most productive way to express syntactic functions of noun phrases“ (Kornfilt 2000: 212, zum Deutschen siehe Wegener 1995b: 120ff.). Die Tabelle 11 zu den semantischen Rollen in der deutschen Kasusmarkierung gilt auch für das Türkische (vgl. hierzu Kornfilt 2000: 212).

Es ist festzuhalten, dass die Kasusmarkierungen im Türkischen „salient und transparent“ (Lemke 2008: 119) sind und das türkische Kasussystem „fast ohne homonyme Formen auskommt“ (ebd.), sowie auch ihre Zuweisung klare Regeln aufweist. Da im Türkischen keine Artikel existieren und das attributive Adjektiv3 im Türkischen nicht flektiert wird, es also keine Markierung dieser Kategorien gibt, können deren Markierungen auch nicht wie im Deutschen dargestellt werden.

3.4 Zusammenfassung

In den letzten Kapiteln wurden die Ausprägungen der Merkmalklassen Numerus, Genus und Kasus im Türkischen beschrieben. Dabei lag der Fokus, wie bei der Beschreibung der Ausprägungen dieser Kategorien im Deutschen, auf der Markierung, auf den Funktionen, die diese Markierungen übernehmen und auf den dabei beobachtbaren Gesetzmäßigkeiten. Diese Aspekte wurden, soweit dies möglich war, mit Bezug zum Deutschen erörtert und beschrieben. Der Vergleich des deutschen Numerus-, Genus- und Kasussystems mit dem türkischen System zeigt, dass große Unterschiede auf nahezu allen Ebenen existieren.

Auch wenn das Türkische wie das Deutsche die zwei Numeri Singular und Plural aufweist, unterscheidet sich das Numerussystems des Türkischen erheblich von dem deutschen Numerussystem, insbesondere im Hinblick auf die Pluralmarkierung, aber auch hinsichtlich der semantischen Konzepte, die im Bereich der Pluralbildung existieren und angewendet werden. Während im Deutschen die Pluralmarkierung in neun verschiedenen Variationen erfolgen kann, gibt es im Türkischen nur das Pluralsuffix -ler/ -lar, das je nach vorangehendem Vokal an das Nomen angepasst und suffigiert wird. Die Markierung ist zudem in vielen Kontexten nicht unbedingt obligatorisch. Die semantischen Konzepte, die eine Markierung bedingen, unterscheiden sich oft maßgebend von dem Markierungsverhalten deutscher Nomen.

In Kontexten, in denen eine Markierung am Nomen im Deutschen obligatorisch ist, wird im Türkischen keine Markierung vorgenommen, wie zum Beispiel wenn ein Zahlwort vor dem Nomen steht:


(67)Burada üç koyun-Ø var.DEM-LOK drei Schaf-Ø geb‚Hier gibt es drei Schaf-e.‘

Andererseits sind auch Fälle zu beobachten, in denen Nomen in den Plural gesetzt werden, deren Pluralbildung im Deutschen nicht möglich ist, da sie nicht zählbar sind:


(68)Berlin de hava-lar nasıl?Berlin-LOK Wetter-PL wie‚Wie ist das Wetter in Berlin?‘

(vgl. Ersen-Rasch 2004: 26)

Dies ist mit den unterschiedlichen Funktionsübernahmemöglichkeiten des Numerus, den vorhandenen unterschiedlichen semantischen Konzepten in den beiden Sprachen zu erklären.

Ein Vergleich konnte bezüglich des Genussystems der beiden Sprachen nicht erfolgen, da die türkische Sprache kein Genus hat. Im Türkischen sind lediglich einige Differenzierungen bezüglich des biologischen Geschlechtes vorzufinden, die kurz in Kapitel 3.2 skizziert wurden.

Im Kasussystem des Türkischen hingegen sind Gemeinsamkeiten mit dem deutschen Kasussystem, insbesondere im Hinblick auf die Funktionen der Kasus, festzustellen. Im Türkischen gibt es nicht vier sondern sechs bzw. sieben Kasus. Neben Nominativ, Akkusativ, Dativ und Genitiv existieren die Merkmale Lokativ und Ablativ und nach Ansicht einiger Grammatiker noch das Merkmal Instrumental.

