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Die erste Phase des gescheiterten Dschihad: die 1990er-Jahre

Vor allem die Entstehung von drei Fronten, ganz ähnlich jener, die kurz zuvor in Afghanistan mit einem vorbildhaften Erfolg geendet war, kennzeichnete die 1990er-Jahre: die Kämpfe in Ägypten, Algerien und Bosnien (die beiden letzteren berührten Europa unmittelbar und wiesen auf die Attentatswellen voraus, die den alten Kontinent noch überschatten sollten). Nach drei- bis fünfjährigen Auseinandersetzungen gelang in keinem der Länder eine Machtübernahme, doch bin Laden und Zawahiri zogen aus diesen Niederlagen Lehren, um eine zweite Phase vorzubereiten, die ihren Höhepunkt am 11. September 2001 mit dem »gesegneten zweifachen Angriff« in New York und Washington erreichte.

Das Jahrzehnt begann mit einem internen Konflikt um die Einnahmen aus dem Ölverkauf in den sunnitischen Förderländern. Als sich Dschihadisten dabei gegen das Regime in Riad wandten, verursachte dies einen Riss im Prozess der Islamisierung, die die Ölmonarchien eigentlich förderten. Die von den Vereinigten Staaten angeführte Militärkoalition zur Befreiung des vom Irak besetzten Kuwait agierte von saudischem Boden aus und rief, zehn Jahre nach dem Angriff auf Mekka, gewalttätige Proteste in Saudi-Arabien hervor. Osama bin Laden wurde zu einem der führenden Köpfe dieser Gegenreaktion, was seinen Bruch mit den Autoritäten des Landes erklärt. Der irakische Einmarsch in Kuwait am 2. August 1990 ist auch daher deutlich paradoxer als der Krieg zwischen dem Iran und Irak, da das Emirat Kuwait, genau wie andere Ölmonarchien des Golf-Kooperationsrates, die Ausbreitung der Chomeini-Revolution auf der arabischen Halbinsel mit großzügigen Krediten für »Saddams Qadisiya« hatte bremsen wollen. Im Sommer 1988, nach dem Ende des Ersten Golfkriegs, war diese Gefahr beseitigt worden, Bagdad aber wegen der zerstörten Ölförderanlagen nicht mehr in der Lage, seine Schulden abzuzahlen. Die Eskalation der Spannungen erreichte im damals scherzhaft so genannten »Bankenangriff« durch den Schuldner ihren Höhepunkt. Dass sich das Interesse am Erdöl, Kriegslust und Islamisierung in diesem Konflikt miteinander vermengten, zeigte sich auf Anhieb dadurch, dass die Invasion am Morgen des Tages stattfand, an dem die Mitglieder der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) in Kairo zusammenkamen. Im Jahr zuvor hatte Kuwait noch den Vorsitz der OIC innegehabt. Just in dem Moment, in dem diese zur weltweiten Verbreitung des Islam unter saudischer Führung gegründete Institution eine Sitzung eröffnete, wurde ein Mitgliedsstaat von einem anderen erobert und annektiert. Nachdem Saddams Armee rasch mit dem Emirat fertiggeworden war (es hieß fortan nur noch »19. Provinz« des Irak), marschierte sie nun an der Grenze zu Saudi-Arabien auf, die Ölfelder von Hasa in Reichweite.

