Mir schien, als hätte die Grube sich erweitert. Und immer wieder fuhren Stöße lebhaft grünen Dampfes gegen den heller werdenden Himmel auf — fuhren auf, drehten sich wirbelnd, verteilten sich und verschwanden.
Jenseits erblickte man die Feuersäulen von Chobham. Sie wurden Säulen blutig roten Rauches beim ersten Strahl des Tages.
1 Kampftaktik, um den Gegner durch andauernden, wenn auch ineffektiven Beschuss zu binden. <<<
2 Das Maxim-Maschinengewehr (französisch Maxim-Mitrailleuse, englisch Maxim Gun) war das erste selbstladende Maschinengewehr. <<<
Als es heller wurde, zogen wir uns vom Fenster, von dem wir die Marsleute beobachtet hatten, zurück und gingen leise die Stiege hinab.
Der Artillerist stimmte mit mir überein, dass das Haus nicht der Ort sei, um dort zu verweilen. Wie er mir mitteilte, hatte er vor, die Richtung nach London einzuschlagen, um dort mit seiner Batterie — Nr. 12 von der reitenden Artillerie — zusammenzutreffen. Meine Absicht war es, sofort nach Leatherhead zurückzukehren; und so mächtig war der Eindruck, den die Kraft der Marsleute auf mich gemacht hatte, dass ich fest entschlossen war, meine Frau nach Newhaven zu bringen, um dort mit ihr, und zwar ohne Verzug, das Land zu verlassen. Denn das hatte ich schon klar begriffen, dass die Gegend um London unvermeidlich der Schauplatz verhängnisvoller Kämpfe werden müsse, ehe Geschöpfe wie diese vernichtet werden konnten.
Aber zwischen uns und Leatherhead lag der dritte Zylinder unter der Obhut der Riesen. Wäre ich allein gewesen, so hätte ich, glaube ich, alles in die Schanze geschlagen, und hätte querfeldein meinen Weg eingeschlagen. Aber der Artillerist riet mir davon ab: »Einer rechten Frau«, sagte er, »erweist man keinen Gefallen, wenn man sie zur Witwe macht.« Und schließlich ließ ich mich überreden, unter dem Schutz der Wälder mit ihm nördlich bis Street Chobham zu gehen. Dort wollten wir uns trennen. Dann wollte ich einen großen Umweg über Epsom machen, um Leatherhead zu erreichen.
Ich wäre auf der Stelle aufgebrochen, aber mein Gefährte war in aktivem Dienst gestanden und er verstand es besser. Er veranlasste mich, das ganze Haus nach einer Feldflasche zu durchstöbern, die er mit Whiskey füllte; und jede mögliche Tasche stopften wir mit Päckchen Zwieback und Fleischschnitten an. Dann schlichen wir uns aus dem Hause heraus und liefen, so schnell wir konnten, die schlechte Straße hinab, auf der ich die Nacht vorher gekommen war. Die Häuser schienen verlassen. Auf der Straße lag eine Gruppe dreier vom Hitzestrahl getroffener, dicht nebeneinanderliegender Leichen; und hie und da sah man Gegenstände, welche die Leute auf ihrer Flucht verloren hatten —- eine Uhr, einen Pantoffel, einen Silberlöffel und ähnliche armselige Kostbarkeiten. An der Ecke gegen das Postamt zu stand ein kleiner Karren, mit Koffern und Hausgerät bepackt, ohne Pferd, halb umgestürzt mit einem gebrochenen Rad. Eine Geldschatulle war hastig aufgebrochen und in den Wirrwarr zurückgeschleudert worden.
Außer dem Pförtnerhäuschen beim Waisenhaus, das noch immer brannte, hatte keines der Häuser hier sehr gelitten. Der Hitzestrahl hatte die Schornsteine abgeschlagen und war weitergefahren. Dennoch schien es außer uns keine lebende Seele am Maybury-Hügel zu geben. Die Mehrheit der Bewohner hatte auf der Old Woking Road — derselben, auf der ich nach Leatherhead gefahren war — ihr Heil in der Flucht gesucht, oder sie hielt sich verborgen.
