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Fazit: Freiheit heißt nicht Abwesenheit jeglicher Beeinflussung oder „absolute Unabhängigkeit“

Noch einmal zusammengefasst:

1 Nur Untergrundmenschen müssen unbeeinflusst sein, damit sie frei sind. Beeinflussung widerspricht nur der speziellen Freiheitsidee, die einem „eindimensionalen“ Selbst entspricht – einem Selbst, das nur ein Punkt ist.

2 Für alle anderen Identifikationen erfordert Freiheit nicht die Abwesenheit jeglicher Beeinflussung.

3 Ich muss somit nicht von allem unabhängig sein, um frei zu sein. Die Ausnahme ist all das, was mein authentisches Selbst ausmacht. Freiheit erfordert nicht, dass ich sogar von mir selbst unabhängig bin – sie verlangt genau das Gegenteil: dass ich eine Harmonie mit dem erreiche, was ich wirklich bin.

9 Dostojewskij, Aufzeichnungen aus dem Untergrund, S. 224.

„Es ist letztlich nichts heilig außer der Integrität deines eigenen Geistes.“

Ralph W. Emerson, „Selbstvertrauen“

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Wählen können – frei sein?

Im Denken und Sprechen unserer Kultur sind „die Wahl haben“, „wählen können“, generell so eng mit dem Frei-Sein verflochten, dass, wer eine Wahl trifft, sozusagen automatisch und selbstverständlich von seiner Freiheit Gebrauch gemacht hat.10Der tatsächliche Zusammenhang ist aber komplex und subtil und alles andere als eine plumpe Identität. Das tatsächliche und schwierige Verhältnis zwischen den beiden ins Blickfeld zu rücken, es sichtbar zu machen, die es zudeckenden Staubschichten aus Gewohnheit und ideologischem Denken abzutragen, ist so vertrackt, dass man zum Vergleich sagen könnte, es ist beinahe wie das Herauspräparieren des eigenen Sehnervs, um ihn zu betrachten.

Ausgangspunkt: Der Fall totaler Nicht-Identität

Wir könnten noch einmal mit dem Beispiel einer totalen Nicht-Identität beginnen. Genau die Tatsache, dass sie ein Grenzfall und in gewissem Sinne eine rein theoretische Situation ist, macht sie aufschluss- und lehrreich. Der Kontext, den wir uns nun vorstellen sollten, ist aber nicht der einer willkürlichen Handlung. Diese lassen sich am besten als überspitzte Variationen des Themas „Spontaneität“ verstehen. Sie veranschaulichen – wenn sie je mehr sind als eine Idee! – das komplette Fehlen jeglicher Motivation und lassen sich deshalb am besten als bizarre und plötzliche Abweichungen von dem betrachten, was zu erwarten gewesen wäre. Und das ist nicht der Prototyp des Wählens und Entscheidens.

Während ein typischer willkürlicher Akt überall und jederzeit ausgeführt werden kann – beispielsweise bei einem Strandspaziergang –, so erfordert eine Entscheidung charakteristischerweise eine klar umrissene Situation. Im einfachsten Fall gibt es zwei scharf abgegrenzte Alternativen A und B und Gründe dafür, das eine oder das andere zu tun, einschließlich der zu erwartenden Folgen, Schwierigkeiten und so weiter. Wie wird eine Entscheidungssituation von jemandem erlebt, dessen Selbst radikal abgespalten ist, also dem Typus, der dem Untergrundmenschen ähnelt?

Alternativen machen einen Untergrundmenschen nicht frei

Zunächst einmal würde er sich vor derselben Art von Weggabelung sehen, die wir alle kennen. Mit der Zeit würde sie allmählich näher rücken, und es würde sich ein Gefühl einstellen, geschoben zu werden, auf einem Floß einen reißenden Fluss hinunter und unausweichlich auf diese Gabelung zuzutreiben. Vielleicht würde er kommendes mögliches Unheil wittern, sich unter Druck gesetzt fühlen, den Spott oder die Verachtung sehen, die sich schon auf den Gesichtern derer malen, die schneller von Begriff sind – aber das wäre nicht viel anders als das, was wir alle schon erlebt haben.

