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Читать книгу: «Das Schweigen im Walde», страница 13

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Zwölftes Kapitel

Ein Glück war's, daß Loisli am Morgen frischen Vorrat an Butter und Ehrwalder Weizenbrot gebracht hatte. Sonst würde sich das kleine Seehaus als zu arm erwiesen haben für den gesunden Appetit der beiden Jäger, die seit dem Frühstück um drei Uhr morgens keinen Bissen mehr genossen hatten. So wurden, wie Ettingen versicherte, »die Wölfe allmählich zahm«. Je toller es draußen zuging, desto fröhlicher steigerte sich die Laune am Tisch. Die wohlige Stimmung inmitten des rumorenden Ungewitters leuchtete von allen Gesichtern, am hellsten aus den Augen des Fürsten. In jedem seiner Blicke war dankbares Wohlgefallen an der stillen, aufmerksamen Art, mit welcher Lo ihren Gast bediente und für ihn sorgte. »Wer das immer so haben könnte«, sagte er, »nicht nur für eine Stunde, für immer: sich in allem Sturm, den das Leben bringt, so sicher und froh zu fühlen, wie wir da sitzen, während draußen alles drunter und drüber geht!«

»Das können S' haben, Duhrlaucht!« meinte Pepperl lachend, während er zum fünftenmal seine Tasse füllte. »Bleiben S' da bei uns und verangaschieren S' d' Fräuln Petri als Wirtschafterin ins Jagdhaus! Da kriegen wir's gut.«

Heiter ging Lo auf den Scherz des Jägers ein. Gustl schien die Sache ernst zu nehmen und betrachtete beklommen bald die Schwester, bald den Fürsten, der keinen Blick von Lo verwandte und jedes Wort von ihr wie eine neue Freude zu empfangen schien.

Auch Pepperl war nachdenklich geworden. Das »Jagdhaus« mochte ihn an ein anderes Gebäude erinnert haben, das nicht weit davon lag. Mit seufzendem »Vergeltsgott!« zog er, als Ettingen die Servierte faltete und Lo den Tisch zu räumen begann, die Truhe an ihre Stelle zurück, setzte sich wieder und lehnte sich mit gekreuzten Armen an die Hüttenwand. Und Gustl, den das Turnen auf seinem Schaukelstuhl ermüdet hatte, trug die beiden Scheite zum Herd und schmiegte sich in die Ecke des Diwans.

So blieben Ettingen und Lo allein am Tisch, überschimmert vom Lichtkreis der Lampe, während alle Ecken und Wände der Hüttenstube in tiefem Schatten lagen. Und sie allein nur sprachen. Ettingen fragte, und Lo gab Antwort.

Wie einer, der am Weg eine seltene Blume findet, an ihrer Schönheit sich nicht satt zu schauen vermag und die Sehnsucht empfindet, das liebliche Wunder dieser Farben ganz zu verstehen – so fühlte sich Ettingen diesem Mädchen gegenüber. Er fragte und fragte, als sollte für ihn auf dem Grund dieser klaren Menschenseele kein Licht und keine Regung verborgen bleiben. Wie mußte er staunen über die seltene Bildung dieses »Dorfkindes«! Und wie ruhig und einfach sie das Leben ansah! Alle schreienden Fragen der menschlichen Daseinsnot waren für sie gelöst durch ihre wunschlose Zufriedenheit, durch die Herzensgüte, mit der sie alles umschloß, durch ihren Glauben an das Schöne und an die zweckvolle Notwendigkeit alles Bestehenden, auch des Schmerzes. »Leben und leiden, das klingt zusammen und läßt sich nicht trennen. Und könnten wir uns denn eine Freude denken, wenn wir den Schmerz nicht kennen würden? Wir lieben doch die Sonne nur, weil sie wiederkommt, wenn sie gesunken ist.«

Wohl mußte Ettingen bei seiner größeren Lebenskenntnis den Kopf zu manchem Gedanken schütteln, den sie aussprach. Aber aus allem, was sie sagte, hauchte ihn eine Wärme an, die sein ganzes Wesen durchdrang. »Wie Sie von Welt und Menschen denken, liebes Fräulein, das ist so gut, so schön! Aber die Wirklichkeit des Lebens ist rauh und zwecklos häßlich, ist grundverschieden von dem abgeklärten Bild, mit dem Ihre Seele alles widerspiegelt. Doch ich bin der letzte, der Sie in Ihrem Glauben irremachen könnte! Und wer weiß, vielleicht haben Sie recht – und wir Allerweltsklugen sind die Toren, die alle Weisheit für sich haben, aber auch allen Schaden. Schließlich ist Wahrheit doch wohl etwas anderes als Wirklichkeit. Wahrheit, die sich greifen läßt und für alle gilt? Die gibt's nicht. Wenn Wahrheit nicht in uns ist, dann ist sie nirgends. Nicht die greifbare Form der Dinge macht ihr Bild, sondern der Blick, mit dem wir sie sehen, die Höhe oder Tiefe, aus der wir sie betrachten. Und wie wir sie sehen, so sind sie für uns, und so sind wir selbst. Das Leben ist gut für Sie, weil Sie gut sind. Sie stehen hoch, und Ihr Blick ist hell. Wer so sehen könnte wie Sie!«