Wir gingen den kleinen Feldweg hinab, an der Leiche des Mannes in Schwarz, die jetzt vom nächtlichen Hagelschlag ganz durchnässt war, vorüber, und schlugen uns am Fuß des Hügels in das Gehölz. Wir arbeiteten uns bis zur Eisenbahn hindurch, ohne einer lebenden Seele zu begegnen. Das Wäldchen jenseits des Eisenbahndammes war nichts als ein Haufen zerschmetterten und verkohlten Holzes; zum größten Teil waren die Bäume umgestürzt, aber eine geringe Anzahl stand noch da, trostlose graue Stämme mit dunkelbraunen statt grünen Nadeln.
Auf unserer Seite waren kaum andere Spuren des Feuers wahrzunehmen, als dass einige näherstehende Bäume versengt waren; doch nicht genügend, um einen Brand anzuregen. An einer Stelle waren die Forstleute noch am Samstag beschäftigt gewesen; gefällte und frischbeschnittene Baumstämme lagen mit ganzen Hügeln von Sägespänen neben der Sägemaschine und ihrem Motor in einer Lichtung. Dicht daneben sah man eine nur für augenblicklichen Gebrauch gezimmerte Hütte, die verlassen dalag. Nicht ein Lüftchen regte sich an diesem Morgen, und alles war seltsam still. Selbst die Vögel waren verstummt, und als wir so entlangeilten, sprachen der Artillerist und ich nur im Flüsterton, und von Zeit zu Zeit blickten wir über die Schulter zurück. Ein- oder zweimal hielten wir an, um zu lauschen.
Nach einiger Zeit näherten wir uns der Straße, und als wir ihr ganz nahe kamen, hörten wir das Klappern von Hufen und sahen durch die Baumstämme drei Kavalleristen, die langsam gegen Woking zu ritten. Wir riefen sie an, und sie machten Halt, während wir auf sie zueilten. Es war ein Leutnant und zwei Mann von den 8. Husaren. Sie trugen ein Gestell, das wie ein Theodolit1 aussah, das aber der Artillerist mir als einen Heliografen2 erklärte.
»Sie sind die ersten Menschen, die ich auf dieser Straße heute Morgen gesehen habe«, sagte der Leutnant, »was ist denn eigentlich los?«
Seine Stimme und sein Gesicht waren erfüllt von Wissbegierde. Auch die Soldaten hinter ihm starrten uns neugierig an. Der Artillerist sprang über den Graben auf die Straße hinab und salutierte.
»Kanonen zerstört vorige Nacht, Herr Leutnant. Habe mich versteckt. Versuche, zur Batterie zurückzukommen, Herr Leutnant. Sie werden, wenn sie noch eine halbe Meile auf dieser Straße reiten, die Marsleute zu Gesicht bekommen, glaube ich.«
»Wie zum Kuckuck sehen die denn aus?«, fragte der Leutnant.
»Riesen in Rüstung, Herr Leutnant. Hundert Fuß hoch. Drei Beine und ein Rumpf wie Aluminium, mit einem ungeheuren Kopf in einer Kappe, Herr Leutnant.«
»Hören Sie doch auf!«, rief der Leutnant. »Was für ein verfluchter Unsinn!«
»Sie werden schon sehen, Herr Leutnant. Sie führen eine Art Kasten mit sich, der Feuer ausspeit und Sie totschlägt.«
»Was meinen Sie eigentlich — ein Geschütz?«
»Nein, Herr Leutnant«, und der Artillerist gab nun eine lebhafte Beschreibung des Hitzestrahls. Mitten in seiner Schilderung unterbrach ihn der Leutnant und blickte nach mir. Ich stand noch immer auf dem Damm neben der Straße.
»Haben Sie es gesehen?«, fragte der Leutnant.
»Es ist vollkommen wahr«, erwiderte ich.
