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* * *

Aus was bist du gemacht, hä? Aus Wasser und Salz?

Luigi packte Nicola am Handgelenk und hob ihn hoch wie einen Sack Sägemehl, wie einen im Keller hängenden Schinken, schüttelte ihn nach allen Seiten, die Beine des Jungen strampelten kraftlos im Leeren, baumelten, als wären sie falsch angeklebt.

Zu was taugst du, darf man das erfahren? Jedes Mal, wenn ich heimkomme, bist du hier, jedes Mal, wenn ich fortgehe, bist du hier, jedes Mal, wenn ich esse, bist du hier, jedes Mal, wenn ich scheiße, bist du hier …

Luigi schleuderte Nicola in den hintersten Winkel der Küche, zwischen die Stühle, während Adelaide, die kranke Schwester, im Schlafzimmer hustete und Violante, die Hände im Schoß, an die Wand gelehnt dasaß und brummte, ein Gebet auf den Lippen und den Kopf vom Trauerschleier bedeckt.

Sie hatten Antonio vor einer Woche beerdigt: Man hatte versehentlich auf ihn geschossen, als er vom Jahrmarkt heimkam, die Sonne war schon untergegangen, und er wollte nur einen Apfel von einem Baum stehlen, der Bauer hatte ihn niedergestreckt, wie man es mit verrückten Pferden macht.

Ich schufte den ganzen Tag, und du fängst schon an zu flennen, sobald du die Mühe nur auf dich zukommen siehst.

Luigi versetzte ihm mit der Fußspitze einen Tritt in die Rippen. Nicola machte seinen Körper klein wie eine Nuss. Ohne etwas zu sagen, nahm er den Tritt mit zusammengebissenen Zähnen hin.

Wir haben dir geholfen, dadurch bist du so geworden. Nur Königskinder sind so unnütz wie du, wenn die Leute arbeiten müssen, haben sie keine Zeit zum Angsthaben, sie müssen was tun, sonst verhungern sie. Du bist krank im Kopf, wie solche, die immerzu schlafen und weinen.

Und nachdem er ihm mit dem Finger fest gegen die Schläfe gedrückt hatte, fast als ob er ihm den Schädel öffnen wollte, packte Luigi Nicola an den Beinen und schleifte ihn in die Mitte des Raums, denn er war eine kraftlose, träge Masse, man konnte ihn in den Fluss oder eine Schlucht werfen.

Steh jetzt auf, du verfluchter Junge. Wenn ich nicht gewesen wäre …

Der Bäcker packte ihn bei den blonden Haaren und zog ihn hoch wie eine Puppe, wie die alte Puppe von Nella, der verschwundenen Tochter, wie die Puppen, die Violante nähte, als sie noch sehen konnte, und mit denen sie ihm das Laufen beigebracht hatte.

Luigi war vor einer Stunde nach Haus gekommen, in der Nacht hatte eine Eule im Kamin des Backofens ihr Nest gebaut, der Laden hatte sich mit Rauch gefüllt, die Wohnung auch. Um ihn zu vertreiben, hatte der Mann die Brotschaufel, mit der er das Brot in den Ofen schob, zerbrochen, die Brotschaufel, die einst dem Onkel und dem Großvater gehört hatte. Violante hatte Zeter und Mordio geschrien, die Kunden waren davongelaufen, als sie die Schläge gegen die Kaminwände hörten, die wie Donner widerhallten, und der Bäcker hatte nach seinen Kindern gerufen, um sich von ihnen helfen zu lassen, aber keiner von ihnen hatte geantwortet.

Er hatte Antonio gerufen, aber Antonio war nicht gekommen.

Den einzigen tüchtigen Sohn, der ihm geblieben war, hatte man ihm umgebracht.

Wie eine Furie war er die Steintreppe zu seinem Haus hinaufgestürzt, er wusste, dass Lupo mit Cane auf den Feldern war, dieses vermaledeite Vieh, das von seinem Atem zu leben schien und ihn nie allein ließ, das Vieh, das Unglück brachte, ausgerechnet in seine Familie war es gekommen, wo es seit eh und je so viel Unheil gab, dass es für die gesamten Marken gereicht hätte.

Der Bäcker sah nur Nicola vor sich, der vor einem aufgeschlagenen Heft beim Fenster Schreiben übte und nicht einmal inmitten des pechschwarzen Qualms einen Finger gerührt hatte.