In unsagbarer Panik rief König Fahd, »Diener der zwei Heiligen Stätten«, am 7. August US-Truppen um Hilfe. Da er »ungläubige« Militärs einlud, den heiligen Boden des Landes zu betreten, sah sich der wahhabitische Herrscher dem Vorwurf des Glaubensabfalls ausgesetzt, den ihm genau jene Dschihadisten machten, die Riad in Afghanistan umfänglich finanziert hatte. Diese Anschuldigung stützte sich auf einen Spruch (hadith) des Propheten, den die Monarchie selbst genutzt hatte, um jeden anderen Kult außerhalb des Islam auf seinem Gebiet zu untersagen: »Vertreibt die Juden und Christen von der arabischen Halbinsel.« In der wörtlichsten Interpretation untersagte dies den Rückgriff auf Soldaten der »Kreuzritter«, die Aufruhr unter den Muslimen säen würden. Diese Spaltung im salafistisch-sunnitischen Lager blieb in den folgenden Jahrzehnten bestehen. So wie Saddam Hussein das islamische Register genutzt hatte, um Teheran die Vorherrschaft über den Islam streitig zu machen – er nannte, wie erwähnt, seine Offensive »Qadisiya« –, so gab er seinem Beutezug nach Kuwait und seinem Konflikt mit Saudi-Arabien den Ton eines Dschihad gegen die ungläubigen Dynastien, die sich vom Westen abhängig gemacht hätten. Um die schwache religiöse Legitimation seines Apparats zu verdecken – er hatte zahlreiche Prediger hängen, ermorden oder einsperren lassen – und um der gut geölten Maschinerie des Organismus der großen saudischen Ulemas etwas entgegenzusetzen, gab Saddam Hussein seinem Dschihad populistische Akzente. So verstärkte er den Hass auf die Kreuzfahrer, den Kolonialismus, den Imperialismus et cetera, nachdem rund eine halbe Million US-amerikanischer Soldaten im wahhabitischen Königreich eingetroffen waren. Die Unterstützung, die er in der arabischen Welt fand, speiste sich aus der Begeisterung von Nationalisten, die in ihm die Reinkarnation Nassers sahen, und der Zuversicht der radikalen Islamisten, die hofften, dass er das Haus Saud stürzen werde.

Die »arabische Straße« – eine Metapher für die populäre Meinung im arabischen Raum, die zu dieser Zeit aufkam – begeisterte sich noch mehr für ihn, als nach dem 15. Januar 1991 mit der Operation »Desert Storm« die irakischen Truppen aus Kuwait vertrieben wurden. Mit einigen Scud-Raketen, die auf israelischem Boden niedergingen, um den Antizionismus neu zu beleben, schlug Saddam die Massen in seinen Bann. Arafat sprach ihm seine Unterstützung aus – weshalb er nach der irakischen Niederlage keine Finanzhilfen mehr vom Golf erhielt, im Gegensatz zur konkurrierenden Hamas. Im Maghreb wurden die Scud-Raketen zu einem Mythos, als die Mobilisierung auch eine antifranzösische Wendung bekam, schließlich hatte sich Präsident Mitterrand an der Seite der Vereinigten Staaten an der Koalition beteiligt. Ich hörte, wie man sich damals in Casablanca folgende Geschichte erzählte: »Marokko hat entschieden, eine Scud auf Frankreich abzuschießen. In letzter Minute wird der Start doch noch abgebrochen: Es haben sich Dutzende Personen an der Rakete festgebunden, um ohne Visum nach Frankreich einreisen zu können.« Hier wird die ganze Doppeldeutigkeit der postkolonialen Beziehung deutlich. In Algerien wurde Saddam vom radikalsten Flügel der erst kurz zuvor gegründeten Islamischen Heilsfront unterstützt, die bei den Kommunalwahlen im Juni 1990 den Sieg davongetragen hatte. Der Prediger Ali Belhadj marschierte in militärischem Drill an der Spitze großer Protestzüge und skandierte mit ihnen »Schlag zu, Saddam!« (Sadd, ya Saddam!). Im Dezember desselben Jahres gaben die Demonstranten im ersten Wahlgang der Parlamentswahlen der FIS ihre Stimme.