»So«, sagte der Leutnant, »dann glaube ich, ist es wohl auch meine Pflicht, es anzusehen. Passen Sie auf« —- er wandte sich an den Artilleristen — »wir sind hier verteilt, um die Leute aus ihren Häusern zu schaffen. Sie tun am besten, wenn Sie sich beim Brigade-General Marvin melden und ihm alles berichten, was Sie wissen. Er ist in Weybridge. Weg bekannt?«
»Ich kenne ihn«, sagte ich. Er wendete sein Pferd wieder südwärts.
»Eine halbe Meile, sagen Sie?«, fragte er.
»Höchstens«, entgegnete ich und wies über die Baumwipfel nach Süden. Er dankte mir und ritt weiter. Wir haben sie nie wieder gesehen.
Etwas weiter stießen wir auf eine Gruppe von drei Frauen und zwei Kindern. Sie waren eifrig damit beschäftigt, die Hütte eines Taglöhners auszuräumen. Sie hatten sich einen kleinen Handwagen verschafft und beluden ihn mit unsauber aussehenden Bündeln und schäbigem Hausgerät. Sie waren viel zu eifrig am Werk, um uns anzusprechen, als wir vorübergingen.
Beim Bahnhof von Byfleet kamen wir aus den Fichtenbäumen heraus und fanden im Licht der Morgensonne das Land ruhig und friedlich. Wir befanden uns jetzt weit außerhalb des Bereiches des Hitzestrahls; wären nicht die große Stille und Verlassenheit in manchen Häusern gewesen, und das geschäftige Treiben und Packen in anderen, hätten wir nicht die kleine Gruppe von Soldaten gesehen, die bei der Eisenbahnbrücke stand und fortwährend nach Woking hinüberstarrte — es wäre ein Tag sehr ähnlich jedem anderen Sonntag gewesen.
Einige Bauernwagen und Karren bewegten sich ächzend auf der Straße, die nach Addlestone führt. Plötzlich bemerkten wir durch die Zauntüre eines Feldes, jenseits eines Streifens ebenen Wiesengrundes sechs Zwölfpfünder3 in gleichmäßigen Zwischenräumen aufgestellt und gegen Woking gerichtet. Die Kanoniere standen bei den Geschützen in Bereitschaft, und die Munitionswagen befanden sich in gefechtsmäßiger Entfernung. Die Leute standen da, als warteten sie auf augenblicklichen Befehl.
»Sehr gut!«, sagte ich. »Einen Schuss werden sie auf alle Fälle abbekommen.«
Der Artillerist zögerte an der Tür des Zauns.
»Ich gehe weiter!«, sagte er.
Weiterhin gegen Weybridge zu, gerade bei der Brücke, stand eine Anzahl Soldaten in weißen Arbeitsblusen und warf eine lange Schanze auf. Dahinter wieder einige Geschütze.
»Einerlei, das nenne ich Pfeil und Bogen gegen Blitze«, sagte der Artillerist. »Die haben den Feuerstrahl noch nicht gesehen.«
Die Offiziere, die nicht beschäftigt waren, standen da und blickten unverwandt über die Baumwipfel südwestwärts. Und die Mannschaft hielt alle Augenblicke mit dem Graben ein, um nach derselben Richtung zu starren.
Byfleet war in wilder Bewegung. Die Leute packten ein, und ein Trupp Husaren, einige zu Fuß, andere beritten, jagte sie durcheinander. Drei oder vier schwarze stattliche Wagen mit dem Kreuz in weißem Feld, und ein alter Stellwagen wurden nebst anderen Gefährten in der Dorfstraße beladen. Es waren Scharen von Leuten in den Straßen, die meisten von ihnen sonntägig genug gestimmt, um mit ihren besten Gewändern bekleidet zu sein. Die Soldaten hatten die größte Mühe, ihnen den Ernst ihrer Lage begreiflich zu machen. Wir sahen einen runzligen alten Gesellen mit einer riesigen Kiste und etwa zwanzig oder mehr Blumentöpfen mit Orchideen, wie er wütend einen Korporal anfuhr, der die Blumen zurücklassen wollte.
