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GERD VOM STEINBACH

Aufbruch im Miriquidi Chemnitzer Annalen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zweite Auflage

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto: Castle Rabenstein © Edler von Rabenstein

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vom Autor erschienen bisher

Frustgedanken

Teil I – Die Ungarn kommen

Der Zug zum Miriquidi

Sorbische Hilfe

Auf dem Kastellberg

Jedem seine Hufe

Der Hinterhalt im Berg

Die Ungarn kommen

Siegersorgen

Rudolfs Hufe

Die weinende Madonna

Teil II – Zweihundert Jahre später

Lokus kameniza – aus zwei wird Eins

Ein langer Abschied

Für den Neubeginn von Königs Gnaden

Die Brücke

Neue Nachbarn

Keller im Fels

Der Amtmann des Vogtes

Hören Sie mich?

Vom Autor erschienen bisher:

Mit Lino durchs Jahr 2013


Theo Tröpfchens Reisen –

Theos Reise übers Land 2015


Theo Tröpfchens Reisen –

Theo besucht die nördlichen Bundesländer 2015


Theo Tröpfchens Reisen –

Theo besucht die südlichen Bundesländer 2015

Frustgedanken

Der Versammlungsraum wirkt auf Roland ermüdend. Das grellkalte Neonlicht lässt die Spuren der Zeit an den ehemals schlicht weißen Wänden gnadenlos hervortreten. Die Bilder und Plakate ringsum lassen den Ort nicht freundlicher wirken. Auch nicht die Fenster mit ihren von Regen und Schmutz gezeichneten Mustern. Das Wetter tut sein Übriges, um das Gefühl des Unwohlseins noch zu verstärken. Schlimmer noch scheint der Vortrag: trist, einfach nur trist! Das weiße Blatt vor ihm ist – abgesehen von der Überschrift und dem Datum in Schönschrift – noch jungfräulich. Der Vortrag ist von Wiederholungen gespickt und die monotone Sprechweise des Referenten nimmt jeder Anstrengung zur Konzentration die Wirksamkeit.

„Mein Gott, ist das furchtbar! Und wie er sich an Altem festhält! Damit lockt man doch keinen hinter dem Ofen vor! Bla, bla, bla …“ Entschlossen legt Roland den Stift auf den Tisch. Mehr wird es nicht zu schreiben geben, schade um die Zeit.

Als sich der Referent endlich für die Aufmerksamkeit bedankt, lassen die Zuschauer ein müdes Klatschen hören und erheben sich rasch von ihren Plätzen. Eilig drängen sie aus der Tür, um in der kurzen Pause vom Getränkeautomaten einen Kaffee, Tee oder Cappuccino zu ergattern. Die Gespräche werden gedämpft geführt und es ist kaum verwunderlich, dass sie sich am allerwenigsten auf das eben Gehörte beziehen. Roland hat sich für einen Kaffee „schwarz“ entschieden – so wie er ihn zumeist bevorzugt – und schaut sich nun nach Bekannten um.

Fast alle Anwesenden hat er schon einmal bei gleichartigen Gelegenheiten getroffen. Da er aber sein Hobby, die Regionalgeschichte, eher sporadisch und schon gar nicht in einem Verein pflegt, fehlt ihm hier ein vertrauter Gesprächspartner. Eigentlich wollte er schon lange Mitglied im Geschichtsverein werden, aber so richtig konnte er sich dafür bislang nicht entscheiden. Geschichte ist sein Winterhobby. Im Sommer gibt er Garten, Radtouren und Wanderungen den Vorzug. Während er den heißen Kaffee schlürft, lauscht er dem leisen Gespräch zweier älterer Herren am Flurfenster.

„Eine Erfüllung war das ja nun nicht gerade. Dabei hatten wir fast ein halbes Jahr archäologische Ausgrabungen am Neumarkt, außerdem werden die Kellergänge am Kaßberg untersucht, und am Schlossberg wird auch noch gebaut. Das sind doch genügend aktuelle Ansätze! Aber er kommt mit diesen Plattheiten, die auf neunzig Prozent aller Orte in der Region zutreffen.“

„Dafür ist er Doktor, alles was ein Wissenschaftler vertritt, muss bewiesen sein. Was hier in den letzten Jahren gefunden worden ist, wird erst einmal untersucht und analysiert. Bevor das nicht abgeschlossen ist, lehnt sich keiner zu weit aus dem Fenster.“