Die Kontrolle der Herrscher in Riad über die weltweite Islamisierung wurde von einem Überbietungswettbewerb infrage gestellt, als sich dessen Diskurs mit einem Mal gegen das saudische Königshaus selbst richtete. Zunächst hatten liberale Kräfte vor Ort gehofft, die Präsenz des westlichen Militärs für den Anschub von Reformen nutzen zu können. Da unter aller Augen auch amerikanische Soldatinnen im Königreich Autos fuhren, setzten sich am 6. November 1990 70 saudische Frauen in aller Öffentlichkeit hinter das Steuer – was eine heftige Reaktion der Behörden nach sich zog. Man wollte die konservativsten Kreise beruhigen, die die Frauen als »kommunistische Huren« beschimpft hatten. Die islamistische Strömung agierte immer heftiger gegen die Staatsführung, die seit dem blutigen Einsatz in der Großen Moschee in Mekka zu Beginn des neuen Jahrhunderts islamischer Zeitrechnung, also seit November 1979, ohnehin in der Kritik stand. Auf Anregung des jungen Imam Salman al-Auda, der in den folgenden zehn Jahren von der Monarchie abwechselnd verhaftet und wieder aufgenommen wurde, richteten zunächst im Mai 1991 900 Prediger und Aktivisten einen »Brief der Forderungen« (khitab al matalib) an König Fahd. Sie forderten ihn auf, den strengsten Normen des Wahhabismus treu zu bleiben und dem verhängnisvollen Einfluss von Christen und Juden zu widerstehen. In verschleierten Formulierungen richtete sich die Kritik gegen die Macht der herrschenden Familie, deren religiöse Legitimität durch die Ankunft von »Kreuzritter«-Truppen auf dem Boden der »zwei Heiligen Stätten« erschüttert worden sei. Die Verfasser des Briefs verlangten die Schaffung eines »Konsultativrats«. Der König ließ die Initiatoren durch die ältesten Ulemas unter dem Vorwand rügen, sie hätten durch die Veröffentlichung ihres Anliegens die Gläubigen in Aufruhr (fitna) versetzt, richtete dann aber die geforderte Versammlung ein. Allerdings hatten die von ihm ernannten Vertreter der großen Stämme zumeist eine Bildung im Westen genossen. Als Reaktion veröffentlichten einige Unterzeichner des Briefes wiederum ein »Memorandum der Zurechtweisung« (mudhakirat an-nasiha), mit dem sie das Regime ganz grundsätzlich kritisierten: Sie forderten die Unabhängigkeit des Klerus, die absolute Islamisierung der Gesetze und des Bankenwesens, kritisierten die Schwäche der saudischen Armee und den Hilferuf an die US-amerikanischen Militärs et cetera.

Am 3. Mai 1993 gründeten einige der Autoren eine Protestorganisation – für das wahhabitische Königreich ein unerträglicher Vorgang. Ihr arabischer Name, »Komitee zur Verteidigung der Rechte der Scharia«, wurde ins Englische als »Komitee zur Verteidigung legitimer Rechte« übersetzt. Man spielte bewusst mit der Ambivalenz des arabischen Ausdrucks, um auch im Westen die Unterstützung von Menschenrechtlern und Aktivisten zu bekommen, die der arabischen Sprache nicht mächtig waren. Tatsächlich sorgte Druck von Amnesty International dafür, dass die schnell verhafteten Führer der Bewegung aus dem Gefängnis freikamen, das Gründungsmitglied Muhammad al-Massari zog im April 1994 nach London. Zwei Jahre lang beschimpfte er von dort aus das saudische Regime und verschickte seine Schmähungen – zu einer Zeit, in der das Internet noch unbekannt war – per Fax in alle Welt (was auf die Dauer so teuer wurde, dass die British Telecom 1996 seinen Anschluss wegen nicht bezahlter Rechnungen stilllegte). Während in Saudi-Arabien die wichtigsten Aktivisten dieser islamistischen Protestbewegung, die unter dem Namen sahwa (»Erwachen«) bekannt wurde, im Gefängnis saßen, zog sich Masari 1996 zurück und überließ Osama bin Laden seinen Platz. Dieser war 1991 aus Saudi-Arabien nach Afghanistan geflohen und lebte zwischen 1992 und 1996 im Sudan Turabis. Er machte den Slogan »die Amerikaner von der arabischen Halbinsel vertreiben« zu seinem Wahlspruch. Bin Laden hatte König Fahd im Zuge der irakischen Invasion in Kuwait 1990 vorgeschlagen, seine dschihadistischen Brigaden gegen Saddams Truppen zu schicken: Der Monarch missachtete das Angebot nicht nur, er rief sogar die Amerikaner zu Hilfe. Die Rache dafür kam, wie später noch deutlich werden wird, in Form des Anschlags auf die Botschaften der Vereinigten Staaten in Tansania und Kenia am Jahrestag dieses Ersuchens 1998.