Ich blieb stehen und fasste ihn beim Arm.
»Wissen Sie, was dort drüben ist?«, fragte ich ihn und wies auf die Fichtenwipfel, welche die Marsleute verbargen.
»Was?«, sagte er und wandte sich um, »Ich habe eben auseinandergesetzt, wie kostbar diese Blumen sind.«
»Der Tod!«, schrie ich. »Der Tod kommt! Der Tod!«
Und indem ich es ihm überließ, das hinunterzuwürgen, so gut er konnte, eilte ich dem Artilleristen nach. An der Ecke blickte ich zurück. Der Soldat hatte ihn stehengelassen; aber er stand noch bei seiner Kiste und den Orchideentöpfen und starrte verständnislos über die Bäume hinweg.
Kein Mensch in Weybridge konnte uns sagen, wo das Hauptquartier aufgeschlagen war. Der ganze Ort befand sich in einem Zustand geräuschvoller Verwirrung, den ich selbst in Städten nie vorher gesehen hatte. Überall Karren und Wagen, die erstaunlichsten Zusammensetzungen von Fahrgelegenheiten und Pferdematerial. Die angesehenen Einwohner des Ortes, Männer in Golf- und Ruderkostümen, hübsch gekleidete Frauen, alle packten ein, von den Uferbummlern kräftig unterstützt. Die Kinder aufgeregt und zum größten Teil höchst entzückt über diese erstaunliche Änderung ihrer Sonntags-Erfahrungen. Und inmitten dieses Wirrwarrs stand der würdige Prediger, der mit anerkennenswertem Mut einen Frühgottesdienst abhielt. Seine Glocke klang lustig in die Aufregung hinein.
Der Artillerist und ich, wir saßen auf der Sockelstufe des Trinkbrunnens und hielten mit den mitgenommenen Essvorräten eine ganz leidliche Mahlzeit. Soldaten-Patrouillen, hier nicht Husaren, sondern weiße Grenadiere, ermahnten die Leute, nicht länger zu zögern, sondern zu fliehen oder in den Kellern ihre Zuflucht zu nehmen, sobald das Schießen beginnen werde. Als wir die Eisenbahnbrücke überschritten, sahen wir, dass ein stetig anwachsender Menschenhaufen sich in und vor dem Bahnhof angesammelt hatte, und dass der von Menschen wimmelnde Bahnsteig mit Koffern und Paketen überhäuft war. Der gewöhnliche Verkehr war unterbrochen worden.
Wir hielten uns einige Zeit in Weybridge auf. Um die Mittagsstunde befanden wir uns neben der Schleuse von Shepperton, wo der Wey und die Themse sich vereinigen. Bis dahin hatten wir einen Teil unserer Zeit damit verbracht, zwei alten Frauen beim Beladen ihres kleinen Karrens behilflich zu sein. Der Wey hat eine dreiteilige Mündung, und an dieser Stelle kann man Boote mieten oder man benützt die Fähre, die über den Fluss führt. Auf der Seite von Shepperton war ein Gasthaus mit einem Rasenplatz, und dahinter erhob sich der Turm der Kirche von Shepperton über den Bäumen.
Hier fanden wir einen erregten und lärmenden Haufen Flüchtiger versammelt. Bisher war die Flucht noch nicht zu einer Panik angewachsen; doch waren schon jetzt viel mehr Leute da, als die Boote, die hin- und herfuhren, aufnehmen konnten. Immer mehr Menschen kamen, die unter ihren schweren Lasten keuchten. Ein Ehepaar schleppte sogar eine kleine Haustür heran, auf die es seine Gerätschaften getürmt hatte. Ein Mann meinte, er würde es versuchen, vom Bahnhof von Shepperton abzufahren.