Ein Aspekt jedoch wäre markant anders: Seine eigenen Hoffnungen und Wünsche, sogar die unerwartete, wohltuende Brise einer großen Sehnsucht, aber auch das flinke Weberschiffchen der Überlegungen, die Pro und Kontra hin und her schieben, all das ist für ihn ebenfalls Teil der beobachteten und unabhängig von ihm sich entwickelnden Situation. Er sieht es nicht als etwas grundsätzlich anderes als die Myriaden anderer scharfkantiger Faktoren, die ihn umzingeln. Er ist Zeuge der Metamorphose seiner Gedanken. Er ist wie jemand, der fasziniert einen Bienenstock beobachtet – wie sie einander verfolgen, wie irgendwo ein Getümmel aufflammt, wie sie sich unaufhörlich summend im Kreis drehen. Er beobachtet die sich wiederholenden Muster und sucht nach ihrer verborgenen Bedeutung; er bemerkt, wie kleine, zufällige Ereignisse ihm plötzlich private Botschaften zu überbringen scheinen (Regen am Morgen – hätte ich bleiben sollen?); er bemerkt, dass er beginnt, zwischen Extremen hin und her zu schwanken: dass in einem Moment jeder Zweifel, jeder Nachteil, die mit einer Alternative verbunden sind, sich in Luft aufgelöst haben und die Entscheidung für diese Alternative im strahlendsten Licht erscheint, während fünf Minuten später dieselbe Handlung ihn finster wie ein Ungeheuer anblickt. All das – und es kommt nicht auf die Details an, sie könnten alle möglichen Formen annehmen – sieht er bloß: Es ist für ihn ein Schauspiel, das er nur beobachtet.

So könnte das Bild bis zum entscheidenden Punkt aussehen, ohne sich irgendwie zu verändern. Und es gäbe keine Lücke, keine Pause, keine Periode der Stille, sondern auf einmal ist er an der Gabelung angelangt, und in der nächsten Sekunde ist sie vorbei und entschwindet hinter ihm.

Wir können, da so viel davon abzuhängen scheint, zwei Möglichkeiten unterscheiden: Bei der ersten durchläuft sein Geist so etwas wie den soeben beschriebenen Prozess, und irgendein äußeres Ereignis (irgendetwas, ein fallender Stein, die Handlung eines anderen) übt den entscheidenden Einfluss aus. Bei der zweiten Möglichkeit wäre alles gleich, außer dass es nun ein Gedanke wäre, ein Gefühl oder gemäß unseren Hypothesen alles Mögliche in seinem Inneren, das letztendlich den Ausschlag gibt. Und wir brauchen nicht anzunehmen, dass sein Geist in Aufruhr ist. Die Logik der Argumentation wäre dieselbe, sogar wenn sein Geist bis zur Unbeweglichkeit in Lethargie erstarrt wäre.

Er selbst handelt nicht – von Freiheit kann keine Rede sein

Welche dieser beiden Alternativen sich auch immer tatsächlich ereignet, er selbst würde in beiden Fällen keine Rolle spielen. Von seinem Standpunkt aus laufen beide auf dasselbe hinaus: Es gab zwei unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten, beide standen ihm offen, und dann schickte ihn irgendein Faktor, den er beobachtete, der aber nicht seiner Kontrolle unterlag noch der Kontrolle von irgendetwas, das er als sein Selbst akzeptiert, in die eine Richtung und nicht in die andere. Somit könnte es also in seinem Fall zwei Alternativen geben und, mehr noch, ein von ihm beobachteter Gedanke könnte zwischen ihnen den Ausschlag geben – und doch wäre dieser Gedanke nur ein weiteres Fakten-Rädchen, das in der großen Maschine aller Ereignisse in ein anderes greift, und wieder hätte er somit nicht einmal gehandelt, von einem freien Handeln ganz zu schweigen. Und das würde sogar noch gelten, wenn sein letzter Gedanke vor dem entscheidenden Moment so etwas gewesen wäre wie: „Also gut, dann eben A.“ Solange dieser Gedanke nur ein weiteres Ereignis ist, das, als ob unabhängig von ihm, einfach geschieht wie seine anderen Gefühle und Reflexionen, die sich in seinem Fall nicht grundsätzlich von den Ereignisketten in der Außenwelt unterscheiden, solange gibt es keine Basis und keinen Grund dafür, von Freiheit zu sprechen. Das Ganze ist ein einziger kompakter Mechanismus, der irgendwie sogar seine Gedanken in ein klug entworfenes Getriebe eingebaut hat. Dass seine Gedanken diese Rolle gespielt haben und Teil dieses Prozesses waren, vergrößert höchstens das Ausmaß seiner Knechtschaft, wenn es überhaupt etwas ausmacht.