„Ach was, allein die Kellergänge bieten hinreichend Anlass, sich neu zu positionieren. Schon von den Ausmaßen her, das waren doch ursprünglich niemals nur Bierkeller. Warum in aller Welt sollten sie denn als solche über Kilometer hinweg durch Gänge verbunden sein?“

„Nimm das nicht so ernst, man kann in diese Gänge viel hineininterpretieren. Wenn du dann noch die Sagen einbeziehst von dem Abt, der vom Kloster bis nach Rabenstein unterirdisch gegangen sein soll, wovon uns schon als Schulkinder erzählt wurde, dann bist du ganz schnell im Märchenland. Nein, wir müssen uns schon an Belegbares halten. Ein Gründungsjahr der Stadt kann man nicht einfach so festlegen. Das hat man schon zweimal getan, in den dreißiger und in den sechziger Jahren, und jedes Mal eine Achthundertjahrfeier mit großem Brimborium veranstaltet. Genauso gut kann man sich für die Kellergänge eine Geschichte ausdenken. Ein bisschen sollten wir Laien uns trotzdem an Nachweisbares halten.“

Roland ist nicht länger gewillt, als Zaungast dem Gespräch zu folgen und mischt sich ein: „Es ist schon nicht schlecht, sich ein wenig an die Realität zu halten. Zur Realität gehört aber auch, dass die Chroniken aus dem achtzehnten Jahrhundert deutlich ältere Bezüge aufweisen, als wir es ihnen heute zugestehen. Ich denke da an das Marienstandbild in der Jakobikirche aus dem 10. Jahrhundert oder die Verwüstung der Stadt in den Jahren 923 bis 924. Solche Ereignisse haben sich doch unsere Altvorderen nicht aus den Fingern gesogen, dafür musste es doch gewisse Anhaltspunkte gegeben haben. Warum werden denn die alten Chroniken nicht anerkannt?“

„Weil damals eben mit manch einem Schreiberling auch die Fantasie durchging. Es ist nun einmal so, dass die Geschichte unserer Stadt erst seit dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts belegbar ist.“

„Was aber nicht heißt, dass sie nicht noch viel älter sein kann!“

„Das mag sein, aber was bringt es uns zu sagen, wie alt unsere Stadt ist?“

„Es bringt uns vielleicht nichts, aber was bringt es, die Behauptung aufzustellen, sie sei um 1170 gegründet worden? Die Pegauer Mönche werden weder die Ersten gewesen noch allein in die Wildnis gezogen sein, um hier ein Kloster und einen Markt zu errichten. Weder Barbarossa noch Kaiser Lothar hätten in der Einöde einen Markt befohlen, wenn hier keine Menschen gelebt haben, zumal er außerdem auch ziemlich abseits der vormaligen Handelsstraßen lag.“

„Das mag sein. Trotzdem gehen heute die Historiker davon aus, dass die Besiedlung erst mit der Stadtgründung nach 1170 vorankam. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus muss man dem recht geben, denn ohne Beweis ist jede andere Behauptung nur eine Hypothese und kein Fakt.“

„Diese Denkweise gefällt mir nicht. Wenn die Kreativität fehlt, wird man nie zu neuen Erkenntnissen kommen.“

„Kreativität allein reicht aber nicht aus, mein Freund. Nun, vielleicht erfährst du etwas Neues im weiteren Verlauf?“

Roland winkt unmutig ab und geht wieder in den Schulungsraum. Eigentlich hatte er vorgehabt, die Veranstaltung abzuhaken und nach Hause zu fahren, aber nun hatte er es sich überlegt, vielleicht könnte ihm die anschließende Diskussion doch etwas geben.

Die obligatorische Frage der Veranstaltungsleiterin nach Wortmeldungen der Teilnehmer zum Thema wird mit Schweigen quittiert. Sichtlich konsterniert blickt der Referent in die Runde. Er scheint seine Ausführungen weitaus interessanter zu finden als seine Zuhörer.

Endlich meldet sich schüchtern eine junge Frau aus der hintersten Reihe: „Herr Doktor, nach Ihren Darlegungen sind die Pegauer als erste Deutsche in die hiesige Region gekommen. Wie weit war die Besiedlung durch die Sorben zu dem Zeitpunkt schon vorangekommen?“

Der Dozent räuspert sich kurz und holt dann zu einer breiten Erklärung aus, deren Quintessenz schließlich ist, dass er im Wesentlichen auch nicht mehr weiß als von Wolfsjägersiedlungen, die hier vermutet werden.