Raus hier jetzt, lauf nach Montecarotto und hol den Schmied, ich muss die Schaufel reparieren.

Luigi stieß Nicola zur Tür und dann die Treppe hinunter, das Kind rollte hinab und hielt sich an den Seiten fest, um sich nicht das Genick zu brechen.

Du musst rennen, schrie der Vater von oben, wenn du zu spät kommst, verbrenn ich all deinen Papierkram.

Nicola, dessen Körper schmerzte, dessen Kopf vor Panik benommen, dessen Mund trocken war, rannte los, angetrieben von der bloßen Angst.

Doch sein Fleisch war von Geburt an schwach, seine Gedanken waren feige herangewachsen, und jeder seiner Schritte war ein Sturz. Keiner wusste, warum, aber es lag nicht in Nicolas Natur, wie alle anderen in der Welt zu sein.

Dieser Lauf unterhalb des Klosters entlang, dann die Treppe zum Wald hinauf zur Straße nach Montecarotto erschöpfte ihn, raubte ihm alle Energie.

Zitternd und außer Atem lief er den Abhang an den Mauern hinunter.

Es war Mittag, die Stunde ohne Schatten und ohne sichere Verstecke.

Für die Leute auf den Feldern war dieser Moment heilig und durfte nicht entweiht werden, seit jeher zeigten sich da in der brütenden Hitze, die vom Getreide aufstieg, die Götter des Feldes, erhoben sich im Dunst der sengenden Sonne die Erntegeister, verwandelten sich Felsen in Elfen, Sträucher in Nymphen, und die Gebete um eine gute Ernte strömten in Scharen zu Tal.

Über der Erde, über Serra und Montecarotto, über dem Hügelauf und Hügelab stand im Zenit diese Sonne, die nach Nicola griff, kaum dass er das kleine Tal erreicht hatte.

Seine blasse Haut rötete sich, sein Schädel begann zu brummen, Bremsen, Bremsen, Bremsen, alles stach und tat weh, eine so kurze Strecke, die jeder andere ohne Weiteres zurücklegte wie einen kleinen Spaziergang, für Nicola war sie ein Kreuzweg.

Jede Nacht vor dem Einschlafen hoffte er, beim Aufwachen zu sein wie die anderen, verändert, geheilt durch irgendeinen Sternenzauber, hoffte, stundenlang im Licht ausharren zu können, reglos und erhaben wie eine Eiche, all die Wärme aufnehmen zu können, die von oben und unten kam, hoffte, kilometerweit laufen und fliehen zu können, ans Meer zu gelangen, Schiffe und Möwen zu sehen, die Menschen auf dem Sand und auf den Felsen.

Aber es gelang ihm nicht. Er konnte nicht arbeiten. Er taugte zu nichts.

Seine Schuhe schienen voller Kies, seine Kleider schwer, als ob er den Wintermantel anhätte, es würgte ihn in der Kehle wie an dem Tag, als man ihm gesagt hatte: Man hat deinen Bruder erschossen. Er hatte gemeint, es handle sich um Lupo, und hatte sich vor Qual in die Hose gemacht.

Die Stellen am Körper, auf die Luigi eingeschlagen hatte, begannen ihren Schmerz herauszuschreien, der weiße Weg hinauf nach Montecarotto war für ihn der Aufstieg auf den Gran Sasso, war dieses ganze unerreichbare Italien, das er nicht kannte, das er nie sehen würde, nur schreiben konnte: I T A L I E N, in Großbuchstaben, mit zu viel Abstand zwischen den Lettern.

Ich bin krank, mit mir stimmt etwas nicht.

Nicola machte noch ein paar Schritte, rang nach Luft, er spürte, wie er von der Sonne Fieber bekam, dann brach er zusammen.

Er dachte an das Wort Hundstagshitze, er hatte es Lupo erklärt, gleich nachdem er es gelernt hatte, so wie er es mit jedem Wort machte, das er las oder hörte.

Wenn die Sonne über das Sternbild des Hundssterns hinausgeht und man auf den Feldern Gott und der Hitze einen Hund zum Opfer bringt, damit die Felder nicht verdorren.

Was sind Sternbilder?, hatte Lupo da gefragt.

Die Bilder, die die Sterne nachts am Himmel zeichnen, hatte der Bruder geantwortet.