»Liegt das nicht im Willen eines jeden?«

»Meinen Sie?« Er schwieg und lächelte, als hätte er zu sich gesagt: »Ich will's versuchen.«

Da hörten sie einen schweren Atemzug und blickten auf.

»Ach Gott! Der arme Junge!«

Gustl war eingeschlafen. In unbequemer Lage hing ihm der Kopf über die Lehne des Diwans.

Während Lo zum Bruder hinüberging, riß auch Pepperl die Augen auf, der ebenfalls ein Nickerchen gemacht hatte und nun erwachte, weil die Stimmen so plötzlich schwiegen.

Die Ermüdung der beiden mahnte Ettingen an die Zeit, an die er seit dem Eintritt in die Hütte mit keinem Gedanken gedacht hatte. Er sah nach der Uhr und sprang erschrocken auf. »Ach, du lieber Himmel! Zwölf Uhr! Fräulein! Ich habe Sie um die halbe Nacht gebracht. Wie soll ich meine Unbescheidenheit entschuldigen? Ich kann es nur, wenn ich Sie zur Mitschuldigen mache. Der Gast ist geblieben, weil ihn die Wirtin hielt. Jetzt aber fort! Auf, Pepperl! Wir gehen.«

Gehorsam erhob sich der Jäger. Aber Lo sagte: »Sie können und dürfen nicht gehen. Das Gewitter scheint ja vorüber zu sein, man hört keinen Donner mehr. Aber dieser Regen, wie das gießt! Und jetzt, in der Nacht? Dieser Weg! Nein. Ich erlaube nicht, daß Sie gehen.«

»Duhrlaucht, 's Fräuln hat recht!« fiel Pepperl ein und öffnete die Tür. Ein sausender Luftstrom fuhr in die Hütte und peitschte den Regen über die Schwelle. »Da schauen S' aussi, wie's tut! Und so was von Finsternis! Da könnten wir den Hals riskieren. Na na, die Verantwortigung übernimm ich net. Jetzt müssen wir bleiben. 's Fräuln wird net harb sein drum. Gelten S', na?«

Lo reichte dem Fürsten die Hand. »Wenn Sie gingen, würden Sie mir eine Sorge machen. Ich bitte Sie, zu bleiben.«

Ihre Hand festhaltend, ließ Ettingen sich auf den Sessel nieder. »Gut! Ich weiche der Majorität. Aber Gewissensbisse mach ich mir doch! Und eine Bedingung stell ich: der arme Junge ist müd, er soll sich niederlegen. Nicht wahr, Gustl, vor mir genierst du dich nicht?«

»Nein!« sagte der Junge mit seiner schlaftrunkenen Stimme. Er wartete nur, bis die Schwester ihm zunickte, dann zog er das Jöpplein aus und legte es sorgsam gefaltet über die Diwanlehne. In den Strümpfen und mitsamt dem Lederhöschen schlüpfte er unter die Decke, in deren Schutz er sich vollends entkleidete. »Lo, jetzt lieg ich!« Das sollte heißen: Komm und sag mir gute Nacht! Als fünfjähriger Bub hatte er sich's angewöhnt, vor dem Einschlafen die Schwester so zu rufen. Daran änderte die Tatsache nichts, daß er im letzten Semester schon angefangen hatte, den Cäsar zu lesen.

Sie ging zu ihm, und als er sie mit beiden Armen um den Hals nahm, küßte sie ihn auf die Wange und sagte ihm leis ins Ohr: »Denk an den Vater!«

Ettingen betrachtete schweigend die Geschwister, und ein tiefer Atemzug hob seine Brust, als wäre ein Wunsch in ihm erwacht, den er fühlte, ohne ihn zu verstehen. Während Lo zum Tisch zurückkehrte und eine grüne Blende um den Lampenschirm hängte, blickte er lächelnd zu ihr auf: »Wie gut der kleine Mann da drüben jetzt schlafen wird!«