„Ach, Mensch“, überlegt Roland, „wenn die Chroniken im 18. und 19. Jahrhundert von älteren Ursprüngen berichten, muss es doch dafür Quellen gegeben haben. Warum zweifeln wir bloß alles an, was die Alten so sicher wussten?“

„Herr Doktor“, meldet er sich zu Wort, „Ihrem Vortrag entnehme ich, dass Sie weder aus den archäologischen Untersuchungen noch aus aktuelleren Forschungsarbeiten neue Erkenntnisse über unsere regionale Geschichte gewinnen konnten. Warum betiteln Sie dann diese Veranstaltung mit den Worten ‚jüngste Erkenntnisse‘? Das waren doch alles Aussagen, die wir schon seit zehn Jahren hören.“ Der Referent zieht mokant die Augenbrauen nach oben.

„In der Geschichtsforschung“, näselt er, „gibt es nicht alle Tage neue Erkenntnisse. Aus manchen Funden kann man auf Neues schließen, aber das muss dann erst hieb- und stichfest abgeglichen werden. Dafür sind wir Wissenschaftler und so kommt es, dass manche Erkenntnisse noch nach Jahren ‚neue Erkenntnisse‘ sind. – Als Laie oder Fantast kann man natürlich alles hineininterpretieren.“

„Wieso bezeichnen Sie Aussagen, die gegen Ihre Kenntnisse gerichtet sind, als falsch, sie können doch sehr wohl richtig, jedoch nicht gesichert sein?“

„Ich glaube nicht, dass dieser Disput uns weiterbringt. Sie können ja gern an eine frühere Stadtgeschichte glauben, aber einen Beleg gibt es dafür nicht, womit das Ganze wissenschaftlich vollkommen uninteressant ist.“

„Das kräftige Tiefdruckgebiet über den britischen Inseln führt ein starkes Regenband nach Mitteleuropa. Der Deutsche Wetterdienst hat eine Sturmwarnung ausgegeben. Aufgrund des Temperaturrückgangs unter den Gefrierpunkt ist verbreitet mit Glatteis zu rechnen. Es wird ausdrücklich …“ Roland schaltet das Radio aus und steigt aus dem Wagen.

„Lass es meinetwegen aus Kübeln gießen und den Schlossteich zufrieren, ich bin da.“ Er ist zwar hier und jetzt allein, aber er kann es nicht lassen, seinen Kommentar zu äußern. Über diese Eigenart mokiert sich sein Sohn immer wieder aufs Neue. Gern äfft er ihn nach:

„So und jetzt muss ich …“ Mit einem Lächeln auf den Lippen steigt Roland aus dem Wagen und lässt die automatische Schließanlage klicken. Während das Licht im Fahrerraum langsam verlischt, geht er zum Garagentor und hebt die lange Haltestange aus der Öse. Eine plötzliche Sturmbö reißt ihm den schweren Flügel aus der Hand, drückt ihn nach außen und lässt ihn gegen das Tor der Nachbargarage schlagen.

„Ach, du grüne Neune, hier ist Rom offen!“, knirscht er durch die Zähne und springt hinterdrein, um das Tor zurückzuholen. In diesem Augenblick wird der Flügel zurückgewuchtet und, kaum dass er ausweichen kann, fällt schwer ins Schloss. „Mistwetter, verdammtes! Ich breche mir noch alle Knochen! Jetzt jagt man doch keinen Hund vor die Tür!“ Vor Schreck erbleicht lehnt er sich keuchend gegen das raue Holz und während er am dicken Schlüsselbund in der Jackentasche zerrt, geht nun eine wahre Sturzflut nieder. Wie, um der Situation die entsprechend komische Würze zu verleihen, hat sich der Ring jedoch im Futterstoff verhakt, welcher sich seinem rohen Zerren nun nicht länger widersetzt und mit einem grässlichen Reißen nachgibt. Aufgebracht schlägt Roland den Kragen hoch und spürt missmutig, wie das kalte Wasser über den Nacken rinnt. Er hat keinen Blick für das imposante Schauspiel, das ihm die Natur bietet. Der Sturm beugt die langen, schmalen Pappeln, dass sie vor Qual ächzen. Die Sträucher, soweit sie keinen Schutz im Windschatten haben, verneigen sich vor den entfesselten Elementen bis tief auf den Boden. Das wenige letzte Laub beging längst Fahnenflucht von seinem angestammten Platz und die braunen Blätter fegen gleich Geschossen durch die Luft.