Der Dschihad in Algerien und der Beginn des Terrors in Frankreich (1992–1997)

Nach dem Rückzug der Roten Armee am 15. Februar 1989 kehrten diejenigen ausländischen Dschihadisten, die dazu in der Lage waren, aus Afghanistan in ihre Heimatländer zurück. Sie waren entschlossen, dort ihre afghanischen Erlebnisse zu wiederholen, bis die »abtrünnigen« Regime gestürzt und ein islamischer Staat errichtet worden wäre. Neben den Guerillakämpfen in einigen muslimischen Regionen des Kaukasus, die den Zerfall der Sowjetunion begleiteten – etwa in Tschetschenien –, prägten hauptsächlich die drei Konflikte in Algerien, Ägypten und Bosnien dieses Jahrzehnt. In den beiden erstgenannten Ländern waren die Kämpfer Einheimische; im letzteren Fall waren es Saudis, Ägypter und einige konvertierte Europäer, die das Gros der Truppen stellten. Denn es hatte kaum Bosniaken in Afghanistan gegeben.

In Algerien traf die Rückkehr der »Afghanen« ab 1989 zeitlich zusammen mit den durch Revolten und Plünderungen im Oktober 1988 ausgelösten sozialen Unruhen, der Schwächung der FLN und der Entstehung der FIS. Die Moschee, in der sich die FIS gründete, stand im heruntergekommenen Wohnviertel Belcourt, das als Geburtsort von Albert Camus bekannt geworden war, inzwischen aber im Volksmund »Kabul« genannt wurde. Die »Afghanen« schlossen sich den ehemaligen Mitstreitern von Moustapha Bouyalis Mouvement islamique armé (MIA) an und überfielen am 28. November 1991 in der Stadt Guemmar einen Militärposten. Um den Geburtstag des »Märtyrers« und Dschihad-Ideologen Abdallah Azzam zu feiern und um ihre Ablehnung der Wahlstrategie der FIS zu verdeutlichen, köpften sie die dort gefangen genommenen Soldaten. Die FIS stand nach ihrem erdrutschartigen Sieg bei den Kommunalwahlen im Juni 1990 nun eingeklemmt zwischen einem konservativen Flügel, vertreten von der frommen Mittelschicht etwa in Person von Abbassi Madani, der die von der FLN etablierten staatlichen Strukturen zur Islamisierung des Landes nutzen wollte, und der armen, städtischen Jugend auf der anderen Seite, die begierig darauf war, zu kämpfen und die soziale Ordnung umzustürzen. Im Laufe des Jahres 1991 etablierte sich eine zweifache Macht, und das Land wurde von Aufständen und Streiks geprägt, was sich auch in der Verhaftung der beiden zentralen Figuren, Madani und Belhadj, niederschlug (die beiden verbrachten den gesamten Bürgerkrieg in Haft). Die FIS gewann dennoch die erste Runde der Parlamentswahlen vom 26. Dezember – auch wenn sie im Vergleich zur Kommunalwahl rund eine Million Stimmen verloren hatte – und stand kurz davor, bei der zweiten Runde die absolute Mehrheit zu erreichen. Das Vorhaben von Staatspräsident Chadli, der gehofft hatte, das Heft in der Hand halten zu können, wenn er mit der Minderheitenpartei FIS kooperierte, zerschlug sich, denn es fand keinen Widerhall an den Wahlurnen. Daraufhin enthob die Armee am 11. Januar 1992 den Staatschef seines Amtes, »suspendierte« die bevorstehenden Wahlen und löste am 4. März die FIS auf, nachdem kurz zuvor fast alle ihrer Führer und Kader verhaftet worden waren. Anders als im Iran, wo ein strukturierter und hierarchisierter Klerus sich vereint hatte und die Machtergreifung zu Ende führen konnte, gelang es der in viele Strömungen aufgespaltenen und von zahlreichen Personen geprägten FIS nicht, ihre große Popularität in einen siegreichen revolutionären Parteiapparat zu überführen. Unter den gewalttätigen Repressionen der Armee gelang ihr kein erneuter Aufstieg – stattdessen kam es zu einem fünf Jahre dauernden Bürgerkrieg in Form eines Dschihad gegen die Generäle und ihre Alliierten, der schätzungsweise 100.000 Tote forderte.