Und während seine Augen sich schlossen und er sich dem Gedanken überließ, nicht zu wissen, ob und wie er sich von dort je wieder erheben würde, sah er sie kommen. Drei schwarz gekleidete Männer mit schwarzen Schleifen um den Hals, die in der Mittagshitze auf ihn zukamen. Die drei Männer hoben ihn auf und legten ihn in den Schatten eines Olivenbaums.

Ob er sie nur geträumt hatte wegen der Mittagshitze, die einen Dinge sehen lässt, die nicht da sind, aber den Schlüssel zum Übergang ins Reich der Toten und der Ungeborenen besitzt, das sollte Nicola nie erfahren.

Als er viele Jahre später seinen Fuß jenseits des Ozeans an Land setzte, sollte er wieder an diesen Moment denken, an die Hundstagshitze und an damals, als er das Meer noch nicht kannte und meinte, alles sei unmöglich.

* * *

Mir ist heiß, sagt Lupo.

Ich hab gesagt, mir ist heiß, Ninì, wiederholt Lupo.

Ich bleibe hier, antwortet Nicola.

Geh in dein Bett, sagt Lupo.

Es ist weit weg, antwortet Nicola.

Es ist dort drüben, zwei Schritt entfernt, sagt Lupo.

Es ist weit weg, wiederholt Nicola.

Und wie soll ich so schlafen?, fragt Lupo.

Mach die Augen zu, antwortet Nicola.

Du klebst an mir dran, sagt Lupo.

Mach die Augen zu, wiederholt Nicola.

Da schließt Lupo die Augen.

* * *

Es war das Jahr 1897: Lupo wurde an der Schwelle zum neuen Jahrhundert geboren, in jenem Jahr, in dem Errico Malatesta in Ancona von der Polizei gejagt wurde, während er für L’Agitazione schrieb, jenem Jahr, in dem die Bauern in Latium das Land besetzten und die Reisarbeiterinnen rebellierten, um einen höheren Lohn zu bekommen, und in Rom sogar die Kaufleute gegen die Regierung auf die Straße gingen, aber das konnte Lupo nicht wissen und sollte es lange Zeit auch nicht wissen. Ihm, der wie alle anderen zum Arbeiten geboren war, war es nicht gegeben, zu erkennen, wie die große Geschichte sich bewegte, wie die Völker und Menschen herumgewirbelt wurden, wie die Ideale in sich zusammenfielen und wohin die Hoffnungen sich verzupften, er sollte seine Augen auf sein eigenes Unheil gerichtet halten und die Macht der Entscheidungen anderen überlassen.

Als er auf die Welt kam, war Lupo ein weiteres weinendes, nacktes und schmutziges Kind, und als Stalin in Ancona in einem Hotel arbeitete, war Lupo zehn Jahre alt und sah mit seinen schwarzen Augen den Vater an, dem er alle erdenklichen Schmerzen wünschte.

Lupo wäre gern in die Schule gegangen, auch wenn er die Priester und ihre Regeln hasste, auch die wohlmeinenden und sanften, und er antwortete mit üblen Streichen.

Das hatte er gleich von Anfang an gelernt, ein Gesetz, das er immer im Herzen tragen würde: Auf das, was du nicht als richtig empfindest, auf das, was die anderen dir antun, sollst du nicht mit Worten reagieren, daher hatte es Lupo allen immer mit Taten heimgezahlt, Luigi eingeschlossen.

Deshalb warf Lupo mit zehn alles, was er im Haus fand, auf den Boden, während Luigi ihm nachlief und versuchte ihn einzufangen, aber das Kind glitt ihm aus den Fingern wie Seide, und Cane knurrte.

Luigi bewegte sich in einer Hölle aus zerbrochenen Tellern, abgerissenen Gardinen, umgeworfenen Betten – unter den brunnentiefen Augen des Jungen, der den Teufel im Leib zu haben schien, der biss, spuckte und die Zähne fletschte, scheinbar alles verschlingen konnte, vom Obst bis zu Rinderhälften.

Fass bloß Nicola nicht an, schrie Lupo. Die Bücher bezahle ich, die gehören dir nicht.

Denn das war die Abmachung zwischen ihnen: Nicola würde die Schule bis zur fünften Klasse besuchen können, wenn Lupo es bezahlte, und so hatte er das Nötige beiseitegelegt, Soldo für Soldo, hatte sich jeden Gedanken an die kleinste Vergnügung versagt, um das Geld dem Bruder zu geben.