Die Bewegung auf eine offene Alternative hin verbessert also die Lage dieses Menschen nicht. Entscheidungen setzen ihn nur zusätzlich unter Druck; sie sind nur ein weiteres von den vielen Dingen, mit denen er sich gezwungenermaßen auseinander setzen muss. Er wird von ihnen gequält und verspottet. Und offensichtlich würde das nicht anders, wenn man – und sei es auch mit den besten Absichten – die Alternativen vervielfachen würde, unter denen er „die Wahl hat“. Wenn man ihm eine Welt zurechtlegt, die vor Alternativen strotzt, macht man seine Situation nur schlimmer.

Entscheidungen finden immer in einem Kontext von Einflüssen statt

Zugegeben, er ist ein Sonderfall. Trotzdem drängt sich uns noch eine andere Tatsache auf, die mit dem schwer greifbaren Phänomen der Identifikation nichts zu tun hat, aber vorab eine andere Frage aufwirft: die Tatsache, dass eine Entscheidung im Normalfall und für jeden von uns in einem fix umrissenen Kontext angesiedelt ist. Um es ganz drastisch zu sagen: „Die Wahl gehabt“ zu haben bedeutet vielleicht nur, dass es noch eine andere Sache gab, die man auch hätte machen können – wobei diese eine Sache vielleicht noch katastrophaler gewesen wäre als die immer noch schreckliche Alternative, die man tatsächlich gewählt hat. Dass man „die Wahl hatte“, sagt mit anderen Worten nichts aus über das Netz von Zwängen, das in einer bestimmten Situation am Werk ist, oder über die Gesamtheit der Faktoren, die nicht der eigenen Kontrolle unterlagen.

Das rückt die zahllosen Situationen, in denen irgendein Unglücklicher zu hören bekommt, er habe ja „die Wahl gehabt“, in ein völlig anderes Licht. Man scheint dabei oft zu meinen, wenn dem so war, dann war er „frei“ – und daraus lässt sich mit Leichtigkeit eine Kette gewichtiger Konsequenzen ableiten: wenn frei, dann war er auch selbst verantwortlich, dann kann man ihm die Schuld geben; mehr noch: Man kann ihn bestrafen. Wenn er andererseits frei war, dann war seine Freiheit ein Geschenk von unermesslichem Wert, und dafür kann man ihn nun um eine Gegenleistung bitten – und die solchermaßen aufgemachte Rechnung kann ganz schön gesalzen sein; sie kann Gehorsam und Loyalität gegenüber dem Staat einfordern, den Eintritt in die Armee, die Einwilligung, sich töten zu lassen.

Ein paar

grundsätzliche Fragen

Die nackte Tatsache, dass Entscheidungen in einem Kontext getroffen werden, soll die simple Frage aufwerfen, ob die Größe des gewährten Privilegs dem hohen Preis angemessen ist, der dafür verlangt wird. Oder, anders ausgedrückt, wie viel Freiraum gab es denn tatsächlich bei einer Entscheidung, wenn wir den Kontext betrachten, in dem sie stattfand? Und wie viel kann deshalb berechtigterweise als Gegenleistung verlangt werden? Ist es nicht in manchen Fällen, wo es nur wenige und vielleicht katastrophale Alternativen gab, irreführend und sogar eine Falle, überhaupt von Freiheit zu sprechen? Sicher habe ich eine Wahl gehabt – es gab eine Alternative –, aber wenn diese Alternative Verhungern bedeutet (beispielsweise, weil ich gezwungen bin, mein Land zu verlassen, und mein Beruf eine Lizenz erfordert, die in anderen Ländern nicht gültig ist), wie viel Ironie liegt dann darin, wenn man mir erzählt, ich sei frei, und mit welchem Recht darf irgendjemand zu mir sagen: Du hast diesen Staat „frei“ gewählt, und deshalb bist du ihm dasselbe schuldig wie Antonio dem Wucherer Shylock?11