Die Zerschlagung der islamistischen Führung trug schnell zu ihrer Entfremdung vom Volk bei, das der FIS noch in großer Zahl gefolgt war. Und so spaltete sich die Wählerschaft in sich antagonistisch gegenüberstehende gesellschaftliche Gruppen auf, auch wenn religiöse Slogans dies zu überwinden versuchten, indem man doktrinär die »guten Muslime« den »Gottlosen und vom Glauben Abgefallenen« entgegenstellte. Die »moderate« Führung, die gehofft hatte, durch Wahlen das Land islamisieren zu können, ohne dazu die politischen Strukturen grundlegend ändern zu müssen, musste mit der Aufhebung der Wahlen durch die Generäle einen herben strategischen Rückschlag einstecken. Folglich half diese Revolte der »extremistischsten« Fraktion, die das Modell des afghanischen Dschihad nach Algerien übertragen wollte, das sie um die lokalen Erfahrungen der Partisanen, angefangen bei den »Mudschaheddin« des Unabhängigkeitskriegs (1954–1962) bis hin zum Mouvement islamique armé (MIA) von Moustapha Bouyali (1982–1987), ergänzte.

Während sich die Führung der FIS spaltete, schlossen sich die nachgewachsenen Dschihadisten und Afghanistan-Veteranen im Oktober 1992 zusammen und bildeten die Groupe islamique armé (Bewaffnete islamische Gruppe, GIA). Ihr erster »Emir«, der ehemalige Karosseriearbeiter Abdelhak Layada, exkommunizierte die Führungsriege der FIS als »gottlos« und erklärte es für rechtmäßig, ihr Blut ebenso zu vergießen wie das aller anderen Staatsbediensteten und weiteren »Kinder Frankreichs«. In einem langen Text vom März 1993, der ihm zugeschrieben wird – ohne das seine Autorenschaft gesichert ist –, beruft Layada sich auf den afghanischen Dschihad, der wie der von ihm in Algerien geführte eine »individuelle Verpflichtung« (fard ayn) jedes Gläubigen sei. Damit greift er die Formulierung von Abdallah Azzam auf und schließt sich zugleich der Heldengeschichte von Bouyali an. Mit den Jahren 1993 und 1994 begann eine ungemein gewalttätige Phase, in der man es vor allem auf »weiche Ziele« abgesehen hatte – verhasste frankofone Intellektuelle, Mitglieder der Zivilgesellschaft, Ärzte, Journalisten. Sie waren leichter zu erreichen als die Führungsebene der Armee und hatten durch ihr kulturelles Kapital, das ihnen den sozialen Aufstieg ermöglichte, der nach der Arabisierung der Schulen durch die FLN ansonsten unerreichbar war, alle Frustration und Wut der hittistes auf sich gezogen. Der Bekanntheitsgrad der Ermordeten und die Symbolkraft der Massaker sorgten für eine allgemeine Panik. Die Stadtviertel der einfachen Leute und ländlichen Gebiete gerieten unter Kontrolle der GIA. Der Staatsmacht gelang es nicht, sie zu fassen, dafür isolierte sie diese Gebiete, aber ohne in sie einzumarschieren. Die örtlichen islamistischen Honoratioren finanzierten zu Beginn die neuen Herrscher, doch die Beutezüge und Erpressungen der Jugendbanden, die den Dschihad für sich reklamierten, ließen sie bald zu Opfern werden. Drei Jahre später spalteten sich die Gruppen wieder auf.