Es wurde viel hin- und hergeschrien, und ein Mann machte sogar Witze. Die Vorstellung der Leute schien die zu sein, dass die Marsleute einfach furchtbare menschliche Wesen seien, die wohl eine Stadt angreifen und plündern könnten, aber die man schließlich doch ganz gewiss vernichten werde. Jeden Augenblick spähten die Leute über den Wey hinweg nach den Wiesen in der Richtung gegen Chertsey. Dort aber war alles ruhig.
Jenseits der Themse, außer gerade dort, wo die Boote landeten, war alles still, in grellem Gegensatz zur Surrey-Seite. Die Leute, welche dort landeten, trabten alle den Feldweg hinab. Das große Fährboot hatte eben eine Fahrt zurückgelegt. Drei oder vier Soldaten standen auf dem Rasenplatz des Gasthauses, gafften und machten sich über die Flüchtlinge lustig, ohne Miene zu machen, ihnen zu helfen. Das Gasthaus war geschlossen, eine Folge der Sonntagsruhe.
»Was ist das?«, rief ein Bootsmann, und »Kusch dich, du Narr!«, herrschte ein Mann neben mir seinen kläffenden Hund an. Da war der Ton wieder, dieses Mal aus der Gegend von Chertsey, ein dumpfer Schlag — das Feuern eines Geschützes.
Die Schlacht begann. Fast unmittelbar fielen unsichtbare Batterien — unsichtbar wegen der Bäume — jenseits des Flusses zu unserer Rechten in den Chor ein, heftig feuernd — eine nach der anderen. Eine Frau kreischte. Jedermann stand bei dem plötzlichen Beginn der Schlacht wie gebannt da; sie tobte neben uns, und uns doch unsichtbar. Nichts war zu sehen, als ebene Wiesengründe, als meist unbekümmert weiter grasende Kühe, und beschnittene Silberweiden, die regungslos im warmen Sonnenlicht standen.
»Die Soldaten werden’s ihnen schon zeigen«, meinte eine Frau neben mir etwas unsicher. Ein feiner Rauch erhob sich über den Baumkronen.
Plötzlich sahen wir eine Rauchwolke in weiter Ferne flussaufwärts auffahren, ein Rauchstoß, der in die Luft schoss und dort hängen blieb. Im selben Augenblick hob sich der Boden unter unseren Füßen, und ein heftiger Zündschlag erschütterte die Luft; einige Fenster in den näher gelegenen Häusern zerschellten. Wir blieben betäubt stehen.
»Da sind sie!«, schrie ein Mann in blauem Jersey. »Da drüben! Seht ihr’s nicht? Da drüben!«
Blitzschnell, einer nach dem anderen, tauchten ein, zwei, drei, vier gepanzerte Marsleute in weiter Ferne bei den kleinen Bäumen, jenseits der ebenen Wiesen auf, die sich nach Chertsey hinziehen. Sie näherten sich eilends dem Flusse. Kleine Gestalten in Kapuzen schienen sie zuerst, die sich rollend fortbewegten, schnell wie fliegende Vögel.
Dann, in schiefer Richtung gerade auf uns zu, kam ein Fünfter. Ihre gepanzerten Leiber glitzerten in der Sonne, als sie auf die Geschütze zurasten, und im Näherkommen mit reißender Schnelligkeit wuchsen. Einer, der am weitesten entfernt, ganz links fuhr, schwang einen ungeheuren Behälter in der Luft, und der geisterhafte, furchtbare Hitzestrahl, den ich schon Freitag nachts gesehen hatte, fuhr gegen Chertsey und traf die Stadt.
Beim Anblick dieser seltsamen, schnellen, schrecklichen Geschöpfe schien die Menge am Ufer wie von Schrecken erstarrt zu sein. Man hörte weder Schreien noch Jammern. Alles blieb still. Dann ein heiseres Gemurmel, eine Bewegung von Füßen — ein Aufspritzen von Wasser. Ein Mann, der zu erschreckt war, um seine Reisetasche, die er auf der Schulter trug, fallen zu lassen, warf sich herum und stieß mich mit der Kante seiner Bürde fast zu Boden. Eine Frau stieß mit ihrer Hand nach mir und stürzte an mir vorüber. Zugleich mit der Menge wandte auch ich mich um; aber mein Entsetzen war nicht stark genug, um mich am Denken zu hindern. Der furchtbare Hitzestrahl beschäftigte meine Gedanken. Unter das Wasser flüchten! Das war das Richtige!