Nun saßen sie wieder am Tisch. Damit der Junge den Schlummer leichter finden möchte, plauderten sie mit gedämpften Stimmen. Das machte auch Pepperl sich zunutze und schloß die Augen wieder. Nur die beiden am Tisch empfanden keine Müdigkeit, kein Verlangen nach Schlaf. Das leise Sprechen beim eintönigen Rauschen des Regens gab jedem Wort, das sie sagten, einen heimlichen, tieferen Sinn und umwob die Plaudernden mit einer Stimmung, die sie genossen, ohne ihr nachzufragen. Manchmal, nach einem ernsten Wort, verstummte ihr Geplauder. Dann saßen sie sich eine Weile schweigend gegenüber, als hätten ihre nachklingenden Gedanken an diesem Worte noch zu raten. Nach solch einer Stille sagte Ettingen unvermittelt: »Die ganze Zeit schon, während ich plaudere mit Ihnen, bei jedem Wort, das Sie sprechen, hab ich immer eine seltsame Empfindung.«

»Welche?«

»Daß wir nicht allein wären, hier am Tisch! Daß noch ein Dritter bei uns wäre. Ihr Vater!«

Wie es aufleuchtete in ihren Augen! Das verriet ihm, mit welcher Sehnsucht sie darauf gewartet hatte, daß er von ihrem Vater sprechen würde.

»Bei vielem, was ich von Ihnen hörte, hab ich mir immer denken müssen: Er ist es, der zu mir redet. Oft überkam mich die Täuschung, als vernähme ich eine andere Stimme, nicht die Ihrige, seine Stimme. Ich stelle mir vor, daß er ein tiefes, klangvolles Organ hatte – eine von jenen Stimmen, nach denen man sich umsieht, wenn man sie hört.«

»Nein!« Sie lächelte. »Papa hatte eine ganz unauffällige Stimme, nicht stark und beinahe herb, fast immer ein wenig erregt und etwas ungeduldig. Aber wie weich und zärtlich konnte diese Stimme klingen!« Träumend blickte Lo vor sich hin. Ein Schatten tiefer Wehmut glitt über ihre Züge. Dann atmete sie auf und sagte leis: »Das kommt nicht wieder. Da hilft kein Erinnern.«

Um die schmerzliche Stimmung zu verscheuchen, die sie befallen hatte, begann er von seinem Besuch in ihrem Haus zu sprechen und schilderte ihr den Eindruck, den er von jedem einzelnen Bild empfangen hatte. Lange hörte sie ihm schweigend zu, keinen Blick von seinen Lippen verwendend. Dann sprach sie manchmal ein paar flüsternde Worte dazwischen, um seine nicht völlig zutreffende Auffassung eines Bildes richtigzustellen, oder um zu sagen, aus welchem zufälligen, scheinbar unbedeutenden Erlebnis ein besonders wirksames Motiv hervorgewachsen wäre. So kam sie allmählich ins Erzählen und schilderte das Schicksal ihres Vaters, die Anfänge seiner Kunst, das zähe Streben des verwaisten Bauernsohnes, der zum Priester bestimmt war und aus dem Alumnenseminar hinübersprang auf die Akademie. Sie schilderte das stille Glück seiner Liebe, als er in der Erzieherin eines vornehmen Hauses, in dem er Zeichenstunden gab, seine Frau gefunden hatte, schilderte seinen häuslichen Sorgenkampf, seine Verzweiflung über das lachende Unverständnis, dem er mit seinem eigenartigen Schaffen begegnete, seine Verbitterung und die Flucht aus der Stadt. Noch ausführlicher erzählte sie, was sie selbst, als heranwachsendes Kind, mit dem Vater erlebt hatte: sein Aufatmen im Verkehr mit der Natur, die schönen Traumwochen am Sebensee, die Liebe zu den Seinen und die Freude an seinem Haus, den Anfang jener handwerksmäßigen Schilderei, die er im Zorn der Verbitterung begann, um sie weiterzutreiben mit heiterer Ironie, fast mit einer Art von Freude an ihr, weil sie anderen Freude machte. Sie erzählte von seiner Rückkehr zu neuem, reiferem Schaffen, von der Ängstlichkeit, mit der er die entstandenen Werke in seinem Haus verschloß, damit sie keinem »Kunstaugur« und »Bildungstiger« vor Augen kämen, von seinem ganzen Leben bis zu jenem letzten Tag nach dem Wolkenbruch, bis zu seinem lächelnden Sterben und seinem letzten Wort: »Meine Blumen!«

Stunde um Stunde verging. Und die beiden merkten nicht, daß über dem kleinen Dach das Rauschen des Regens immer leiser wurde und daß durch die Ritzen der Fensterläden schon ein mattes Grau des erwachenden Morgens hereinschimmerte.