Die Kasusmarkierungen im Türkischen richten sich nach den Gesetzmäßigkeiten der Vokalharmonie und gelten nahezu ausnahmslos. Ausnahmen sind bei der Flexion von Fremd- und Lehnwörtern zu finden.

Da im Türkischen keine Artikel existieren und das in der vorliegenden Arbeit betrachtete attributive Adjektiv nicht flektiert wird, erfolgte nur eine Betrachtung der Markierung am Nomen.

Teil II Zum Spracherwerb

„Was ist das?

– Ein Schaf.

Und hier sind ganz viele …?

– Ganz viele Schäfe.“

(Gesprächsausschnitt aus Experiment 6 mit einem 7-jährigen DaZ-Kind)

Woher weiß das Kind, dass es etwas an Schaf ändern muss, wenn mehrere Exemplare hiervon vorliegen? Warum markiert das Kind manche Wörter, wenn es Pluralität erkennt, und lässt bei anderen Wörtern jegliche Markierung weg? Welche Prozesse laufen im mentalen Lexikon ab? Welche Faktoren können diese Prozesse wie beeinflussen? Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich die Spracherwerbsforschung. Sowohl Neurowissenschaftler als auch Pädagogen und Linguisten bemühen sich um geeignete Methoden, um mit Hilfe von Studien, die die produzierte Sprache und den Vorgang der Produktion untersuchen, den Antworten dieser Fragen näher zu kommen.

In diesem Teil werden zunächst wichtige Begriffe geklärt und die Rolle des Alters beim Zweitspracherwerb thematisiert. Zudem erfolgt eine Skizzierung der Strömungen, die in der Linguistik zur Erklärung von Spracherwerbsprozessen formuliert worden sind, um überprüfen zu können, welche Annahmen und Modelle sich nach einer Analyse für eine Beschreibung eignen bzw. als nicht geeignet anzusehen sind.

Im fünften Kapitel werden die wichtigsten Ergebnisse zum Erst- und Zweitspracherwerb der deutschen Nominalflexion zusammenfassend dargestellt, die im Rahmen von Studien zum Numerus-, Genus- und Kasuserwerb formuliert wurden. Anschließend werden die daraus zu folgernden Fragestellungen und Hypothesen formuliert, die im empirischen Teil der Arbeit untersucht werden.

4 Der Zweitspracherwerb
4.1 Zur Begriffsklärung

Die Sprache, mit der Kinder von Anfang an aufwachsen, die oft als „Muttersprache“ bezeichnete Sprache, ist die Erstsprache (siehe dazu Meisel 2011: 1ff. und Ahrenholz 2010a: 3f.). Erwirbt das Kind von Anfang an zwei Sprachen, beispielsweise wenn Mutter und Vater sich in verschiedenen Sprachen mit dem Kind unterhalten, handelt es sich um simultan bilingualem Erstspracherwerb (siehe hierzu Genesee/Paradis/Crago 2011: 59ff.). Das Wort „Bilingualität“ wird jedoch oft unterschiedlich verwendet:

„Bilingualität (bzw. Multilingualität) kann mit Zweisprachigkeit (bzw. Mehrsprachigkeit) übersetzt werden. Einerseits wird Bilingualität als Überbegriff für alle Formen von Mehrsprachigkeit verwendet. Andererseits hat sich in der neueren Literatur durchgesetzt, von bilingualem Spracherwerb nur dann zu sprechen, wenn ein Kind zwei (oder mehr) Sprachen simultan erwirbt.“ (Rothweiler 2007: 106)1

Wird die zweite Sprache erst dann erworben, „wenn die Muttersprache bereits ganz oder teilweise gemeistert ist“ (Felix 1982: 10), wird diese Form des Erwerbs als „sukzessiver“ (Meisel 2007: 99) Zweitspracherwerb bezeichnet.