»Unter’s Wasser!«, schrie ich, ohne gehört zu werden.
Ich wandte mich wieder um und rannte dem herankommenden Marsmann entgegen — rannte spornstreichs die kiesige Böschung hinab und stürzte mich kopfüber ins Wasser. Andere folgten mir. Ein Boot kam zurück und die Leute sprangen heraus, als ich an ihnen vorbeistürmte. Die Steine unter meinen Füßen waren lehmig und schlüpfrig, und der Fluss war so seicht, dass ich vielleicht zwanzig Fuß weit lief und das Wasser mir nur bis zur Hüfte reichte. Dann, als der Marsmann kaum zweihundert Yard entfernt über mir auftauchte, warf ich mich nieder und tauchte unter. Das Aufklatschen des Wassers, so oft die Leute aus den Booten in den Fluss sprangen, scholl wie Donnerschläge in meinen Ohren. Auf beiden Seiten des Flusses stiegen Leute ans Land.
Aber die Marsmaschine beachtete diese hin- und herlaufende Menschenmenge nicht mehr, als etwa ein Mensch, dessen Fuß einen Ameisenhaufen zerstört hat, die Verwirrung beachtet, die er im Ameisenvolk angerichtet hat. Als ich, halb erstickt, meinen Kopf über das Wasser erhob, war die Dachhaube des Marsmannes gegen die Batterien gerichtet, die noch immer über den Fluss schossen; und als er herankam, schwang er frei in der Luft jenes Ding, das der Erzeuger des Hitzestrahls sein musste.
Im nächsten Augenblick war die Maschine am Ufer, und weit ausschreitend watete sie halb durch. Die Knie der Vorderbeine waren schon auf dem anderen Ufer, und gleich darauf erhob es sich schon zu seiner vollen Höhe, ganz in der Nähe von Shepperton. Sofort begannen die sechs Geschütze, welche jedermann unsichtbar, am rechten Ufer, hinter den Ausläufern des Dorfes verborgen waren, gleichzeitig zu feuern. Die unerwartete Nähe der Erschütterung, die Schnelligkeit, mit der der letzte Schuss dem ersten folgte, ließen meine Pulse fliegen. Das Ungeheuer erhob schon den Behälter, der den Hitzestrahl erzeugte, als die erste Bombe sechs Yard über der Dachhaube platzte.
Ich stieß einen Schrei des Erstaunens aus. Ich sah und hörte nichts von den vier anderen Marsungetümen, meine Aufmerksamkeit galt einzig und allein dem naheliegendsten Ereignis. Gleichzeitig barsten zwei weitere Bomben in der Luft dicht neben dem Körper des Riesen; er drehte die Dachhaube, gerade zur rechten Zeit, um die vierte Bombe zu erhalten, aber nicht rasch genug, um ihr auszuweichen.
Die Bombe fuhr mitten in das Gesicht des Marsmannes. Die Haube blähte sich auf, funkelte und zersprang in ein Dutzend zerschellter Stücke roten Fleisches und glitzernden Metalles.
»Getroffen!«, schrie ich; meine Stimme klang halb kreischend, halb jubelnd.
Ich hörte die antwortenden Schreie von den Leuten, die um mich herum im Wasser standen. In der augenblicklichen freudigen Stimmung hätte ich aus dem Wasser springen können.