Diese Frage – wie viel Freiheit habe ich erhalten, und was ist eine angemessene Gegenleistung –, und wofür kann ich in Anbetracht des Kontextes verantwortlich gemacht werden – lässt immer noch eine Reihe von anderen Fragen außer Acht: Wer hat mir diese Freiheit „geschenkt“? Und welche von all den anderen Dingen, die ich in meinem Leben erhielt, wurden mir vom „Staat“ oder von der „Nation“ geschenkt? Hat der Staat mir das Leben geschenkt, oder hatten meine Eltern mehr damit zu tun und, wenn ja, kann der Staat dann mein Leben verlangen? Wem schulde ich was wofür? Und was genau habe ich insbesondere von den Menschen bekommen, die nun von mir verlangen, mein Leben zu riskieren? Was gibt ihnen das Recht, die Gesamtsumme dessen, was ich der „Gesellschaft“ schulde, für sich zu vereinnahmen? Sicher, im Laufe meines Lebens habe ich eine unschätzbare Summe erhalten, aber vieles davon kam von meinen Angehörigen, und ein großer Teil kam aus vom Staatswesen weit entfernten Quellen, manches von Dichtern und Denkern aus anderen Teilen der Welt, die schon lange tot sind, manches von einem Bauern, der jetzt in Japan sein Reisfeld bestellt. Und, was nicht vergessen werden darf: Ich habe nicht nur empfangen, sondern selbst natürlich auch gegeben. Was also gibt entweder diesen Menschen oder dem „Staat“ die Erlaubnis, nun für all dies die Gebühr einzuziehen, als wenn ich, wäre der Staat nicht gewesen, nur das Leben eines einsamen, wilden Tieres irgendwo im Urwald geführt hätte?

Diese Fragen zielen auf einige der Fundamente, auf die sich unsere zentralen politischen Theorien gründen. Aber dieselbe nackte Tatsache, dass nämlich Entscheidungen immer in einem spezifischen Kontext getroffen werden, was bedeuten kann, dass ich sehr „unfrei“ war, obwohl ich eine Wahl hatte, ist auch für nicht so hochfliegende Zusammenhänge relevant und wirft in ganz alltäglichen Situationen dieselben Fragen auf: in Schulen und Universitäten zum Beispiel.

Freiheit besteht nicht darin, die Wahl zu haben

Dass man die Alternativen vervielfacht, unter denen ein Schüler oder Student wählen kann, bedeutet nicht, dass er echte Freiheit erhält. Im tatsächlichen Kontext seines Lebens liegt die Bedeutung einer solchen Wahl vielleicht nur darin, dass er sich nun für einen Kurs einschreiben kann, der sein Denken langsamer trübt und vernebelt als ein anderer. Und das Problem der Unverhältnismäßigkeit ist hier im Wesentlichen dasselbe. Genau die Erwartung, dass das große Geschenk der Freiheit angemessen gewürdigt wird, dass der Schüler oder Student nun zufrieden ist und für dieses unschätzbare Gut doch hoffentlich eine Gegenleistung erbringt, erzeugt vielleicht neue Erbitterung: Denn er oder sie hat womöglich nicht das Gefühl, Freiheit erhalten zu haben, und womöglich stimmt das.

