– Sollte ich mich getäuscht haben, lieber Meister? fragte der Graf ein wenig irre geworden: wäre die Clorinde nichts weiter als eine gemeine Schönheit?
– Und wenn nun meine Sirene, meine Göttin, mein Erzengel, wie ihr sie zu nennen beliebt, nichts weniger als schön wäre? versetzte der Maestro boshaft.
– Wenn sie missgestaltet wäre, so will ich euch bitten, sie mir niemals zu zeigen; denn mein schöner Traum wäre zu grausam zerstört. Wäre sie aber bloß hässlich, so wäre ich imstande, sie immer noch anzubeten; nur für das Theater würde ich sie dann nicht engagieren, denn Talent ohne Schönheit ist nicht selten für ein Weib ein Unglück, ein Kampf, eine Marter. Wonach seht ihr, Maestro, und weshalb bleibt ihr stehen?
– Hier ist der Platz, wo die Gondeln halten, und es ist keine da. Aber ihr, Graf, worauf heftet ihr euere Blicke?
– Ich sehe nur, ob nicht der Bengel da, der auf den Stufen der Anlände neben einem kleinen, ziemlich hässlichen Mädchen sitzt, mein Schützling Anzoleto ist, wahrhaftig der aufgeweckteste und hübscheste von allen unseren Gassenbuben. Seht ihn euch an, lieber Meister; das ist etwas für euch so gut wie für mich. Dieser Junge hat die schönste Tenorstimme, die in Venedig zu finden ist, und eine verzweifelte Liebe zur Musik und ganz unglaubliche Fähigkeiten. Ich wollte euch schon lange von ihm erzählen und euch bitten, ihm Stunden zu geben. Dieser ist es, auf den ich wahrhaftig die Hoffnung meines Theaters baue und er wird mich, denke ich, in einigen Jahren für das was ich auf ihn wende, reich belohnen. Heda, Zoto! komm her, mein Kind, ich will dich dem berühmten Meister Porpora vorstellen.
Anzoleto’s nackte Füße spielten im Wasser, während er damit beschäftigt war, Muscheln von jener zierlichen Ar, die der Venetianer poetisch fiori de mare nennt, vermittelst einer großen Nadel zu durchbohren. Als ihn der Graf rief, sprang er auf. Er trug nichts auf dem Leibe als ein recht abgenutztes Beinkleid und ein ziemlich feines, aber sehr zerrissenes Hemd, welches seine weißen und gleich denen eines antiken Bacchusknaben modelierten Schultern durchblicken ließ. Seine Schönheit war in der Tat diejenige, mit welcher der griechische Künstler einen jungen Faun ausgestattet haben würde, und seine Gesichtsbildung zeigte das an jenen Schöpfungen der heidnischen Plastik so häufig uns begegnende, ganz eigentümliche Gemisch von träumerischer Schwermut und spöttischer Unbesorgtheit. Sein krauses aber weiches Haar, hellblond und von der Sonne nur ein wenig gebräunt, umgab in tausend dichten, kurzen Ringellöckchen seinen Alabasterhals. Alle seine Züge waren vollkommen schön; aber etwas allzu Keckes lag in dem durchdringenden Blick seiner pechschwarzen Augen, was dem Professor nicht gefiel. Er warf alle seine Muscheln in den Schoß des Mädchens welches neben ihm saß, und während dieses, ohne sich stören zu lassen, fortfuhr sie mit kleinen Goldperlen gemischt aufzureihen, trat er zu Zustiniani, dem er nach Landessitte die Hand küsste.
– In der Tat ein hübscher Junge, sagte der Professor, ihm die Backe klopfend; aber er scheint sich mit Spielen zu belustigen, die doch zu kindisch für sein Alter sind; denn er ist wohl ein achtzehn Jahre alt, nicht so?
– Neunzehn, Sior Profesor! entgegnete Anzoleto in seinem venetianischen Dialekte; wenn ich mich aber mit den Muscheln belustige, so tu’ ich das nur um der kleinen Consuelo zu helfen, welche Halsketten macht.
– Consuelo, sagte der Meister, indem er mit dem Grafen und Anzoleto zu seiner Schülerin trat, ich hätte nicht gedacht, dass du so putzsüchtig wärest.
– O nein, ich mache das nicht für mich, Herr Professor! entgegnete Consuelo, indem sie sich nur halb erhob, aus Vorsicht, damit die Muscheln, die sie in der Schürze hatte, nicht ins Wasser fielen; ich mache das zum Handel, und um Reis und Mais einzukaufen.