Der enthauptete Koloss wankte wie ein betrunkener Riese. Aber er stürzte nicht. Wie durch ein Wunder gewann er sein Gleichgewicht wieder. Nichts war mehr da, das seinen Lauf zügelte und der Strahler, der den Hitzestrahl abfeuerte, stand offen da. So raste er polternd auf Shepperton los. Die lebende Intelligenz, der Marsmann in der Dachhaube, war erschlagen und seine Reste waren in die vier Winde zerstoben; das Ding war jetzt nur mehr ein wildes Gewirr von Metall, das seiner Vernichtung entgegeneilte. Ledig jeder Leitung fuhr es in gerader Richtung weiter. Es traf den Turm der Kirche von Shepperton, zerschmetterte ihn, so wie ein Kriegswidder4 ihn zerschmettert hätte, bog seitwärts ab, polterte weiter, stürzte endlich unter ungeheurem Getöse in den Fluss und entschwand meinen Blicken.
Ein heftiger Zündschlag erschütterte die Luft. Ein Gewirr von Wasser, Dampf, Schmutz und zersplittertem Metall schoss hoch auf. Als die Kamera mit dem Hitzestrahl das Wasser berührte, verwandelte sich dieses unaufhaltsam in Dampf. Im nächsten Augenblick wälzte sich eine ungeheure Woge, wie eine schlammige Springflutwelle, aber fast kochend heiß, den gekrümmten oberen Teil des Flusses entlang. Ich sah, wie Leute dem Ufer zustrebten und hörte ihre jammernden Schreie nur undeutlich neben dem Zischen und Brüllen, das den Zusammenbruch des Marsungeheuers begleitete.
Für den Augenblick beachtete ich die Hitze nicht, und vergaß die dringende Notwendigkeit der Selbsterhaltung. Ich watete durch das aufgewühlte Wasser, schob einen schwarz gekleideten Mann zur Seite, um vorwärtszukommen, bis ich endlich um die Biegung des Flusses sehen konnte. Ein halbes Dutzend verlassener Boote trieb ziellos auf dem Wellengewirr umher. Weiter unten sah ich das gestürzte Marsungetüm quer über dem Flusse liegen; der größte Teil war unter Wasser.
Dichte Wolken von Dampf strömten aus dem Wrack und durch die wie toll wirbelnden Wellen konnte ich die riesenhaften Glieder sehen, wie sie das Wasser bewegten und einen Schauer von Schlamm und Schaum aufpeitschten. Die Tentakeln griffen und schlugen um sich, wie lebende Arme, und abgesehen von der hilflosen Zwecklosigkeit dieser Bewegungen, sah das Ganze aus, als führe ein verwundetes Geschöpf mit den Wellen einen verzweifelten Kampf um sein Leben. Ungeheuere Mengen einer rötlichbraunen Flüssigkeit spritzten in lärmenden Funken aus der Maschine.
Meine Aufmerksamkeit wurde von diesem Anblick durch einen starken quiekenden Laut abgelenkt, wie ihn jene Spielzeuge von sich geben, die man in unseren Fabrikstädten Sirenen nennt. Ein Mann, der knietief neben dem Leinpfad stand, rief mich laut flüsternd an und machte mir ein Zeichen. Zurückblickend sah ich die anderen Marsleute mit Riesenschritten das Flussufer aus der Richtung von Chertsey herabeilen. Dieses Mal sprachen die Geschütze von Shepperton vergeblich.
Ich tauchte sofort unter, hielt den Atem an, bis jede Bewegung in mir erstarrte und trieb von Schmerz gequält mich unter dem Wasser weiter, so lange es mir möglich war. Das Wasser um mich war in wildem Aufruhr und wurde mit reißender Schnelligkeit heißer. Als ich einen Augenblick meinen Kopf aus dem Wasser steckte, um Atem zu schöpfen und Haare und Wasser mir aus den Augen zu wischen, stieg der Dampf wie ein wirbelnder weißer Nebel auf, der die Marsleute zuerst meinen Blicken entzog.
Der Lärm war betäubend. Dann aber sah ich sie, riesige graue Gestalten, durch den Nebel noch vergrößert. Sie waren an mir vorübergeschritten, und zwei von ihnen beugten sich gerade über die schäumenden und tobenden Trümmer ihres Kameraden.