»So starb er.«

Lange saßen sie schweigend, bis Ettingen ihre Hand nahm. »Ich kann es Ihnen nachfühlen. Wie müssen Sie ihn schwer verloren haben!«

»Ja!«

Sie sagte sonst kein anderes Wort. Erst nach einer Weile konnte sie wieder sprechen. »Das Lächeln, mit dem er starb, der leichte Seufzer, mit dem er die Augen schloß – das war mein Trost. Und das hat mir hinübergeholfen über das Schlimmste, so daß ich die Mutter und den Bruder stützen konnte. Er hat mich doch gelehrt, das Leben liebzuhaben, aber auch den Tod nicht zu fürchten, nichts anderes in ihm zu sehen, als einen Wandel der Form und eine schöne Ruhe, in die kein Schrei und Weh des Lebens mehr hineinklingt. Und weil er starb, deshalb hat er uns nicht verlassen. Immer seh ich ihn, immer ist er bei mir. Als ob er noch lebte, so seh ich ihn vor mir stehen. Nur so still!« Ihre Stimme schwankte. »So schweigsam! Wie ich auch mein Erinnern sammle – seine Stimme hör ich nicht mehr, auch nicht im Traum. Und wenn ich sie zu hören meine, klingt sie anders. Nicht mehr so, wie sie war. Das ist eine Sehnsucht, die mich nie verläßt: seine Stimme noch einmal zu hören – nur jenes Wort, das er immer zu mir sagte, wenn ich ihm eine Freude machte – mit der gleichen Zärtlichkeit, mit dem gleichen Ton: ›Meine gute, liebe, kleine Lo!‹ Das möcht ich noch einmal hören, nur ein einziges Mal! Aber das kommt nicht wieder.« Zwei Tränen lösten sich schwer von ihren dunklen Wimpern und sickerten langsam über die Wangen.

»Fräulein!«

Das war ein Laut, wie aus quälendem Schmerz heraus.

Und da erwachte der Jäger. Der erste Blick seiner verschlafenen Augen galt dem Dach, über dem es stille war. Ein bißchen mühsam – alle Glieder schienen ihn zu schmerzen – erhob er sich und öffnete die Hüttentür. Weiße Helle und frische Morgenluft quoll in den Lampenschein der Stube. »Da schauen S' her, Herr Fürst! Der schönste Morgen!« Lachend rieb der Jäger sich die Augen und trat über die Schwelle hinaus.

Die beiden am Tisch erhoben sich.

»Wahrhaftig, der Tag ist da!« Ettingen faßte Lolos Hände. »Ich danke Ihnen, Fräulein, für diese Nacht! Und wenn ich jetzt gehe, nehm ich um Ihretwillen einen Wunsch mit fort.«

»Einen Wunsch?«

»Daß Sie das noch einmal hören möchten in Ihrem Leben, mit der gleichen Zärtlichkeit und mit dem gleichen Ton: Meine gute, liebe, kleine Lo!« Zögernd ließ er ihre Hände, ging zum Diwan hinüber und küßte den schlummernden Jungen auf die Stirn.

Gustl erwachte, richtete sich in den Kissen auf, blinzelte mit den Augen und sagte: »Guten Morgen!«

Das wirkte so drollig, daß sie lachen mußten, alle beide.

Zärtlich streichelte Lo dem Bruder die Wange. »Guten Morgen, Bubi! Aber leg dich nur wieder hin und schlaf noch ein Weilchen! Es ist noch gar nicht Tag, erst vier Uhr früh!«

»So? Aber gelt, wenn die Sonne kommt, dann weckst du mich, Lo?«

»Ja, Bubi!«

Gustl drehte sich auf die Seite. Nach einer Minute schlief er schon wieder.

Lo und Ettingen traten vor die Hütte.

Im weißen Frühlicht lebten schon alle Farben der Landschaft auf, und diese Farben hatten etwas Neues, Ungewöhnliches und Kraftvolles. Doch nur in der Ferne erschienen sie klar. Über allen Farben der Nähe lag's wie ein grauer Seidenschleier. Und unter der Schwere zahlloser Wassertropfen waren die Kelche der Blumen gebeugt, ihre Blätter und Zweige zu Boden gedrückt. Während Tropfen um Tropfen von ihnen niederrollte, begannen sie schon langsam sich wieder aufzurichten, frischer und schöner, wie von neuem Leben erfüllt. Von den schweren Nadelzweigen des Harfenbaumes ging ein unaufhörliches Geriesel nieder, und das war in der Stille des Morgens wie eine leise, heitere Murmelstimme, in die sich mit tiefem Orgelton das ferne Rauschen der wasserreichen Wildbäche mischte.