– Sie ist arm, und sie ernährt ihre Mutter, sagte Porpora. Höre, Consuelo, wenn ihr in Verlegenheit seid, deine Mutter und du, so musst du zu mir kommen, aber zu betteln verbiete ich dir, hörst du wohl?
– O Sie brauchen ihr das nicht zu verbieten, Sior Profesor, fiel ihm Anzoleto lebhaft in die Rede, sie würde es auch von selbst nicht tun, und ich, ich würde es nicht leiden.
– Du! du hast ja auch nichts, sagte der Graf.
– Nichts, als Ihre Wohltaten, gnädigster Herr! aber wir teilen, die Kleine und ich.
– Sie ist also eine Verwandte; von dir?
– Nein, eine Fremde, es ist Consuelo.
– Consuelo? Wunderlicher Name! sagte der Graf.
– Ein schöner Name, Ew. Gnaden, fiel Anzoleto ein; er bedeutet Trost.
– Gut; sie ist, wie es scheint, deine Freundin?
– Meine Braut ist sie, Herr!
– Schon? Sehet da, diese Kinder denken schon an die Hochzeit.
– Ja wir machen an dem Tage Hochzeit wo Sie mein Engagement beim Theater San Samuel ausfertigen werden, gnädiger Herr!
– In diesem Falle werdet ihr noch lange warten, Kinderchen!
– Oh, wir wollen schon warten, sagte Consuelo mit der heiteren Ruhe der Unschuld.
Der Graf und der Maestro ergötzten sich einige Augenblicke an der Einfalt und an den Antworten dieses jungen Paares; nachdem sie alsdann noch dem Anzoleto die Zeit bestimmt hatten, wann er nächsten Tages zu dem Professor kommen sollte; um seine Stimme prüfen zu lassen, entfernten sie sich und überließen die Kinder ihrem wichtigen Geschäfte.
– Wie gefällt euch dieses kleine Mädchen? sagte der Professor zu Zustiniani.
– Ich hatte sie vor einem Weilchen schon gesehen, und ich finde sie hässlich genug, um das Sprichwort zu rechtfertigen: Einem achtzehnjährigen Blute dünkt jedes Weib schön.
– Recht so, antwortete der Professor, nunmehr kann ich euch sagen, wer eure göttliche Sängerin, eure Sirene, eure geheimnisvolle Schönheit ist – Consuelo!
– Dieses dieses unsaubere Ding, dieser schwarze, magere Sprengsel? Nicht möglich, Maestro.
– Nichts desto weniger wahr, Herr Graf! Sagt, würde sie nicht eine höchst verführerische Prima Donna abgeben?
Der Graf stand still, schaute sich um, betrachtete Consuelo noch einmal von fern, und schlug dann in komischer Verzweiflung die Hände zusammen. Gerechter Himmel! rief er aus, kannst du dich so vergreifen, und das Feuer des Genius in ein so schlecht gemeißeltes Gefäße gießen!
– Also ihr verzichtet auf eure strafbaren Pläne? sagte der Professor.
– Ganz gewiss.
– Versprecht ihr mir das? fügte Porpora hinzu.
– Noch mehr, ich schwöre es euch, entgegnete der Graf.