Auch diesen Begriff gilt es weiter zu differenzieren. Zu unterscheiden ist vor allem zwischen dem frühen bzw. kindlichen Zweitspracherwerb und dem Erwerb einer Zweitsprache im Erwachsenenalter (vgl. Rothweiler 2007: 106, Müller et al. 2011: 15). Die Begriffe früher und kindlicher Zweitspracherwerb werden in der Literatur oft synonym zueinander verwendet und man fasst darunter meistens den Zweitspracherwerb, der mit drei bis vier Jahren beginnt (vgl. Rothweiler 2007: 127). Nach Meisel (2009), Rothweiler (2009) und Grimm/Schulz (2012) liegt ein früher Zweitspracherwerb vor, wenn dieser zwischen dem zweiten und dem vierten Lebensjahr beginnt und ein später kindlicher Spracherwerb, wenn der Erwerb nach dem vierten Lebensjahr anfängt. Hierbei handelt es sich immer um ungesteuerten Zweitspracherwerb (Klein 1987: 28). Unter gesteuertem Erwerb einer zweiten und jeder weiteren Sprache fassen wir das Fremdsprachenlernen, das gesondert betrachtet und untersucht werden muss (vgl. Rothweiler 2007: 106).

In der vorliegenden Arbeit wird unter kindlichem Zweitspracherwerb der Spracherwerb einer zweiten Sprache durch Kinder im Alter von drei bis zehn Jahren gefasst, die mit drei bis vier Jahren mit dem Zweitspracherwerb beginnen. Der Schwerpunkt der Ausführungen in den nächsten Kapiteln wird auf diesem Bereich der Spracherwerbsforschung liegen.

4.2 Die Rolle des Alters

Bei der Frage nach der Rolle des Alters beim Erwerb der Zweitsprache handelt es sich um eine zentrale Fragestellung der kindlichen Zweitspracherwerbsforschung. Wann ist die Erstsprache bereits ganz oder teilweise erworben, so dass es sich beim Erwerb der zweiten Sprache um eine Zweitsprache handelt und wann gilt die zweite Sprache noch als weitere Erstsprache, die erworben wird?

„Die Frage, wie alt ein Kind sein muß, bevor es sich seine Umwelt für den Spracherwerb nutzbar machen kann, entspricht der Frage, wie jung ein Individuum sein muß, bevor es zu spät ist, Sprechen und Sprache zu erwerben. Vieles spricht dafür, daß der primäre Erwerb der Sprache von einem bestimmten Entwicklungsstadium abhängt, dem ein Individuum mit der Pubertät schnell entwächst.“ (Lenneberg 1977: 177)

Dieses Zitat von Lenneberg, einem der ersten Vertreter der „Critical Period Hypothesis“ (Birdsong 1999), beinhaltet zwei zentrale Aussagen, die wichtige Anhaltspunkte für die Beantwortung der oben formulierten Frage liefern: Erstens verdeutlicht Lenneberg, dass es einen Zeitpunkt gibt, an dem es „zu spät“ für einen Spracherwerb sein kann, bei dem die Zielsprache „mit Hilfe der ursprünglichen Erwerbsmechanismen wie eine Erstsprache erworben werden [kann]“ (Rothweiler 2007: 125). Die Frage nach diesem Zeitpunkt sei genauso wichtig wie die Frage nach dem Beginn des Spracherwerbs. Zweitens konkretisiert er auch den Zeitpunkt, ab wann er nicht mehr ganz so erfolgreich verläuft, nämlich mit dem Eintreten der Pubertät.

Diese Annahmen sind jedoch nicht unumstritten. Einer der Hauptkritiker in der Diskussion ist Bialystok (1997). In ihrer Studie erreichen die untersuchten Jugendlichen, die die Pubertät hinter sich hatten, bessere Ergebnisse als die Kinder. Aus dieser Beobachtung heraus zweifelt sie an der Aufrechterhaltung der Critical Period Hypothesis, die besagt, dass der „Spracherwerb, der in der frühen Kindheit beginnt, signifikant besser endet“ (Turgay 2010: 10) als der Erwerb nach der Pubertät. Diese Diskussion zeigt, wie komplex das Phänomen Spracherwerb ist und wie viele Faktoren hierbei mitwirken. Die von Bialystok untersuchten Jugendlichen mögen ein besseres Ergebnis bei den Aufgaben ihrer Studie erreicht haben. Doch welche Sprachbereiche wurden dabei abgefragt? Wie wurden diese Ergebnisse erzielt? Welche Erhebungsmethoden wurden eingesetzt? Denn andere Studien (z.B. Bast 2003 und Dimroth 2007) erhalten andere Ergebnisse, die zeigen, dass jüngere Kinder bessere Fortschritte erzielen als Jugendliche. Eine Betrachtung der Studien im Hinblick auf die zuletzt gestellten Fragen zeigt, dass eine differenzierte Analyse unabdingbar für die Klärung der Frage nach der Rolle des Alters ist. Die unterschiedlichen Sprachbereiche verlangen unterschiedliche kognitive Voraussetzungen, so dass sie in unterschiedlichen Erwerbsphasen erworben und optimiert werden (vgl. Dimroth 2007: 134). Wie festgestellt werden kann, ist die Hypothese der kritischen Periode nicht einfach zu übertragen und wird unter anderem auch oft kontrovers diskutiert (weiteres zu der Diskussion siehe Birdsong 1999, Chriswick 2007, Singleton 1995, Johnson/Newport 1989, Krashen/Scarcella/Long 1982).