Als Nicola ihm zum ersten Mal ein auf ein Blatt geschriebenes A zeigte, hatte er begriffen, dass jede Sache, die sie lernten, für Luigi ein Schlag ins Gesicht war, dass jedes Wort, das Lupo dazulernte, ein Hieb gegen seine Knie war, dass jeder geschriebene Satz ihm neue Sätze und immer weitere Sätze erschloss und dass ihr Dorf und ihre Felder, ihr Dialekt demgegenüber zu einem Taubenschiss wurden.

Nicola musste für alle beide lernen und jede Nacht zu ihm kommen und ihm sagen, was er gelernt hatte, es mit ihm üben, ihn wiederholen lassen und ihm erklären, zwar würden die Hände und die Tatsachen für Lupo immer mehr zählen, aber um richtig handeln zu können, musste man die Dinge richtig verstehen.

Seit Lupo auf der Welt war, hatte Luigi ihn nicht bremsen können, er überrumpelte und beherrschte ihn wie der schlimmste Schrecken; seit er laufen konnte, war ihm nicht beizukommen, er verbrachte ganze Tage im Wald, er gehörte einem Menschenschlag an, dem der Bäcker nichts entgegenzusetzen hatte. Ohnmächtig wie gegenüber einer Naturkatastrophe sah Luigi zu, wie er das Haus verwüstete.

Während Lupo eine Wanne umwarf und schrie, dass ihre Kinder eins nach dem anderen sterben und nur er und Nicola ihnen bleiben würden, dazu bestimmt, wie eine einzige Person zu überleben, betete Violante, dass das nächste Erdbeben sie alle miteinander verschlingen möge, mitsamt ihrem Haus und dem Ort, um dieses Leben, das sie nicht zu führen verstanden, auszulöschen.

Von den Prophezeiungen des Jungen an der Gurgel gepackt, warf Luigi sich unters Bett und holte das Gewehr hervor.

Unterdessen lag Adelaide da und hustete, ihre schmale Mädchenbrust hob sich in unregelmäßigem Rhythmus, jeder Atemzug war das Geräusch der Krankheit. Wenn sie Luft bekam, rief sie nach Antonio, aber Antonio war nicht mehr da.

Der Bäcker sagte: Jetzt erschieß ich dich, und richtete das Gewehr auf den Jungen.

Der antwortete ihm: Dazu hast du nicht den Mut.

Luigi, der wie alle jemanden gewollt hätte, dem er seinen Beruf beibringen, sein Geschäft übergeben konnte, das er nicht mehr ertrug, jemanden, dem er seine Zukunft anvertrauen konnte, während diese wie Moos in der Sonne verschrumpelte, dachte an die grünen Augen Antonios und ließ wütend das Gewehr sinken.

Der Junge hatte recht, er hatte nicht den Mut.

Geschlagen blickte er auf seine Hände und schüttelte den Kopf, während Cane ihn aus seinen gelben Hyänenaugen ansah, bereit, ihn in die Kehle zu beißen, dort, wo die Halsschlagader das Blut in den Kopf leitet.

Ich gehe mit der Brigade von Gaspare nach Senigallia, sagte Lupo und betrachtete ihn dabei vom hinteren Ende dieses Horts ihrer Streitereien und Bosheiten aus. Und verließ das Haus.

Auf dem Land war es üblich, dass sich einige Kinder, gewöhnlich nur wenige, Brigaden anschlossen, das waren Gruppen, bestehend nur aus Männern, die mit Wein, Käse und ein paar Instrumenten in die Küstenstädte zogen und dort den Sonntag verbrachten.

Gaspare Garelli war erwachsen, er war siebzehn, aber Lupo hielt sich immer an die, die größer waren als er, und die verschmähten seine Gesellschaft nicht: In der Tat war er aufgeweckt, ein guter Arbeiter, zu jedem Spaß aufgelegt, aber auch schlagfertig, wenn er angegangen wurde, und er stand ihnen in nichts nach, wenn es galt, irgendwelchen Unsinn zu machen.

Bevor er ging, verabschiedete sich Lupo von Nicola, der mit seinem vom Gebrauch völlig zerfledderten Heft auf den Treppenstufen saß.

Er wird dich nicht mehr schlagen, keine Angst, sagte er und strich ihm über den Kopf. Ich treffe Gaspare und komme heute Abend zurück, setzte er hinzu.