Aufgeschossen unter dem italienischen Himmel, erzogen von dem Zufall wie ein Vogel am Strande, arm, verwaist, verlassen, und doch glücklich in der Gegenwart, und voll Vertrauen in seine Zukunft, wie ein Kind der Liebe, was er ohne Zweifel war, hatte Anzoleto, dieser hübsche Junge von neunzehn Jahren, an der kleinen Consuelo, der zur Seite er auf dem Pflaster Venedigs in vollster Freiheit seine Tage verbrachte, wohl schwerlich seine erste Liebschaft. In die leichten Freuden eingeweiht, die sich ihm mehr als einmal dargeboten, würde er vielleicht schon entkräftet und verderbt gewesen sein, hätte er in unserem traurigen Klima gelebt, oder wäre er minder reich von der Natur begabt gewesen. Allein bei früher Entwicklung und einer kräftigen Anlage zu einer ausdauernden Männlichkeit, hatte er sein Herz rein und seine Sinnlichkeit unter der Herrschaft seines Willens erhalten. Der Zufall hatte ihn mit der kleinen Spanierin zusammengeführt, vor den Madonnenbildern, wo sie ihre Andacht absang; aus Lust, seine Stimme zu üben, hatte er mit ihr beim Sternenlichte ganze Abende hindurch gesungen. Dann trafen sie einander auf dem Sande des Lido wo sie Muscheln auflasen, er um sie zu essen, sie um Rosenkränze und Schmuck daraus zu machen. Dann wieder fanden sie sich in der Kirche, wo sie von Herzen zu dem guten Gotte betete, er mit allen Augen nach den schönen Damen schaute. Und bei allen diesen Begegnungen war ihm Consuelo so gut, so lieb, so freundlich, so fröhlich vorgekommen, dass er ihr Freund und ihr unzertrennlicher Gefährte geworden war, er wusste selbst nicht recht, warum und wie. Anzoleto kannte von der Liebe noch nichts als das Vergnügen. Er empfand Freundschaft für Consuelo, und einem Volke und Lande angehörend, wo mehr die Leidenschaften als die Zuneigungen herrschen, wusste er dieser Freundschaft keinen anderen Namen als den der Liebe zu geben. Consuelo ließ sich diese Redensart gefallen, nachdem sie dem Anzoleto folgenden Einwand gemacht hatte: »Wenn du sagst, dass du mein Liebhaber bist, so wirst du mich also heiraten?« worauf er ihr geantwortet hatte: »Ei freilich, wenn dir’s recht ist, so heiraten wir einander.« Dies war demnach von Augenblick an eine abgemachte Sache. Vielleicht war es von Seiten Anzoleto’s nur ein Spiel, während Consuelo mit allem Vertrauen der Welt daran glaubte. Gewiss ist soviel, dass sein junges Herz schon jene streitenden Gefühle und jene verworrenen Regungen in sich spürte, die übersättigten Menschen das Innere bestürmen und zerreißen.
Heftigen Begierden Preis gegeben, vergnügungssüchtig, nur das liebend was ihn glücklich machte, aber alles was sich seinen Freuden entgegenstellte hassend und fliehend, durch und durch eine Künstlernatur d. h. die das Leben mit einer erschreckenden Heftigkeit sucht und schmeckt, fand er, dass seine Liebsten ihm von Passionen die ihn in der Tat nicht tief ergriffen hatten, alle Leiden und Gefahren dennoch auferlegten. Er besuchte sie nun wohl von Zeit zu Zeit, wann ihn sein Verlangen trieb, ward aber immer wieder abgestoßen durch Sättigung und Unlust. Und als dieser seltsame Knabe so seine Seelenkraft ideallos und unwürdig vergeudet hatte, empfand er das Bedürfnis eines sanften Umgangs und eines keuschen, heiteren Ergusses. Er hätte schon wie Jean Jacques sagen können: »So wahr ist es, dass das was uns am meisten an die Frauen fesselt, weniger die Wollust ist, als eine gewisse Anmutigkeit des Lebens an ihrer Seite.«
Ohne nun sich Rechenschaft zu geben über das was ihn zu Consuelo hinzog, – für das Schöne hatte er noch keinen Sinn und unterschied nicht, ob sie hässlich oder hübsch war, – Kind genug um sich mit ihr an Spielereien unter seinem Alter zu vergnügen, Mann genug, um ihre vierzehn Jahre aufs gewissenhafteste zu achten, führte er mit ihr, auf offener Gasse, auf den Marmorfliesen und den Kanälen Venedigs, ein ebenso glückliches, ebenso reines, ebenso verborgenes und fast ebenso poetisches Leben wie Paul und Virginie unter den Pompelmusen ihrer Wildnis. Sie hatten eine größere und gefährlichere Freiheit als diese Kinder, keine Familie, keine wachsamen, zärtlichen Mütter die sie zur Tugend erziehen konnten, keinen treuen Diener der sie abends gesucht und heimgeleitet hätte, nicht einmal einen Hund, um sie vor Gefahr zu warnen; aber sie taten dennoch keinerlei Fall.