Mit einiger Kraftaufwendung stemmt sich Roland gegen den Sturm und erklimmt die drei ausgebrochenen Stufen zu Fahrbahn. Den Blick stur auf die in der Dunkelheit kaum zu erahnende Gartensparte jenseits der Straße gerichtet, sehnt er sich danach, zügig die wenigen Meter bis zum wohligen Zuhause zurückzulegen und endlich die Wohnungstür hinter sich schließen zu können. Roswitha wird schon den Tisch gedeckt haben.

„Und dann gibt es einen schönen heißen Tee!“, murmelt Roland vor sich hin, zieht die Schultern fröstelnd hoch und dreht das Gesicht zum Schutz vor dem Unwetter nach rechts. Urplötzlich umfasst ihn gleißende Helligkeit und malt seinen Schatten in bizarrer Länge auf den nassen Asphalt. Den schweren Stoß an der Hüfte, den Flug durch die Luft und den harten Aufschlag nimmt er schon nicht mehr wahr, nur das Licht erweitert sich zu einer Grelle von hunderten Flutlichtmasten.

Teil I

Der Zug zum Miriquidi

Langsam und undeutlich, wie durch einen Pelz gedämpft, dringt unverständliches Gemurmel an seine Ohren, welches die Nervenstränge mühevoll in das Gehirn leiten, wo es hundertfach von pulsierendem Schmerz bedrängt und ganz schwach als Wahrnehmung registriert wird. Gleich einer Gebirgsquelle sprudeln die Eindrücke allmählich immer zügiger und finden endlich ihren Ausdruck im Erkennen.

„Mein Gott, das hätte schlimm ausgehen können!“

„Es ist schlimm ausgegangen! Sieh doch mal die linke Seite an, er blutet wie ein gerissenes Schaf.“

„Hoffentlich ist im Inneren noch alles an seinem Platz.“

„Gebe es Gott, dass es ihm nicht geht wie …“

„Lass mal gut sein, Wiprecht“, wirft Frieda ein, „niemand weiß, ob er später lahmen wird, auch wenn er allemal – genau wie sein Vater und seine Brüder – keine Rücksicht gegen sich selbst kennt!“

„Über diese Härte ist eure Mutter fast zerbrochen!“ Wiprecht ist nicht bereit, so schnell Frieden zu geben.

„Also los, du Eisenmann, steh auf!“

Als Rudolf, dem Schmerz ausweichend, sich nach rechts abstützt, um auf die Beine zu kommen, gebietet Hildburga mit einem energischen Handzeichen zu verharren.

„Nicht so schnell, erst sehe ich mir die linke Seite an. Wenn Schmutz in die Wunde dringt, kann du dir den Wundbrand holen oder eine Blutvergiftung.“ Ohne auf seine Abwehr zu achten, hilft ihm die Alte, den Kittel abzustreifen. Hautabschürfungen ziehen sich von der Achsel bis zur Taille, wo sie in eine klaffende Wunde übergehen. Die Blutung hat inzwischen nachgelassen.

„Na ja, direkt lecker sieht es ja nicht aus“, meint Wiprecht, „aber richtig ausgewaschen und mit ein paar Kräutlein darauf, sollte es schnell heilen.“

Sogleich hat Frieda ein Läppchen hervorgekramt und eilt hinüber zum Bach, es zu nässen. Währenddessen sucht Wiprecht in seinem Beutel, der mit den verschiedensten Kräutern gefüllt ist. Im Verlaufe der Fahrt und insbesondere bei den Aufenthalten hat er sie am Wegrand und an den Rastplätzen gesammelt, so wie er es seit eh und je hält.

Nachdem Frieda die Wunde gründlich gesäubert hat, legt Wiprecht die Blätter und Kräuter auf, die ihm geeignet und hilfreich erscheinen. Hildburga reißt Stoffbahnen und legt endlich dem Verletzten einen Wickel an.