Kann ich in deinem Bett schlafen?, fragte Nicola und hob das schmale Gesicht vom Heft.

Schlaf, wo du willst.

Lupo sah ihn an, dann setzte er den Hut auf und lief in Richtung der Straße zum Friedhof. Cane kam die Treppe herunter und folgte ihm.

Noch angeschlagen setzte Nicola sich mühsam auf den Stufen zurecht und fing wieder an zu lesen.

Singend und ein paar Tanzschritte vollführend verließ die Brigade der Männer das Dorf, alles Nötige zum Bocciaspielen unter dem Arm. Lupo ging neben Gaspare.

Was hat Ernesto?, fragte er ihn und zeigte auf den Mann, der ihnen finster in einem gewissen Abstand folgte, sogar Cane, gewöhnlich der Letzte in der Reihe, lief ihm voraus. Lupo wollte nicht wissen, was er an diesem Tag hatte, sondern was ihn im Allgemeinen bedrückte, denn jedes Mal, wenn er ihn vor sich gehabt hatte, war er noch verschlossener und stiller, noch schlechter gelaunt und hoffnungsloser gewesen.

Er hat sich nicht mehr erholt, seit Amisia ihn abgewiesen hat, scheinbar sollten sie sich verloben, aber Ernesto hat sich letztes Jahr beim Karneval unmöglich aufgeführt, er kam in einem alten Anzug, zerschlissen und nur notdürftig hergerichtet mit Ruß und Wasser, Amisia kam ganz in Weiß, und beim Tanzen hat er sie schmutzig gemacht, er hat das gute Kleid ruiniert, das sie eben gekauft hatte, ganz Serra hat sich über die beiden lustig gemacht, erklärte Gaspare amüsiert.

Und wenn ich ihr ein neues Kleid kaufe?, fragte Lupo und sah sich nach Ernesto um, der langsam und mühevoll voranschritt wie an einem steil ansteigenden Berghang.

Und woher nimmst du das Geld, hm? Jetzt gibt es nicht so viel Arbeit, bis September ist nichts in Sicht. Wir sind keine Leute, die sich zu jedem Festtag neue Kleider leisten können, geschweige denn für andere, sagte Gaspare.

Wer kann sie sich denn leisten?, fragte Lupo herausfordernd.

Die, die alles haben, diejenigen, die die Felder besitzen, die die Häuser besitzen, erklärte Gaspare.

Wer ist das?, drang Lupo weiter in ihn.

Die Padroni. Das Feld meines Vaters ist schließlich nicht seins, du weißt doch, wie das funktioniert, oder nicht?

Vielleicht, antwortete Lupo und sah sich nach dem Hut von Ernesto um, der mit jeder Bewegung seines leeren Kopfes hin und her schwankte.

Hier hat früher alles den Pfaffen gehört, bevor Italien kam, doch jetzt gehört es den Freunden der Pfaffen, jetzt ist da nur der König, der dir den Kopf abschneiden lässt, sobald du ihn erhebst. Das sind Leute, die sich, wenn sie wollen, auch deine Seele kaufen und sie weiterverkaufen, weil es nämlich eine reine Seele ist.

Lächelnd berührte Gaspare ihn an der Schulter.

Und wie bringt man den König um?, fragte Lupo und blieb mitten auf der staubigen Straße stehen.

Wie meinst du das? Gaspare sah ihn verwundert und verständnislos an, mit der Vermutung, dass er Fragen stellte, die er sich längst selbst beantworten konnte.

Wie wird man ihn deiner Meinung nach los?

Das endet dann wie beim Papst, wenn der eine geht, kommt ein anderer und dann noch ein anderer. Die gehen nie weg, sie wechseln nur das Aussehen. Es gibt keinen Ausweg.

Das ist nicht wahr! Sie haben schon einen König getötet, Umberto I. Das hat mir neulich Tomassini erzählt, in der Schänke, er hat gesagt, vor sieben Jahren hat ihn einer erschossen, der hieß Gaetano. Irgendwer kann das mit jedem König machen, der daherkommt, erklärte Lupo überzeugt.

Gaspare schwieg, mit ein paar Trompetenstößen zog die Brigade dahin. Petri kletterte auf einen Baum, um eine Handvoll Kirschen zu holen, die er verschenkte, auch wenn es in Wahrheit nicht seine waren. Jemand erzählte vom Ruzzola, das sie beim letzten Ausflug gespielt hatten, als Paoletto mit seiner hölzernen Ruzzola-Scheibe beinah die Statue der Vorsehung getroffen hätte. Die anderen lachten.