Ruhig dampfte der See. Die Dünste, die von ihm aufstiegen, zerflossen wieder in den Lüften. Vereinzelte Nebelsäulen rauchten über die schwarzgrünen Kämme der Wälder empor und zogen sich an den Gehängen der Berge hin, die bei dieser lauteren Klarheit der Luft wie zum Greifen nah und von doppelter Größe erschienen. An den Wänden, die gegen Westen blickten, waren mit nassem Blau alle Formen verwaschen. In hartem Bleigrau und scharf gezeichnet starrten die Felsen, die gegen Osten sahen, von wo die Sonne kommen sollte. Sie kam noch nicht. In kalter Helle leuchtete das dünne Blau des Himmels, und mit erlöschendem Schimmer zitterte ein großer Stern noch zwischen dem letzten grauen Gewölk, das langsam davonzog über den Grat der südlichen Berge. Aber hoch am Himmel, hoch, eine kleine Herde winziger Lämmerwolken – die begann sich schon mit zartem Rot zu überhauchen. Und als sie leuchteten, diese Wölklein, wie in die Lüfte gestreute Rosen, schwamm fern im Osten über einen langen dunklen Bergzug ein Glimmen und Glasten herauf, in dem alle Grate mit doppelter Linie gezeichnet waren: die eine Linie blau-schwarz und die andere gleißend wie ein goldener Faden.

Von den Wänden zog ein frischer Windhauch über das stille Seetal herunter, bewegte sacht alle Zweige an Busch und Bäumen, machte die Tropfen in Menge fallen und strich über die Blumen und Gräser hin wie eine Flüsterstimme: »Sie kommt, sie kommt!«

Leise rauschten die Wälder im tieferen Tal. Und jählings war es, als hätte strömend der Duft aller Blumen sich gelöst, als stiege würzig und stark aus dem Schoß der Erde herauf, was ihre getränkte Scholle an Wohlgeruch besaß.

In solcher Luft! Wie war das ein leichtes und frohes Wandern!

Bald klangen die Schritte der beiden Jäger auf kahlem Gestein wie Hammerschlag, bald wieder erloschen sie, wenn der Weg über feuchten Rasen ging.

Ettingen atmete, als wäre in seiner Brust ein unersättlicher Durst nach aller Frische dieses Morgens. Immer wieder blieb er stehen, winkte mit der Hand und grüßte mit dem Hut zurück nach dem kleinen Haus da droben, auf dessen Schwelle die regungslose, schlanke Mädchengestalt wie von nebelhaftem Feuerglanz umwoben war – vom rötlichen Lampenschein, der aus der Stube quoll.

Dreizehntes Kapitel

Alle Gipfel der Berge strahlten im Widerschein der Sonne, als Ettingen und Praxmaler gegen fünf Uhr morgens die Jagdhütte im Sebenwald erreichten. Hier fanden sie einen aufgeregten Menschen: den Förster Kluibenschädl. Der war mit Anbruch des Tages gekommen, um die Treibjagd abzusagen, die erst am folgenden Tag gehalten werden sollte, weil – ja, weil der Wind nicht günstig wäre – in Wahrheit, weil man im Jagdhaus in zwei Tagen mit der Einrichtung des Grafenstüberls so weit nicht fertig wurde, daß es tadellos und bereit wäre, die »freudige Überraschung« aufzunehmen. Als Kluibenschädl in der Schutzhütte die Betten unberührt und den Herd ohne Glut gefunden, war ihm die Sorge mit »gacher Hitz« in den Kopf geschossen. Schon wollte er in seiner Angst zur nächsten Almhütte rennen, um mit den Sennleuten die Suche nach seinem Herrn zu beginnen. Da kamen die beiden, gesund und mit heiterem Geplauder. Es hätte nicht viel gefehlt, und Kluibenschädl wäre in der ersten Freude dem Fürsten um den Hals gefallen. Während Pepperl das ganze Abenteuer lustig erzählte, umklammerte der Förster die Hand seines Herrn. Dann sah er ihm lachend ins Gesicht und sagte: »Sakrawolt! Duhrlaucht! Die heutig Nacht auf'm hülzernen Sessel muß Ihnen gut angschlagen haben. Ausschauen tun S' wie 's Leben!«

Sie traten in die Hütte, und Pepperl schürte Feuer zum Frühstück an.