Nachdem Rudolf seinen Kittel übergestreift hat, erhebt er sich ächzend. Während Wiprecht seine Sachen zusammenpackt, fragt er die alte Helferin mit hochgezogenen Brauen:

„Warum hast du das nicht allein erledigt, Mutter Hildburga? Du kennst dich doch nicht schlechter aus als ich. Deine Mutter war schon eine geschickte Heilerin, so wie auch deren Mutter und ebenso könntest du es nicht minder sein. Warum willst du keine Heilerin sein?“

Traurig schüttelt die Alte den Kopf. „Es ist heute besser, nicht zu viel preiszugeben. Auch du hast es wohl bemerkt, dass mich der Pater zu Hause nicht litt. Als Ungläubige und Götzendienerin hat er mich beschimpft und die Leute gegen mich aufgehetzt. So wird es mir und allen Heilerinnen immer gehen, ja, es wird noch schlimmer werden. Die Kirche hat Angst vor unseren alten Göttern und vor unserem alten Wissen. Deshalb nehme ich die Qual dieser Reise auf mich. Habe ich jemals etwas Böses getan? Trotzdem werde ich angefeindet, wenn ich vor Unheil warne, wird mir gar die Schuld daran zugeschoben.“

„Wird es dort besser sein, wo wir hinwollen?“ Wiprecht schüttelt den Kopf. „Mönche und Priester verkünden überall den rechten Glauben – sagen sie.“

Hildburga nickt lächelnd. „Das mag schon stimmen, aber wir ziehen in die Wildnis und dort hat die Kirche noch nicht recht Fuß gefasst. Die Gegend heißt Fegunna – Waldgebirge. Hier lebten in Vorzeiten schon einmal unsere Ahnen, doch weiter im Norden, am Rande des endlosen Waldes. Sie nannten ihn Eichenwald, die Römer übersetzten den Namen in ihre Sprache als Arkynia. Keiner traute sich tief hinein und schon gar keiner hindurch. Unsere Ahnen nannten sich damals Hermunduren. Deren Mutigste waren immerhin soweit nach Süden vorgedrungen, dass sie auf die schroffen Berge stießen, deren Unterholz dichten Hecken glich. Es war eine besonders reiche Jagdgegend. Und sie kannten schon die Höhlenberge, die nun unser Ziel sind.“

Wiprecht krault sich nachdenklich den Bart: „Woher willst du das wissen, Alte? Du denkst dir doch nur Geschichten aus.“

Stolz wirft Hildburga den Kopf nach hinten, drückt den gekrümmten Rücken etwas durch. „Im Gegensatz zu denen, die nur über andere tratschen, wurden bei uns abends Geschichten über unsere Vorfahren und unser einst so mächtiges Volk erzählt. So haben wir unser Wissen bewahrt. Da ich aber nun die Letzte in der langen Reihe meiner Familie bin, wird all das Wissen mit mir untergehen. Nur ein paar Brocken bleiben bei dir und den anderen, bis auch diese verbleichen. Aber eines erhoffe ich mir: keine garstigen Anfeindungen mehr von Priestern des neuen Glaubens.“ Damit dreht sich die Alte um und stapft davon.

Wiprecht hebt die Schultern und wendet sich an seine Frau: „Wo soll das nur hinführen? Da hat jemand so viel Wissen in seinem Kopf und will es doch nur um seiner eigenen Sicherheit willen verbergen.“ Frieda legt ihm die Hand auf den Arm. „Ach, Wiprecht, sorge dich nicht. Mutter Hildburga wird ihren Frieden finden. Vielleicht sollten wir uns mehr um sie kümmern und vor allem ihr reiches Wissen zu erringen suchen.“

„Da magst du wohl recht haben“, Wiprecht legt seine Hand fest auf die ihre, „mit jedem Stück Wissen, das verloren geht, wird die Menschheit ein Stück zurückgeworfen. Wenn wir altes Wissen mit neuen Erfahrungen vereinen, kommen wir mit Riesenschritten voran.“

Rudolf hat inzwischen den Wagen umrundet. Der Anblick seines Gefährtes stimmt ihn nicht froh. Beide Vorderräder sind zerbrochen und die Naben sitzen auf dem Boden auf. Speichen säumen die Fahrspur, als hätte jemand Runen geworfen. Vor den Hinterrädern erhebt sich eine rundgewaschene Steinschwelle, als wolle sie jegliche Passage verhindern. Das Ladegut hat sich verschoben und drückt gegen den derben Stoff der Plane. Es mutet wie ein Wunder an, dass die Spriegel gehalten haben. Die Ochsen ruhen stoisch an der Deichsel und knappern an den letzten Blättern eines Astes, der ihnen direkt vor dem Maul hängt. Hinter dem Wagen spannt sich eine Kette straff vom Wagenboden in das hohe Gras, wo sie am längs liegenden Bremsbalken endet. Die zweite Kette, die den Balken quer zur Fahrtrichtung hielt, baumelt zerrissen herab.