Sie kreuzten auf den Lagunen in offener Barke, zu jeder Stunde und bei jedem Wetter, ohne Ruder, ohne Steuermann; sie streiften auf den Morästen ohne Führer, ohne Uhr und unbesorgt um die kehrende Flut; sie sangen vor den geschmückten Kapellen unter der Vigne an den Straßenecken, ohne an die späte Tagesstunde zu denken und brauchten bis an den Morgen kein anderes Bett als die weißen Steinplatten die von der Tageshitze noch warm waren. Sie standen vor dem Pulcinell-Theater still und folgten mit gieriger Aufmerksamkeit dem fantastischen Schauspiele von der schönen Corisanda, der Marionettenkönigin; es fiel ihnen nicht ein, dass sie kein Frühstück gehabt hatten, und wie wenig Aussicht war, ein Abendessen zu erhalten. Sie überließen sich den ungezügelten Freuden des Carneval, nicht weiter verkleidet und geputzt, als er mit seiner umgekehrten Jacke und sie mit einer großen alten Bandschleife über dem Ohre. Auf dem Geländer einer Brücke oder auf den Stufen eines Pallastes, hielten sie köstliche Mahlzeiten von frutti di mare,1 rohen Fenchelstümpfen oder Citronenschalen.
Genug, sie führten ein fröhliches und freies Leben und ihre Liebkosungen waren nicht gefährlicher, ihre Gefühle nicht verliebter als es zwischen gesitteten Kindern gleichen Alters und Geschlechtes der Fall gewesen wäre. Tage, Jahre flossen hin; Anzoleto hatte andere Liebsten, Consuelo ahnte nicht einmal dass es noch eine andere Art Liebe gäbe als diese, deren Gegenstand sie war. Sie trat in die Mädchenjahre und empfand keine Nötigung, sich zurückhaltender gegen ihren Bräutigam zu betragen; er sah sie größer werden und sich verwandeln und empfand keine Ungeduld und wünschte keinen Wechsel dieser unbewölkten, offenen, unsträflichen Vertraulichkeit.
Vier Jahre waren vergangen, seitdem der Professor Porpora und der Graf Zustiniani einander ihre »kleinen Musiker« vorgestellt hatten. Der Graf hatte seitdem nicht mehr an die junge Kirchensängerin gedacht und der Professor hatte nicht minder den schönen Anzoleto vergessen, an dem er damals bei einer ersten Prüfung nichts von dem gefunden hatte, was er bei seinen Zöglingen voraussetzte, nämlich vor allem eine ernste und geduldige Auffassungsgabe, sodann eine an Selbstvernichtung gränzende Demut des Schülers vor dem Lehrer, und endlich den völligen Mangel jeder vorgängigen musikalischen Unterweisung.
»Redet mir niemals«, sagte er, »von einem Schüler, dessen Kopf sich meinem Willen nicht wie eine unbeschriebene Tafel darbietet, wie ein reines Wachs, das von mir den ersten Eindruck zu empfangen hat. Ich habe nicht Zeit, meinem Schüler ein Jahr zum Verlernen zu schenken, bevor ich zu lehren anfangen kann. Soll ich auf eine Schieferplatte schreiben, so bringet sie mir rein; und damit nicht genug, bringet sie mir auch gut. Ist sie zu stark, so wird sie nicht empfänglich sein, ist sie zu schwach, so wird sie mir unter der Hand zerbrechen.«
Kurz, er gestand zwar dem jungen Anzoleto ausgezeichnete Mittel zu, erklärte aber beim Schlusse der ersten Stunde dem Grafen etwas verdrießlich, und mit einer ironischen Anspruchslosigkeit, sein Unterricht sei nicht für einen bereits so weit vorgerückten Schüler, und um – »die natürlichen Fortschritte und die unwiderstehliche Entwicklung dieser magnifiquen Anlage zu erschweren und zu hemmen« sei der erste beste Lehrer gut genug.
Der Graf schickte seinen Schützling zu dem Professor Mellifiore, welcher von der Roulade bis zur Kadenz und von dem Triller bis zum Gruppetto seinen glänzenden Fähigkeiten die vollständigste Entwicklung gab und ihn so weit brachte, dass, als er 23 Jahre alt sich in dem Salon des Grafen hören ließ, jedermann ihn fähig sprach, im Theater San Samuel mit großem Erfolg in den ersten Partien aufzutreten.