In Moll, für meinen Gebrauch

Zaris Haar war mit Perlen übersät und ihre Kleider papageienbunt, sie lief in der zeriba herum, dem großen Garten hinter ihrem Haus, dem einzigen Steinhaus im Dorf, denn sie waren die Kinder des Dorfoberhaupts, und das Dorfoberhaupt konnte nicht auf Lehm und Stroh schlafen.

Während sie schrie wie ein dem Käfig entkommenes Vögelchen, kniff sie ihren Bruder in den Schenkel und warf ihn dann zu Boden, lachend hüpfte sie zwischen den noch unreifen Kürbissen herum. Das war ihr Lieblingsspiel: in den Garten laufen und sich hinter dem dicken Bauch ihrer Kuh mit den sehr langen Hörnern verstecken.

Ihr Bruder sagte, sie sei grausam, gemein, sie habe keine Liebe im Leib, aber er war zu klein, um die Worte zu verstehen, die er benutzte.

Zari hatte Hufgetrappel gehört und zu den Nuba-Bergen hinaufgeschaut, für immer würde sie sie so in Erinnerung behalten, kurz vor der Regenzeit, mit ihren Inseln von einem so grellen Grün, dass es in den Augen schmerzte, mit den kleinen, wasserlosen Lichtungen, mit den schmalen, holprigen Pfaden, die nicht einmal für das Vieh gut waren.

Das Hufgetrappel war nun näher, und es kam von unten, aus dem Teil der Welt, von dem sie nichts wissen wollten. Zari hatte ihrem Bruder zugerufen, er solle ihre Dienerin holen, doch die war nicht da, auch ihre Mutter war nicht da, sie hatte im Vorübergehen nur die kleine Flamme im Fenster hinterlassen.

Jeden Abend vor dem Einschlafen sagte die Mutter zu Zari, dass diese kleine Flamme sie beschützen würde, sie sei der Seele geweiht, die in allen Dingen lag, in all ihren Schritten, in jedem Ast und in jedem Rinnsal Wasser würden die Götter sie wiegen, sie dicht am Herzen tragen, fern von Schmerz.

Zari war acht Jahre alt, als sie die Männer mit den verhüllten Gesichtern von ihren Pferden steigen und auf sich zukommen sah, sie hatte zu der Flamme hinübergeblickt und gehofft, dass das Feuer sie mit sich forttragen möge, aber die Flamme war klein und still geblieben, sie glomm auf ihrem Votivaltar und sah den Männern zu, die Zaris Bruder auf ein Pferd hievten und dann auch sie, sie wurde an den Hüften gepackt und hochgehoben, federleicht war sie, ohne Gewicht und Willen.

Die Männer sprachen Arabisch mit ihren Pferden, spornten sie an, Zari hatte gedacht, ihr Vater werde kommen, niemand konnte Akil, dem Herrn der Nuba-Berge, die Kinder wegnehmen, er besaß wunderschöne Zuckerrohr- und Hirsefelder, auf die er seine Kinder führte, um ihnen zu sagen, dass dies hier eines Tages ihre Verantwortung, ihre Aufgabe sein werde.

Die Unbekannten waren bis zum unzugänglichsten Ort der Welt vorgedrungen, von dem alle meinten, hier für immer in Sicherheit zu sein, zwischen miteinander verwachsenen Bäumen auf trockenen Höhen, verehrt nur von den Nuba, unwirtlich für jeden anderen, in jenem Teil des Sudan, den sie unter den Schichten einer glanzvollen und vergangenen Zeit verschüttet glaubten.

Die Leute im Dorf hatten die Pferde wie eben abgeschossene Pfeile vorübergaloppieren sehen, die reglosen Körper der Kinder auf ihren Rücken, und sie waren hinterhergerannt, hatten verzweifelt schreiend Himmel und Erde angerufen.

Doch so flink die Nuba auch waren, so gut sie ihre Straßen und Stege auch kannten, so wenig hatten die Männer aus dem Dorf die Araber doch einholen können, einer von ihnen hatte einen bestimmten Weg eingeschlagen, der andere einen anderen, und Zari hatte nicht einmal bemerkt, dass sie ihren Bruder verloren hatte.