„Nun weißt du, wie es zu dem Unfall gekommen ist.“ Die kräftige Stimme von hinten reißt Rudolf aus seinen Betrachtungen. „Auf halber Höhe hat sich der Bremsbalken an einem Baumstamm verfangen. Darum ist die Kette gerissen und der Wagen hat die Rindviecher ungebremst ins Tal geschoben. Nur gut, dass sie sich nicht die Knochen gebrochen haben. Schlimm nur, dass die Räder hinüber sind.“ Reinhold, der aufgrund seiner Erfahrungen als Fuhrmann eine wichtige Stütze für Hildebrand ist, pendelt seit Jahren als Händler zwischen Rhein und Sorbenmark. Für Hildebrand, den Kolonnenführer, war es ein Glücksfall, dass Reinhold mit dem Handel kein hinreichendes Auskommen mehr fand und bereit war, sich mit seiner Familie dem Treck anzuschließen. Nicht nur sein Geschick als Fuhrmann, auch seine Stärke und die Gewissheit, dass er die Sprache der Sorben versteht, machen ihn für die Kolonne unersetzlich. „Gottlob konnten wir die nachkommenden Gespanne im Bogen herunter führen. Es hätte leicht Schlimmeres passieren können. Aber komm jetzt, Hildebrand hat die Wagenführer zusammengenommen. Wir müssen beraten.“

Die schweren Planwagen bilden auf der langgezogenen Lichtung entlang des Bachlaufes einen weiten Kreis, in dessen Zentrum Schieferplatten das Gras unterbrechen. Die weiße Herbstsonne senkt sich bereits hinter die Wipfel der alten Eichen, deren kahle Äste bizarre Muster auf die Lichtung malen. Die kraftlosen Sonnenstrahlen erwärmen kaum noch den Boden, doch die fröstelnd hochgezogenen Schultern einiger Männer lässt auch ihre Gemütslage ahnen. Um vieles lieber würden sie jetzt um das Herdfeuer ihrer Hütte sitzen als hier im Freien zu hocken. Bald schon wird der Frost den Boden aushärten und an ein festes Dach über den Kopf ist noch lange nicht zu denken. Eigentlich ist es die denkbar ungünstigste Zeit für eine Umsiedlung in ein unbekanntes, unerschlossenes Land. Sie hätten warten sollen, bis die schlimmsten Fröste vorüber sind, und den Neubeginn im Frühjahr wagen sollen. Aber die Reise ins Ungewisse entsprang nicht allein ihrem Willen. Wie der Dorfschulze in der alten Heimat hat erkennen lassen, soll wohl ein Befehl König Heinrichs schuld gewesen sein, dass sie zu so unbilliger Zeit aufbrechen mussten.

Der Anführer Hildebrand sticht heraus unter seinen Männern. Nicht nur, dass er bereits in der Blüte seines vierten Lebensjahrzehnts steht, was man ihm auch ansieht, auch sein Selbstbewusstsein und seine Autorität spiegeln unverkennbar seine anerkannte Führerrolle wider.

„Hört gut zu“, beginnt er, als alle beisammen sind. „Der Unfall von Rudolf ist eine ernste Angelegenheit, die uns gehörig zu schaffen macht. Doch gibt uns diese unerwartete Atempause auch die Möglichkeit, unser weiteres Vorgehen zu beraten.“

Die Blicke der Fuhrleute hängen gespannt an seinen Lippen, über die besonderen Gründe für ihre mühevolle Reise wüssten sie gern mehr. Aber so beschwerlich die Wanderung auch sein mag – wie auch die Entscheidung, die Heimat zu verlassen, keinem leicht gefallen war –, so nehmen sie die Strapazen doch gerne auf sich, denn hier gelten sie was. Das war freilich zu Hause im Thüringischen anderes. Dort waren sie die Kleinsten der Kleinen, die Überzähligen. Die Äcker der Eltern vermochten sie nicht mehr zu ernähren und es bestand keinerlei Aussicht, ein eigenes Gut zu erwerben. Aber – und darum sind sie in die Wildnis aufgebrochen – hier sind sie die Erschaffer neuen Lebensraumes. Hier sind sie wer und niemand schaut voll Verachtung auf sie herab. „Ja, letztlich kommt uns der Unfall gar nicht ungelegen“, fährt Hildebrand fort, „denn wir müssen dringend den Zug neu ordnen.“