Der Dritte und der Vierte standen neben ihnen im Wasser, einer vielleicht 200 Yard von mir entfernt, der andere nach Laleham5 blickend. Sie hielten die Behälter, die den Hitzestrahl erzeugten, hoch in der Luft, und die zischenden Strahlen fuhren nach allen Richtungen.
Die Luft war von Lärm erfüllt, von einem betäubenden und verwirrenden Zusammenwirken von Geräuschen, von dem klirrenden Getöse der Marsmaschinen, dem Krachen einstürzender Häuser, dem dumpfen Aufschlagen der Bäume, Gitter und flammenumzüngelter Scheunen, und dem Knattern und Prasseln des Feuers. Dichter schwarzer Rauch fuhr auf, und vermischte sich mit dem Dampf des Flusses; und wie der Hitzestrahl über Weybridge hinfuhr, wurde sein Einschlagen durch ein Auffahren weißglühenden Lichtes kenntlich, das sich sofort in einen rauchigen Tanz gelblicher Flammen verwandelte. Die näherliegenden Häuser waren noch unversehrt, beschattet, durch den Qualm undeutlich und düster, erwarteten sie ihr Schicksal, während das Feuer hinter ihnen auf- und niederraste.
Einen Augenblick lang, nicht länger stand ich da, brusthoch in dem fast kochenden Wasser, betäubt von meiner Lage, ohne Hoffnung zu entrinnen. Durch den Qualm hindurch konnte ich die Leute sehen, die mit mir im Flusse gewesen waren; wie kleine Frösche, die durchs Gras fliehen, wenn ein Mensch sie aufschreckt, arbeiteten sie sich durch das Schilf aus dem Wasser oder rannten in wildem Entsetzen am Leinpfad auf und ab.
Plötzlich kamen die weißen Blitze des Hitzestrahls auf mich zugeschossen. Die Häuser sanken bei ihrer Berührung zusammen und spien Flammen aus; die Bäume verwandelten sich mit Getöse in Feuersäulen. Die Blitze flackerten auf dem Leinpfad auf und ab und verzehrten die Leute, die dort planlos auf- und niederliefen. Dann näherten sie sich dem Rande des Wassers, nicht fünfzig Yard von der Stelle entfernt, auf der ich stand. Nun fuhr der Strahl über den Fluss hinüber nach Shepperton, und wo er das Wasser berührte, da schwoll es in einer kochenden, dampferfüllten Blase auf. Ich wandte mich dem Ufer zu.
Im nächsten Augenblick hatte sich die riesige, dem Siedepunkt nahe Welle über mich gestürzt. Ich schrie laut auf, und halb verbrüht, halb geblendet, taumelte ich, sinnlos vor Schmerz, durch das aufschießende, zischende Wasser dem Ufer zu. Wäre mein Fuß ausgeglitten, es wäre das Ende gewesen. Hilflos fiel ich, vor den Augen der Marsleute, auf die breite, nackte, kiesige Sandbank, die als Wahrzeichen der Vereinigung von Wey und Themse sich dort hinzieht. Ich erwartete nichts als den Tod.
Ich erinnere mich dunkel, wie ein Marsmann den Fuß seiner Maschine etwa zwanzig Yard von meinem Kopf entfernt niederstellte, wie dieser tief in den lockeren Kiessand einsank, wie der Kies hierhin und dorthin stob, wie jener Fuß wieder erhoben wurde. Ich erinnere mich der Augenblicke banger Erwartung, und dann, wie die vier die Überbleibsel ihres Kameraden forttrugen, erst ganz deutlich sichtbar, gleich darauf verschwommen in einem Rauchschleier, endlich, wie es mir schien, auf einer unermesslichen Fläche von Fluss und Wiese in unendlicher Entfernung gänzlich verschwindend. Und nun kam es mir, nur allmählich, zum Bewusstsein, dass ich wie durch ein Wunder entkommen war.
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