Meisel (2004) stellt das dritte bis vierte Lebensjahr als den entscheidenden Lebensabschnitt bei der Beantwortung der Frage, in welchem Alter die erstsprachlichen Strukturen „bereits ganz oder teilweise gemeistert werden“, dar. Rothweiler argumentiert auch dafür:

„Bis zum Alter von etwa drei bis vier Jahren erwerben einsprachige Kinder die zentralen grammatischen Strukturen ihrer Sprache. Wenn man davon ausgeht, dass gerade im Erwerb dieser Strukturen sprachspezifische Erwerbsmechanismen wirksam sind, dann sollte die kritische Phase nicht vor dem Abschluss des dritten Lebensjahres enden.“ (Rothweiler 2007: 126)

Demnach handelt es sich um kindlichen bzw. frühen Zweitspracherwerb, wenn der Erwerbsbeginn der Zweitsprache mit drei bis vier Jahren erfolgt. Tracy/Gawlitzek-Maiwalds (2000) Ergebnisse stehen hiermit auch in Übereinstimmung, denn sie gehen nur von einem doppelten Erstspracherwerb aus, wenn der Erwerb einer zweiten Sprache spätestens im ersten oder im zweiten Lebensjahr erfolgt.

Es kann festgehalten werden, dass diese Phase wohl nicht vor dem Ende des dritten Lebensjahres liegt. Rothweiler (2007) nimmt zudem an, dass sie nicht bis zur Pubertät dauert, wie Lenneberg und andere annehmen, sondern „spätestens mit dem Alter von 10 Jahren [endet]“ (Rothweiler 2007: 125).

Welche Rolle spielen die Unterschiede in den zu erwerbenden grammatischen Strukturen? Thoma/Tracy (2006) beobachten im frühen Zweitspracherwerb ähnliche Entwicklungsverläufe wie im Erstspracherwerb. Hierbei handelt es sich um Kinder, die im Alter von drei bis vier Jahren mit dem Erwerb der Zweitsprache beginnen (vgl. Thoma/Tracy 2006: 65). Entscheidend ist hierbei der untersuchte grammatische Bereich. Gegenstand der Untersuchung ist der Erwerbsverlauf für die Verbstellung im Deutschen. Inwieweit kann aber der Erwerb von diesen syntaktischen Strukturen mit dem Erwerb von morphologischen, semantischen, phonologischen und pragmatischen Strukturen verglichen werden? Denn:

„Betrachtet werden allerdings auch Unterschiede in der Art und Abfolge der Entwicklungsschritte zwischen Erstspracherwerb und frühem Zweitspracherwerb sowohl im Bereich der grammatischen Entwicklung (zum Beispiel im Bereich der Nominalflexion) sowie bei der Entwicklung des Wortschatzes.“ (Kniffka/Siebert-Ott 2009: 42)

Welche Unterschiede zwischen dem Erstspracherwerb und dem frühen Zweitspracherwerb sind in den verschiedenen Bereichen zu beobachten? Bezüglich der kritischen Phase konnte festgestellt werden, dass sie für phonologische Strukturen früher zu Ende zu sein scheint als beispielsweise für die Syntax (vgl. Rothweiler 2007: 127). Welche Ergebnisse für den Erstsprach- und den Zweitspracherwerb bislang für den Bereich der Nominalflexion vorzufinden sind, werden in Kapitel 5.2 aufgezeigt. Anschließend werden in Kapitel 5.3 die Annahmen der vorliegenden Arbeit vorgestellt.

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