»No, Gott sei Lob und Dank, Duhrlaucht, weil S' nur wieder da sind! Und bei der Fräuln Petri, da is man nobel aufghoben. Da hat Ihnen freilich nix gschehen können!«

In froher Laune nahmen die drei das Frühstück ein. Dann machte der Förster sich auf den Heimweg zum Jagdhaus. Als er schon ein paar hundert Schritte davongewandert war, kam Pepperl ihm atemlos nachgerannt, mit einem jagdlichen Zweifel, dessen Lösung so klar auf der Hand lag, daß der Förster seiner Antwort kopfschüttelnd die Worte beifügte: »Na hörst, das hättst doch selber wissen können! Da hättst doch net so rennen müssen.«

»Ja ja, is schon wahr! Und jetzt marschieren S' heim, gelten S'?«

»Natürlich! Wohin denn sonst?«

»Ja, freilich! Und – wie geht's denn allweil daheim?«

»Wie soll's denn gehn? Gut halt!«

»Was macht denn – sag ich zum Beispiel, der Herr Kammerdiener?«

»D' Nasen streckt er in d' Höh und faulenzen tut er, derweil die anderen schaffen. Und den halben Tag hockt er bei der Sennerin. Könnt was Gscheiters tun, als dem dalketen Madl den Kopf verdrahn. Aber was geht's denn mich an? Bhüt dich Gott, Pepperl!«

Mit traurigen Augen guckte Pepperl dem Förster nach, strich mit schwerer Hand über die aufgedröselten Kreuzerschneckerln, zog das blaue Sacktuch aus der Joppe und wischte die Lederhose ab, als hätte er das Gefühl, daß er mit Wasser begossen wurde. Freilich, feucht war das Leder noch vom Abend her.

In der Hütte fand er den Fürsten auf seinem Lager schon eingeschlummert. Seufzend betrachtete Pepperl seinen Herrn. »Ah, der schlaft gut! Könnt ich nur auch so schlafen heut!«

Nicht nur gut schlief Ettingen, auch lange.

Um drei Uhr nachmittags, als Toni Mazegger an der Hütte vorüberging, um den Ehrwalder Jäger für die Treibjagd zu bestellen, waren Tür und Läden des kleinen Balkenhauses noch geschlossen.

Mazegger schien Eile zu haben. Sein Gang war von treibender Hast. In brütender Unruh starrte er vor sich hin, während er durch den Sebenwald hinaufeilte gegen das Seetal. Das Almfeld öffnete sich vor ihm, und wieder begann der Wald. Auf einer Lichtung wurde der Pfad gekreuzt vom Sebener Almzaun, der das Jungvieh verhindern sollte, vom höheren Seetal durch den Wald herunterzusteigen und die reichere Weide der vom Milchvieh bezogenen Niederalm aufzusuchen. Der Zaun war ein mannshoch aufgetürmter Wall von dürren Bäumen, von denen die untersten wohl schon hundert Jahre oder noch länger lagen. Wo das dürre Zeug vermoderte und im Winter unter dem Druck des Schnees zusammenbrach, wurden im Frühjahr neue Reisighaufen und dürre Bäume auf den Wall geworfen, der die ganze Breite des Seetals quer durchzog und zur Linken und Rechten hinaufreichte bis zu den kahlen Wänden.

Bei diesem Almzaun war für drei Uhr morgens das Stelldichein der Treiber und Jäger angesagt, die das Hochwild des Sebenwaldes hinunterdrücken sollten gegen den bei der Geißtaler Ache liegenden Fürstenstand.

Wo der Pfad ging, hatte der Wall eine Lücke, die durch ein hohes Stangengatter gesperrt war. Mazegger öffnete das Tor und schloß es wieder. Immer langsamer wurde sein Gang. Als er neben dem Pfad einen Baumstock sah, legte er Büchse und Bergstock nieder, trocknete die Stirn und rastete. Mit zitternden Fingern glättete er den feucht gewordenen Hemdkragen, band die Krawatte frisch, säuberte mit einem Büschel Moos die Schuhe und wusch in einem Regentümpel die Hände. Seine schmucke Jägerkleidung musternd, nahm er den Marsch wieder auf. Nur wenige Minuten hatte er durch den Wald noch aufwärts zu steigen, bis er zwischen den Bäumen den Seespiegel flimmern sah. Bevor er den Waldsaum erreichte, spähte er nach allen Seiten. Am Ufer sah er den Knaben mit der Angelrute stehen. Lautlos wich Mazegger in den Wald zurück und stieg auf einem Umweg über das Latschenfeld zu dem kleinen Haus hinauf.

Unter dem Harfenbaum, an dem sich in der Goldstille des Nachmittags keine Nadel rührte, saß Lo am Tisch. Sie hatte den Basthut abgelegt. Umzittert von den Sonnenlichtern, die durch den Schatten des Baumes fielen, saß sie über ein Schulheft des Bruders gebeugt, der unter dem Eindruck des vergangenen Abends einen deutschen Aufsatz geschrieben hatte: »Gewitter im Hochgebirg.« Der mit großen Worten spielende Schwung der kindlichen Schilderung wirkte erheiternd auf Lo; doch ihr eigenes Erinnern plauderte so viel in die harmlosen Zeilen hinein, daß ihr die Wangen glühten.