Im Juli 1993 veröffentlichten Dschihadisten aus aller Welt, die nach »Londonistan« emigriert waren (wo die britischen Behörden Aktivisten aller Schattierungen in der Hoffnung aufnahmen, sie einhegen zu können), eine Broschüre mit Namen Al Ansar – die sie freitags nach Ende des Gebets per Fax versendeten –, um die GIA zu unterstützen. Das Blatt wurde maßgeblich von einem aus Syrien stammenden, in Frankreich ausgebildeten Ingenieur verfasst (der bis in die 2010er-Jahre eine wichtige Rolle im Dschihad spielen sollte), Abu Musab as-Suri. Der Einfluss der GIA wuchs derart, dass mehrere Führer der FIS nach einem Geheimtreffen am 13. Mai 1994 ihr die Treue schworen und damit das Exekutivorgan der FIS im Ausland (Instance exécutive du FIS à l’étranger, IEFE) zwangen, am 18. Juli mit der Islamischen Heilsarmee (AIS) eine konkurrierende Gruppe zu gründen. Sie sollte bei Verhandlungen mit den algerischen Generälen einen militärischen Gegenpol bilden. Die GIA lehnte solche Gespräche grundsätzlich ab und verlangte, die Erde von den »Gottlosen« zu säubern und mithilfe des Dschihad einen islamischen Staat aufzubauen. Die beiden Gruppierungen sollten sich fortan tödliche Auseinandersetzungen liefern, die beide in Hinblick auf die regierende Macht schwächte. Immer wieder ersetzten neue Emire die im Kampf gefallenen Führer an der Spitze der GIA. So übernahm am 27. Oktober 1994 Djamel Zitouni die Führung. Er fing damit an, den Dschihad nach außen zu tragen, und ließ an Weihnachten 1994 (um an diesem christlichen Fest die Symbolkraft der Operation zu betonen) eine Air-France-Maschine aus Algier entführen und im Laufe des Jahres 1995 blutige Anschläge in Frankreich verüben. So wollte er, um den Ruhm der GIA im eigenen Land zu stärken, den Kampf gegen die ehemalige Kolonialmacht führen und sie zur Aufgabe ihrer Unterstützung für die algerische Regierung bewegen. Allerdings erreichte Zitouni das Gegenteil, da die Ausweitung der dschihadistischen Gewalt, die von internen Säuberungsaktionen und Hinrichtungen begleitet wurde, sich im Endeffekt gegen die Gesellschaft insgesamt wandte. Die Redakteure der Broschüre Al Ansar warfen ihm vor, das Spiel des Regimes zu spielen. Die fromme Mittelschicht zeigte sich zunehmend erschöpft und verängstigt. Die Barbarei erreichte im August und September 1997 einen Höhepunkt, als in Raïs und Bentalha, zwei Vororten von Algier, die GIA bei einem Blutbad mehrere Hundert Menschen tötete – und wieder vermuteten einige, sie sei von Provokateuren manipuliert worden. Die Geschichte der GIA endete mit einem Kommuniqué ihres letzten Emirs am 27. September. Die AIS hatte bereits sechs Tage zuvor einseitig eine Waffenpause ausgerufen: Die Regierung wollte ihren Mitgliedern gegenüber Gnade walten lassen, sofern diese sich auf einen Kompromiss einließen, der im Grunde auf einen Treueschwur hinauslief.

Im Herbst 1997 hatte der bewaffnete Dschihad, obwohl es sporadisch noch einige Jahre vor Ort zu Gewalttaten kam, die Schlacht verloren. Im Austausch für Zugeständnisse des ab 1999 von Abd al-Aziz Bouteflika geführten Regimes kooperierten die »moderaten Islamisten« im Namen einer »nationalen Versöhnung« und bemühten sich im Räderwerk des Staates um eine offenkundige Reislamisierung Algeriens. Trotz der starken Mobilisierung im Volk kurz nach der Gründung der FIS ist es ihr nicht gelungen, ihre Kämpfer und Anhänger so zu vereinen, dass eine Revolution sie an die Macht geführt hätte, wie es im Iran 1978–1979 gelang. Die sozio-politischen und strategischen Unterschiede zwischen der frommen Mittelschicht und der armen, städtischen Jugend konnten von der zu wenig strukturierten islamistischen Intelligenz nicht aufgefangen werden – und diese Gräben vertieften sich während des Bürgerkriegs weiter, bis der gewalttätige Überbietungswettbewerb darin endete, dass die Armee wieder die Macht übernehmen konnte. Neben den Lehren aus dem parallel laufenden ägyptischen und bosnischen Dschihad zogen bin Laden und Zawahiri auch aus dieser Niederlage Konsequenzen. Die Maßnahmen und die Ziele mussten entschieden geändert werden.