Eines Abends wurde nämlich die ganze kunstliebende Noblesse und was nur von Künstlern in Venedig einiges Renommé genoss, zu einer letzten und entscheidenden Probe eingeladen. Zum ersten Male in seinem Leben schälte sich Anzoleto aus seiner gemeinen Tracht, zog eine Atlasweste und ein schwarzes Staatskleid an, ließ seine schönen Haare frisieren und pudern, steckte seine Füße in Schnallenschuhe, gab sich eine feierliche Miene und schlich auf den Zehenspitzen an ein Klavier, wo er, bei dem Scheine von tausend Wachskerzen und angegafft von zwei- bis dreihundert Personen, erst mit den Augen dem Ritornelle folgte, sodann seine Lungen aufblies und sich mit seiner Dreistigkeit, mit seinem Ehrgeiz und mit seinem hohen Brust-C in die gefährliche Laufbahn schwang, auf welcher keine Jury, kein Kampfrichter, sondern ein ganzes Publikum in der einen Hand die Siegespalme, in der anderen das Pfeifchen hält.
Ob Anzoleto innerlich bewegt war, ist keine Frage; er ließ jedoch sehr wenig davon blicken, und nicht sobald hatten seine schwarzen Augen, welche verstohlen die der Frauen befragten, den geheimen Beifall, der sich einem so schönen Jünglinge selten versagt, erraten, nicht sobald hatten die Kunstliebhaber umher, überrascht von der Gewalt seiner klangreichen Stimme und von der Leichtigkeit seiner Vokalisation, ein beifälliges Gemurmel hören lassen, als Freude und Hoffnung sein ganzes Wesen durchglüheten. Jetzt zum ersten Male in seinem Leben fühlte Anzoleto, der bis dahin nur eine gewöhnliche Behandlung und gewöhnlichen Unterricht erfahren hatte, dass er kein gewöhnlicher Mensch sei und, von dem Triumphe, nach dem er dürstete und den er empfand, hingerissen, sang er mit einer Kraft, einer Eigentümlichkeit und einem Feuer zum Erstaunen.
Sein Geschmack war allerdings nicht immer rein und sein Vortrag nicht in allen Teilen des Stückes tadellos: aber er wusste sich stets durch kühne Würfe, durch Blitze der Auffassung und Schwung der Begeisterung wieder zu heben. Er verfehlte manche Effecte, welche der Komponist beabsichtigt hatte, aber er fand andere, an welche noch niemand gedacht, weder der Komponist, der sie vorgezeichnet, noch der Lehrer, der sie erläutert, noch einer der Virtuosen, die sie früher ausgeführt hatten. Diese Kühnheiten ergriffen und entzückten alle Welt. Zehn Ungeschicklichkeiten verzieh man ihm für eine Neuheit, zehn Verstöße gegen die Methode für eine eigen gefühlte Stelle. So wahr ist es, dass in der Kunst das kleinste Aufleuchten des Genies, der kleinste Anlauf zu neuen Eroberungen die Menschen mehr blendet als alle Hilfsmittel und alle Klarheit der Einsicht, die sich in den Schranken des Gewohnten hält.
Niemand gab sich vielleicht Rechenschaft von den Ursachen und niemand entzog sich den Wirkungen dieses Enthusiasmus. Die Corilla hatte die Unterhaltung mit einer großen Arie eröffnet, welche sie trefflich sang und welche lebhaft beklatscht wurde; der Erfolg des jungen Debütanten löschte nun aber den ihrigen so ganz aus, dass sie darüber im Innern wütend war. Jedoch als Anzoleto, mit Lobsprüchen und Liebkosungen überhäuft, wieder an das Klavier trat, wo sie saß, und zu ihr niedergebeugt mit einer Mischung von Unterwürfigkeit und Kühnheit sagte: »Und Sie, Königin des Gesanges, Königin der Schönheit, haben Sie nicht einen Blick der Aufmunterung für den armen Unglücklichem der Sie fürchtet und Sie anbetet?« da betrachtete die Prima Donna, erstaunt über eine solche Dreistigkeit, dieses schöne Gesicht in der Nähe, welches sie zuvor keines Blickes gewürdigt hatte; denn welche eitle und sieggewohnte Frau würde ein dunkles armes Kind ihrer Aufmerksamkeit wert halten? Jetzt endlich beachtete sie ihn; seine Schönheit überraschte sie, sein feuriges Auge drang in sie ein und ihrerseits besiegt, bezaubert, ließ sie auf ihn einen langen Glutblick fallen, gleichsam ein Siegel auf das Diplom seiner Berühmtheit gedrückt.
An diesem merkwürdigen Abend hatte Anzoleto sein Publikum beherrscht und seinen gefährlichsten Feind entwaffnet; denn die schöne Sängerin war nicht bloß Königin auf den Bretern, sondern auch in der Administration und in dem Kabinet des Grafen Zustiniani.