„Ja freilich, was dein Liebling auch anstellt“, gellt eine schrille Stimme aus der hinteren Reihe, „es ist immer zu unserem Vorteil. Wir hätten noch gut eine Weile fahren können und wären dann sicher aus diesem schaurigen Wald heraus!“ Beifallheischend schaut Heribert mit hochrotem Gesicht in die Runde. „Geheuer ist es hier nämlich nicht. Ganz gewiss wimmelt es von bösen Geistern. Vorhin am Hang haben mich grauenvolle Augen angestarrt, die waren halb so groß wie Wagenräder und ganz starr!“

„Halte doch dein verdammtes Maul, du Schisshase!“, wirft der Hüne Johannes ein. „Starrende Augen sind wohl immer starr, du Dummkopf. Warum bei allen Göttern hast du nicht gleich gesagt, dass wir beobachtet werden? – Wenn es überhaupt so ist!“ Die Männer stoßen sich untereinander an, denn Heribert ist in der Gemeinschaft der Pickel auf der Nase. Seinen geringen Wuchs versucht er beständig mit Streitsucht und Prahlerei auszugleichen.

„Lass gut sein“, wirft Hildebrand ein, „wir alle kennen Heribert. Er mag so manchen Mann reizen und das stört gewiss. Aber wir brauchen ihn, gerade jetzt!“ Die Worte lassen den Kleinen um eine Handbreite wachsen, das hat der Wichtigste unter ihnen gesagt, dass er – Heribert – gebraucht wird! Hildebrand holt tief Luft. „Auch ich habe die Augen gesehen, allerdings nicht so groß, und es war da noch ein Mann dran.“

Überraschung malt sich auf die Gesichter der Männer und so manche Hand greift zur Axt am Gürtel. „Ihr wisst, dass wir hier mit den Sorben rechnen müssen, denn wir sind in ihr Gebiet eingedrungen. Der Beobachter wird vielleicht ein Jäger gewesen sein. Trotzdem müssen wir unsere Aufmerksamkeit verstärken, denn es werden noch andere auf uns stoßen und wer weiß schon, ob wir bei allen willkommen sind!“

Heribert, der eben noch stolz dreinblickte, dreht nun furchtsam das Gesicht in alle Richtungen, als fürchte er den jähen Angriff wilder Horden. Unruhig rutscht sein Gesäß auf dem weichen Boden hin und her.

Hildebrand ruft ihn mit einem strengen Blick zur Ruhe und setzt fort: „Jetzt besteht noch keine Gefahr, denn der Fremde muss es erst seinen Leuten melden, aber Warnsignale hat es bisher nicht gegeben. Bis morgen werden wir wohl Ruhe haben. Aber ab sofort wird das Lager streng gesichert. Die Frauen und Kinder bleiben in der Wagenburg. Heribert wird ab dem Morgengrauen nicht mehr sein Gespann führen, sondern auf dem ersten Wagen als Beobachter mitfahren, er hat die schärfsten Augen. So Gott will erreichen wir schon morgen mit Sonnenuntergang unser Ziel. Wir werden bei den Höhlenbergen nicht die Ersten sein, denn aus unserem Volk haben sich dort bereits Soldaten festgesetzt. Ihnen bringen wir Verpflegung und Utensilien für den Winter. Wir werden dort bleiben und als Bauern im nächsten Jahr für die Beköstigung sorgen, damit unsere Krieger ihre Aufgaben erfüllen können, allenfalls werden wir selbst in den Krieg ziehen.“

Ungläubig schauen ihn die Fuhrleute an. Dass sie ein Wagnis eingegangen sind, als sie sich auf den Treck begaben, war ihnen immer bewusst, aber dass sie als friedliche Bauern einmal die Kriegsreserve bilden sollen, scheint ihnen ungeheuerlich.