Der algerische Dschihad war jedoch überdies Ankündigung und Vorläufer eines neuen Phänomens, das sich verstärkt nach 2012 zeigte: das Ausufern des Terrorismus auf französisches Territorium. Nach der Entführung des Airbus an Weihnachten 1994 in Algier, die am Flughafen von Marseille endete, wo eine Eingreiftruppe der Gendarmerie (die im November 1979 auch die Große Moschee in Mekka befreit hatte) die vier Entführer erschoss – zuvor waren in Algier bereits drei Geiseln gestorben –, verübte die GIA zwischen dem 11. Juli und 17. Oktober 1995 eine Reihe von Attentaten in Frankreich, die Dutzende Tote und mehr als 175 Verletzte forderten. Kopf der Unternehmungen war der 1971 in Algerien geborene und in der Umgebung von Lyon aufgewachsene Khaled Kelkal. Er fühlte sich in der Schulzeit von seiner Umgebung abgelehnt und entdeckte den Islam während eines Gefängnisaufenthalts – ein Lebenslauf, der für Hunderte von Dschihadisten in den Jahren zwischen 2000 und 2010 typisch wurde. 1993, mitten im Bürgerkrieg, kehrte Kelkal nach Algerien zurück, schloss sich dort der GIA an und erhielt zurück in Frankreich den Auftrag, am 11. Juli 1995 den Imam Abdelbaki Sahraoui zu ermorden, einen der Gründer der FIS. Sahraoui lebte und predigte in Barbès, einem von einfachen Menschen bewohnten Pariser Vorort, und wurde vom französischen Innenminister Charles Pasqua als Verbindungspartner zur FIS erachtet und damit als Garant dafür, dass Frankreich von den Ereignissen in Algerien unangetastet blieb.

Dieser Mord machte Frankreich, und seine zwei Millionen Einwohner algerischer Herkunft, zur Geisel eines Dschihad, der das Mittelmeer überquerte, um in Europa einen Brückenkopf zu bilden. Auf diesem Wege erhielt auch die nächste Generation von Terroristen ihre Ideale und Anregungen zur Wahl ihrer Ziele. Obwohl in Frankreich ansässige muslimische Verbände, wie etwa die Union des organisations islamiques de France (UOIF, den Muslimbrüdern nahestehend), das Land als islamischen Boden für die dort lebenden Gläubigen bezeichneten (wodurch jeder kriegerische Akt auf diesem Gebiet verboten war), verwandelten die GIA-Aktivisten Frankreich in ein »Kriegsgebiet« (dar al harb), in dem der Dschihad das Töten von Gottlosen und anderen Abtrünnigen erlaubte. Die Anschläge, vor allem auf das öffentliche Transportwesen (wie sie im März 2004 in Madrid und im Juli 2005 in London stattfanden), zielten auf zufällige Opfer. Doch keines der angestrebten Ziele wurde erreicht. Die große Mehrheit der Algerier in Frankreich bewegte sich nicht: Die »darons« (Familienväter) übten in jenen Jahren noch einen derart starken Einfluss aus, dass sie die Scharfmacher aussondern konnten, die ihre mühsam erworbene Integration gefährdet hätten – und Kelkal wurde von der Gendarmerie wie ein wildes Tier in einem Wald erlegt, denn er verfügte über keinerlei logistische Unterstützung.

Die französische Regierung nahm eine strenge Haltung gegenüber dem islamistischen Terror ein, und die den Sicherheitsorganen zur Verfügung stehenden Mittel bewiesen ihre Wirksamkeit: Frankreich blieb, auch dank der guten Kenntnisse über die vorhandenen Netzwerke, 16 Jahre von Anschlägen verschont (mit Ausnahme der weiter unten beschriebenen Ereignisse in Roubaix). Beendet wurde diese Phase erst mit dem von Mohammed Merah am 12. März 2012 verübten Anschlag. Bis dahin hatte sich das Programm des Dschihad geändert, und die französischen Geheimdienste, die in geschlossenen Kreisläufen funktionierten, waren über ihre Erfolge unachtsam geworden.

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