Am Abend war das Mädchen mit anderen geraubten Kindern in ein Zelt geworfen worden, dann waren sie am Weißen Nil entlang in Richtung libysche Wüste gezogen, man hatte ihr eine schwere schmutzige Kette ums Fußgelenk gelegt, ihr die Zöpfe mit einer Schere abgeschnitten, die einer der Araber immer in der Tasche trug, und ihre Kleider verbrannt in dem Feuer, das sich lodernd im Lager der Sklavenhändler erhob.

Die Nacht hindurch hatten sie geschrien, keiner von ihnen wollte sich ergeben, und mit Singstimme riefen sie um Hilfe, nur wenige von ihnen sprachen, fragten wer bist du, woher kommst du. Sie verstanden diese Leute nicht, diese Leute verstanden sie nicht, nur mit Schwierigkeiten verstanden die Sklaven sich untereinander, jeder kam aus einer anderen Gegend. Sie teilten nur das Staunen und die Angst.

In der Morgendämmerung einer Nacht, in der keiner von ihnen geschlafen hatte, wurde Zari in die ganga, das Joch, gespannt, zusammen mit einem größeren Sklaven, und auch wenn sie nicht wusste, dass sie eine Gefangene war, nicht wusste, wohin sie gehen würde und warum, ging sie los und folgte ihrer Reihe aus Gefangenen. Ihr und den anderen war jedoch klar, dass, wer versuchte zu fliehen, verprügelt oder mit einem Messerstich getötet werden würde.

Eines Abends, in einem nach Sonnenuntergang aufgeschlagenen Lager, hatte Zari die Tamarindenbäume betrachtet und gedacht, dass diese Männer ihr Schlimmeres antun würden als das, was ein Dolch ihr antun konnte, und da hatte sie, als sie abgelenkt waren, versucht zu fliehen, war unter einen dieser Bäume gekrochen, aber sie war müde und wusste nicht wohin, da war sie eingeschlafen.

Das Brüllen eines großen Löwen, der, ohne sie zu sehen, an dem Baum vorbeigegangen war, hatte sie geweckt, und die Hände der Araber hatten nach ihr gegriffen, sie hatten sie hochgerissen und gestoßen, hatten sie mit einem abgebrochenen Ast geschlagen.

Vierundzwanzig Stunden später war Zari in einem Boot auf dem Nil gefahren, eingeschlossen in eine Kiste wie Obst oder Lämmer, und sie wurde auf den Markt gebracht, um verkauft zu werden. Sie wusste nicht, wo sie sich befand, aber sie war in Kairo, dreitausend Kilometer von ihrem Zuhause entfernt.

Ein Türke hatte sie hin und her gewendet wie einen kostbaren Stoff, hatte ihre Arme hochgehoben, hatte die Achselhöhlen überprüft und die Festigkeit der Schenkel, sie hätte ihn zwicken und anbrüllen wollen: Lass mich los, ich bin das böse, das grausame Mädchen, vor dem jeder von euch Angst haben sollte.

Ein anderer Mann war gekommen, hatte ihr zwischen die Beine gefasst, beinahe so, als taste er eine Tomate ab, er hatte sie gekniffen, um das Fleisch zu spüren, um zu sehen, ob sie saftig war, ob sie zu viel Samen enthielt, ob sie für sein Ragout geeignet war.

Zari war eine der wenigen, die nicht weinte und nicht schrie, sie war sicher, noch im zeriba zu sein und zu spielen, ihr Bruder würde plötzlich zwischen den Hühnern hervorspringen und rufen: Hier, hier, ich habe drei Eier gefunden.

Einer nach dem anderen hatten die Männer sie gewogen und ihr den Mund geöffnet, hatten ihre Zähne besehen, mit der Fingerspitze die Eckzähne befühlt, sie wollten kein Mädchen, das beißt, aber wenn sie ihre Brustwarzen zwischen zwei Finger nahmen, wussten sie nicht, dass sie eine Braut Christi berührten.

Inmitten der Hitze des ägyptischen Marktes begriffen sie nicht, dass sie den Preis der Heiligkeit nicht zahlen konnten, so viele Münzen sie auch aus ihren Börsen zogen, sie würden nicht ausreichen für diejenige, die die Selige, die Verehrte, La Moretta, die Mohrin, die Äbtissin von Serra de’ Conti werden sollte.

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9783803142832
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