„Soll das heißen, dass wir die Sorben erst verjagen müssen, um deren Höfe zu besetzen?! Ich bin Bauer und kein Krieger!“, empört sich der Rotschopf Georg und die anderen schmunzeln ob seines gütigen Selbstbildnisses, denn gerade Georg neigt gern zu Raufereien und vermag durchaus mehrere Männer in Bedrängnis zu bringen.

Hildebrand lacht leise und antwortet dem Empörten: „Die Sorben lassen wir hübsch in Frieden. Sie sind hier nur vereinzelt und lassen uns ausreichend Platz. Ihre Siedlungen liegen weiter im Norden. Doch haben sie einen großen Verdruss mit uns gemein. Denn jedes Jahr kommen die Panonier über die Berge. Niemand kennt ihre Wege durch den Urwald. Urplötzlich sind sie da, ziehen durch die Sorbengau und brennen unsere Heimat. Nun sind aus mehreren schwer zugänglichen Gegenden unsere Leute auf dem Weg, um diesen Teufeln auf ihren kleinen struppigen Pferden Fallen zu stellen und sie zu überwältigen. Wenn es gelingt, sie zu bezwingen oder in die Flucht zu schlagen, gewinnen wir dadurch gleichzeitig unser Siedlerland. Wenn alles gut geht, stehen wir bald besser da denn je.“

Die Männer nicken zustimmend. Obgleich sie noch keinen dieser Krieger aus dem Süden gesehen haben, ist ihnen doch schon so manche ihrer Gräueltaten im Saaleland zu Ohren gekommen. – Hildebrand trägt ihnen ruhig seinen weiteren Plan für die voraussichtlich letzte Etappe bis zum Ziel vor.

***

Über Nacht ist es kalt geworden. Als der Morgen anbricht, überzieht Raureif die Wiese mit den Wagen, die im Nebel nur undeutlich auszumachen sind. Die umstehenden Baumriesen wirken wie bizarre Gebilde, die eine scheinbar milchiggraue Unendlichkeit stützen. Kein Laut tönt über das leise Knistern des Feuers auf der Felsenplatte, dessen rötlichgelber Schein sich mühsam seinen Weg durch die Schwaden bahnt. Als wolle die Natur die Strapazen der Reisenden vor den Blicken Fremder verbergen, hat sie ein Wolkenband gnädig auf die Ruhenden gesenkt. In jeder Himmelsrichtung lehnt ein Wachposten am Wagen und starrt angestrengt in die trübe Dämmerung, mehr den Ohren als den Augen trauend, denn der Nebel lässt die seltsamsten Gebilde erscheinen. Endlich durchbricht das tiefe Brummen eines Ochsen die geisterhafte Stille und gleich darauf beherrscht ein reges Leben das Lager.

Die Frauen bereiten das Morgenmahl, die Kinder toben schon bald zwischen den Wagen herum. Die Männer, sofern nicht mit der Sicherung des Lagers betraut, entladen Rudolfs Wagen, um die zerschlagenen Räder zu wechseln. Rudolf selbst vermag mit seiner Verwundung die schweren Kisten und Säcke nicht zu bewegen und so ließ er sich von Hildebrand zur Wache einteilen.

„Dieses Wetter ist nur gut für böse Geister! Alles ist klamm, man sieht die Hand vor Augen nicht und draußen schart sich das Böse um uns!“, zetert Johanna und rumort mit dem irdenen Geschirr im Bach. „Und damit alles zusammenkommt, wird es bald aus Kübeln gießen!“ Ihre von der Kälte geröteten Hände ziehen den Krug so heftig durch das Wasser, dass er fast an die Steine schlägt.

Gerlinde steht neben ihr, sie schaut auf die Wütende herab und entgegnet spöttisch: „Du scheinst mir die rechte Wetterfee zu sein! Mit dem Nebel kennst du dich gut aus, he? Du wirst noch in deiner Rage den Krug zerschlagen und dann wird dich dein Gerhard schon Maß nehmen!“ Johanna zwingt sich, ihren Zorn zu mäßigen. Ein zerbrochener Krug wäre, wenn schon keine Katastrophe, so doch ein ziemliches Unglück. Wo bekäme man in der Wildnis hier einen neuen her? Ihr zappeliger Gerhard ist gewiss nicht der Mann, der töpfern kann. Gunhild hat beim Näherkommen die Kabbelei verfolgt, begütigend wirft sie ein:

399
477,84 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
302 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783960081944
Издатель:
Правообладатель:
Автор
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