»Schon sinket bei diesem Aufruhr der gesamten Natur die schwarzgeflügelte Nacht auf die Berge herab.« So führte Gustl mit klassischen Reminiszenzen und mit allen Stimmungseffekten seiner jungen Schilderungskunst die kühne Prosadichtung zu einem erbaulichen Schlusse. »Es heult der Sturm, alle Schleusen des Himmels sind geöffnet, unaufhörlich kracht der Donner, und flammend zuckt aus den finsteren Wolken der Wetterstrahl. Da, horch, eine Stimme! Sind Menschen in Not? Ja, so ist es! Zwei verirrte Wanderer sind zum Spielball des Sturmes und der Finsternis geworden. Ach, die armen, guten Menschen! Wie wird es ihnen ergehen? Aber schon ist die Hilfe näher, als sie denken. Ein Lichtlein blinket in der Nacht, und mit dankerfülltem Herzen betreten die mit dem Schrecken davongekommenen Verirrten das gastliche Haus, welches sie unerwartet in der Not gefunden haben. Der Herr des Hauses heißet die Gäste freundlich willkommen, und während auf dem Herde das wärmende Feuer flackert, bereitet die gute, emsige Schwester schon das Mahl. Trotz fühlbaren Mangels an Betten weilen sie in fröhlicher Eintracht beieinander, bis der Morgen nach allem Aufruhr der Natur wieder das herrlichste Wetter bringt. Da scheiden diese Menschen, die einander zum Teil ganz fremd gewesen, als treue Freunde für das Leben. Daraus möge sich jeder die Lehre ziehen, daß man eine Hilfe, wo man kann, auch immer leisten muß. Wer hartherzig ist, schadet nur sich selbst. Wie leicht kann es ihm geschehen, daß er selbst in Not kommt, und wie würde es ihm dann ergehen, wenn andere Menschen ebenso hartherzig wären wie er selbst! Ist es denn nicht die schönste Freude, einem Hilfsbedürftigen beizuspringen? ›Regia crede mihi‹, so sagt schon der lateinische Dichter, ›res est succurrere lapsis‹, wahrlich eine königliche Sache ist es, die Gestürzten wieder aufzurichten!«

Längst hatte Lo zu Ende gelesen, und noch immer blickte sie träumend auf die kleinen, mit steifer Sorgfalt gemalten Buchstaben. Da trat Mazegger in den Garten. »Guten Abend, Fräulein!« Die Erregung zerbrach ihm die Stimme. Er stellte Gewehr und Bergstock an die Hüttenwand, nahm den Hut ab und ging langsam auf den Tisch zu. Scheu, zwischen Hoffnung und Zweifel, hingen seine heißen Augen an dem Gesicht des Mädchens.

Betroffen hatte Lo das Heft geschlossen und erhob sich. »Mazegger? Was suchen Sie bei mir?«

»Ein gutes Wort. Und Hilfe.«

Sie schwieg.

Den Hut zwischen den Fäusten zerknüllend, stieß er mühsam hervor: »Sie sind die Heilige fürs ganze Dorf und Tal. Jeder kommt zu Ihnen und nie umsonst. Ihre Herzensgüt ist ein Brunnen für jeden armen und durstigen Menschen. Und ich? Bin ich nicht auch ein Mensch? Dazu noch einer von den ganz elenden! Mir ist zumut wie einem, der sich in einer schiechen Wand verstiegen hat. Jeder Weg hat ein End. Und tief geht's hinunter. Da steht er und schreit. Und wenn er schon merkt: jetzt muß ich fallen – da hofft er noch allweil auf die gute Hand, die ihm helfen könnt!« Er sprach nicht weiter.

»Kommen Sie, Mazegger«, sagte Lo mit tiefem Ernst. Sie rückte in die Bank und bot ihm den Platz an ihrer Seite an. »Sagen Sie, was Sie mir sagen müssen. Hier sind wir allein. Mein Bruder ist drunten am See, sonst ist niemand in der Nähe.«

Wie eine Flamme schlug es über das Gesicht des Jägers. Eine Hoffnung war erwacht in ihm, und er stammelte: »Fräulein? Sie sind mir also nicht mehr bös?«

»Böse? Weshalb?«

»Wegen neulich?«

»Nein.«

»Ich hab's auch bereut.« Mazegger hielt ihren Blick nicht aus und senkte die Augen. »Daß man von Ihnen ein gutes Wörtl nur in Güt erwartet, das hätt ich wissen müssen. Wie ein jähzorniger Bub hab ich mich benommen. Verzeihen Sie mir's, Fräulein?«

»Ja, Mazegger!« sagte sie freundlich, als hätte dieses Wort sie selbst von einem Alp erlöst.