Beispiel Manager

In dieselbe Richtung geht ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich. Dass das Treffen von Entscheidungen (wie der genaue Zusammenhang letztendlich auch immer aussehen mag) keinesfalls mit Freiheit gleichzusetzen ist, sollte auch deutlich werden, wenn man den Arbeitsalltag vieler Führungskräfte betrachtet. Mehr oder weniger zutreffend stellen wir sie uns als Menschen vor, die Entscheidungen treffen, die das ständig tun und oft mit mehr Macht als diejenigen, deren Büros dünnere Teppiche haben.12Wenn nun Freiheit wirklich darin bestünde, Entscheidungen zu treffen – wenn das ihre Definition wäre –, dann müsste das Leben dieser Menschen außergewöhnlich frei sein. Aber wenn wir ihre Alltagsexistenz nur ein bisschen genauer und mit etwas Mitgefühl betrachten, dann scheint das ein grausamer Irrtum zu sein. Sie werden von Entscheidungen gepiesackt wie von einem Schwarm Stechmücken, und in der oberflächlichen Redensart von der „Qual der Wahl“ steckt mehr Wahrheit als in vielen philosophischen Theorien.

Die Idee, dass die Existenz von Alternativen keine Garantie für Freiheit ist, ließe sich anhand einer langen Reihe weiterer Beispiele verfolgen. Man könnte die Frage aufwerfen, wie viel Freiheit eigentlich darin liegt, unter 500 verschiedenen Automodellen wählen zu können, die sich lediglich durch glitzernde Äußerlichkeiten unterscheiden, oder unter etwa der gleichen Anzahl verschiedener Einfamilienhäuser, in denen ungefähr so viel gestalterische Kreativität steckt, wie man braucht, um einen Topf Wasser zum Kochen zu bringen. Aber hier sind die ideologischen Feigenblätter so dürr und welk, dass wir die peinlichen Stellen, die sie verbergen sollen, nur allzu nackt kennen.

Sind wir „unfrei“, wenn wir nicht selbst entscheiden?

Wir können stattdessen den Spieß umdrehen und fragen, ob nicht zumindest ein Hauch von Freiheit sogar dann möglich ist, wenn wir in ganz buchstäblichem Sinne über unsere Handlungsweise nicht entscheiden. Ein Beispiel für diese Umkehrung hat sich in meinem eigenen Leben ereignet, und mit der Bitte um Verständnis für meine Aufdringlichkeit erwähne ich es deshalb, weil es zufälligerweise ziemlich eindeutig ist.

Ein persönliches Beispiel

Ich habe mich lange dagegen gewehrt, Philosophie zu lehren. Ein gewichtiger – obwohl in der Rückschau eher peinlicher – Grund dafür war, dass ich ein sehr abschreckendes Bild von Professoren im Allgemeinen und speziell von Professoren der Philosophie im Kopf hatte. Sie sind mir wohl so vorgekommen, als wären sie in weiße Kokons eingesponnene Mumien, von denen in ganz seltenen Augenblicken ein Lebenszeichen an die Außenwelt drang. Also habe ich mir eine Reihe ganz anderer Berufe ausgesucht, wurde aber wieder und wieder – natürlich von etwas in mir selbst, aber von etwas, das sich meinem Willen widersetzte – gezwungen, das philosophische Denken wieder aufzunehmen. Nachdem ich mich wie ein Fisch am Haken gewunden hatte, gelangte ich schließlich an den Punkt, wo ich sagte: „Andere Leute haben noch viel schlimmere Geburtsfehler“, und begann zu lehren. Man kann also in gewissem Sinne durchaus sagen, dass ich mir die Philosophie nicht ausgesucht habe. Und doch war nichts für mich so befreiend wie dieses Nachgeben. Dieser Aspekt meines Lebens macht mir mehr Freude als alles andere, und ein Teil von mir wurde genau durch diese Kapitulation befreit.

In Diskussionen über das Thema Determinismus sprechen Studenten oft mit einer gewissen Verachtung über das Nicht-Ausgesuchte. In ihrem abstrakten Denken stellt das Verdikt „Wenn dem so ist, dann hast du eigentlich nicht gewählt“ eine kategorische Aburteilung dar; es artikuliert einen Verlust von Würde und signalisiert, dass die Menschlichkeit an eine Welt von Marionetten verraten wurde. Das scheint ein Verlust, auf den die einzig mögliche Reaktion Scham oder unterschwelliger Zorn zu sein scheint.