Zögernd schob er den Hut auf den Tisch und setzte sich auf die Ecke der Bank.

»Sprechen Sie, Mazegger! Was macht Ihr Leben elend?«

»Daß Sie das verstehen, dazu müßt ich Ihnen viel erzählen. Darf ich?«

»Ja!«

Jedes Wort mußte er sich abringen, während er von seiner Heimat sprach, von aller Bitterkeit seiner Jugend. Als er sah, mit welcher Teilnahme Lo auf ihn hörte, schien es, als wäre eine Fessel in seiner Brust gesprungen, und in heißer Erregung floß ihm die Sprache von den Lippen.

Es war eine trübe Kinderzeit, von der Mazegger zu erzählen hatte. Und als er in das Alter kam, in dem die Knaben schon mit einer Zukunft zu rechnen beginnen, war vor seinen Füßen die Brücke niedergebrochen, die ihn hätte hinübertragen können zu einem freundlichen Leben. Seine Mutter, Carmè Luzzotti, war die Tochter eines italienischen Bahnarbeiters in einem Dorfe bei Trient. Als junges Mädel verlor sie die Eltern und wurde von einer Schwelle zur anderen gestoßen, bis sie ein Winkelchen im Haus des deutschen Lehrers fand. Der erbarmte sich der Verwaisten – weil sie jung und hübsch war. Zuerst diente sie bei ihm als Magd; dann nahm er sie zur Frau. Es war kein Glück in dieser Ehe; die beiden Menschen waren so verschieden voneinander wie ihre Sprache – und die Sprache, das war es auch, was immer zwischen ihnen lag wie eine Mauer. Damals begann, wie überall, auch in dem südtiroler Dorfe der nationale Hader. Von der Straße und aus der Gemeindestube schlich er sich in die Familien ein, auch in das Haus des Lehrers. Als Frau eines Deutschen blieb Carmè Mazegger die Italienerin mit ihrem »Wällisch«, das ihr eigener Sohn nicht reden sollte. Der sollte sprechen wie sein Vater, der ihm alles erlaubte, nur um ihn vom Herzen der Mutter wegzureißen. Dieser Hader ging immer über den Kopf des Knaben hin und her, und als er in die Jahre kam, um die häßlichen Worte zu verstehen, war es ihm selber lieb, daß man ihn fortschickte von daheim, nach Innsbruck auf die Gewerbeschule, mit vierzehn Jahren. In Innsbruck gefiel es ihm, da konnte er was sehen vom Leben und lernte Menschen kennen, die es gut haben in der Welt. Das weckte den Ehrgeiz in ihm. »Auch aus mir soll etwas werden, was Rechtes und Tüchtiges.« Aber vor lauter Wünschen kam er nicht recht zum Lernen. Am liebsten wäre er schon mit sechzehn Jahren gewesen, was andere, wenn sie Glück haben, mit dreißig werden. Und dann kam dieses Unglück zu Hause. Die italienische Schule wurde eröffnet und bald darauf die deutsche geschlossen. Das überlebte sein Vater nicht – er ging ins Wasser. Und die Mutter? Die wartete knapp ein halbes Jahr, und dann nahm sie einen anderen, einen, der ihre Sprache redete und mit dem sie sich verstand.

»Mit dem ist sie fortgegangen. Ob sie noch lebt oder ob sie schon gestorben ist, das weiß ich nicht. Mich hat eine Schwester meines Vaters ins Haus genommen, deren Mann in Leutasch draußen ein kleines Gütl hat. Die Schul hab ich aufgeben müssen. Und alles dazu! Leben und Glück!« Mazegger fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirn. »Das Brot der Verwandten essen? Schlechteres kann über einen nicht kommen in der Welt. Da hab ich zuletzt noch froh sein müssen, daß ich den Posten als Jäger gefunden hab. Jetzt hab ich mein Auskommen, aber keine Ruh in mir! Allweil muß ich denken, was aus mir hätt werden können. Aber ich mein', es wär noch allweil nicht zu spät für mich. Das hab ich nie so fest geglaubt, wie jetzt.« Seine Augen brannten und seine Stimme wurde heiser. »Nur müßt ich wen haben, für den ich's tu. Das tät mich treiben, allweil höher hinauf, bis ich droben steh, wo ich sagen könnt: jetzt verdien ich mein Glück und kann's vergelten! Daß ich das fertig brächt? Ich glaub's von mir! Ich glaub's! Und Sie? Sagen Sie mir, daß Sie es auch glauben! Sagen Sie mir das, und alles bring ich fertig!«

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
28 октября 2017
Объем:
410 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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