Sich-Öffnen

und Hingabe

als Pforten

der Weisheit

Es könnte hilfreich sein, all dies in einen etwas weiter gefassten Kontext einzuordnen. Die Perspektive ändert sich, wenn man sich daran erinnert, dass in manchen Kulturen und Religionen Sich-Ergeben und Annehmen die Pforten der Weisheit öffnet und dass diese Einstellung womöglich viel weiter verbreitet ist als das – vielleicht spezifisch „westliche“ – Gegenteil. Unsere Tendenz ist also nicht einfach die Schlussfolgerung, zu der eine reine und kulturell unverfälschte Vernunft führt. Das Privileg der eigenen Wahl aufzugeben kann nicht selten auch ein Schritt sein, der einen der wirklichen eigenen Persönlichkeit näher bringt, statt bloß ein Moment, in dem die eigene Menschlichkeit beschnitten wird.

Solch ein Vergleich verrät wie ein Lackmustest die Substanz, aus der die uns natürlich erscheinende Einstellung besteht. Eine Vorstellung, die unserer gewohnheitsmäßigen Reaktion zugrunde zu liegen scheint, ist die eines imaginären, absichtlich verschärften Gegensatzes, aus dem ein ungerechtfertigtes Entweder-oder resultiert: Entweder habe ich mich für die Handlung entschieden, oder ich wurde gezwungen. Und diese Sichtweise schließt mehr ein als nur einen Konflikt: Das Selbst, das Ego, wird vom Rest der Natur isoliert, in diesem Prozess aber gleichzeitig überhöht, während der Rest der Natur dementsprechend abgewertet wird – er wird zum öden Herrschaftsgebiet lebloser, mechanistischer Kräfte. (Man könnte über diesen Gegensatz nachdenken und sich fragen, wie tief seine Wurzeln in die Geschichte des Westens hinabreichen. Könnte da eine Parallele zu der Stellung bestehen, die dem Menschen im Buch Genesis zugewiesen wird, wo er die Verfügungsgewalt über die Natur erhält und das Vorrecht, „jeder lebendigen Kreatur einen Namen zu geben“? Und ist beispielsweise chinesische Landschaftsmalerei, in der menschliche Gestalten kaum zu erkennen sind, weil sie sich so in die gesamte Szenerie einfügen und verschwindend klein sind, Ausdruck einer Sichtweise, in der ein Gehorsam gegenüber der Natur als weniger entwürdigend empfunden wird?) Irgendeine Schematisierung dieser Art scheint sich anzubieten. Denn nur, wenn der Konflikt diese Färbung hat, geht es um so viel bei diesem Behauptungskampf des Selbst. Nur dann wird aus der Tatsache, dass man sich gegen die Natur nicht durchsetzen konnte, eine von der Hand eines schwächeren Gegners erlittene, echte Niederlage.

Westliche

Philosophie vom „Entfremdungs-Denken“ infiziert

Hier zeigt sich wieder die Denkweise, der wir bisher als einem Symptom in der Pathologie totaler Dissoziation begegnet sind, und diesmal scheint unser philosophisches Denken von derselben Krankheit befallen. Denn wenn man die Prämisse einer feindseligen Konfrontation zwischen dem wählenden Selbst und der Gesamtheit der Natur nicht akzeptiert, dann wird man nicht besiegt, ist nicht entmenschlicht oder unfrei, wenn die eigene Wahl sich nicht durchsetzen lässt. Und es gibt Zusammenhänge, die uns in manchem näher liegen als etwa die nichtwestlichen Religionen, in denen die Behauptung, wir hätten durch Nachgeben, durch Zuhören und Befolgen Fortschritte gemacht, als selbstverständlich hingenommen würde. Im Rahmen der psychoanalytischen Diskussion oder über Psychotherapie im Allgemeinen gilt es als Binsenweisheit, dass der Wille uns in ödes Land führt und dass das Leben uns nur befriedigt, wenn wir zuhören und empfangen statt zu diktieren und vorzuschreiben. Merkwürdig ist also nur die Schizophrenie unseres Denkens, die uns in einem Kontext protestieren lässt, es gebe keine Freiheit ohne Entscheidungsfreiheit, und uns in anderen dennoch einsehen lässt, dass der Einfluss von Kräften außerhalb des Ego befreiend sein kann.

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