Читать книгу: «Die Freiheit leben», страница 5

Шрифт:

Selbstgefühl und Identifikationsstruktur des Untergrundmenschen

Kehren wir nun zu unserem ersten Beispiel zurück, zu Dostojewskijs Untergrundmensch. Zuvor haben wir gesagt, dass in seinem Fall eine Handlung nicht frei sei, wenn sie nicht der Vernunft zuwiderlaufe, und dass dies eine Nicht-Identifikation mit seiner Vernunft impliziere. Aber das ist nur ein Teil seiner Idee von der Freiheit. Um frei zu sein, muss eine Handlung auch im Gegensatz zu Vorteilserwägungen und Werturteilen stehen, im Gegensatz zu Gewohnheiten, Emotionen, Wünschen; eigentlich „im Widerspruch zu allem und völlig unabhängig“. Wieder interessiert uns das primär als Typus. Es ist für uns ein möglicher Ausdruck des Paradigmas, das darauf besteht, Freiheit sei nur Freiheit, wenn sie vollständig sei. Was für eine Selbsterfahrung oder welche Identifikation steht hinter dieser Auffassung von Freiheit?

Sicherlich würde es nicht ausreichen, wenn der Untergrundmensch sich von allem Verstandesmäßigen und Vor­ausplanenden distanzierte, sich aber mit seinen düsteren und verrückten Leidenschaften identifizierte. Das wäre eher das Selbstbild eines Romantikers. Der Untergrundmensch ist nicht frei, wenn er aus einer Emotion heraus handelt, sondern er erlebt auch seine Gefühle, genau wie seine Vernunft, als leidige, irritierende Last, die oft auf ihn einstürzt, wenn er es überhaupt nicht erwartet, und ihn zu „abstoßenden“ und „schändlichen“ Handlungen treibt.

Frei ist er nur, wenn er nicht nur auf die Vernunft pfeift, sondern auch auf alles andere, das die Handlung veranlasst, motiviert oder entschuldigt haben könnte. Der Akt darf keinerlei wie auch immer geartete Basis haben. Er muss plötzlich wie aus dem Nichts und aus dem Nirgendwo entstehen, ohne Zweck und Richtung aufblitzen. Es ist, als würde die Tat nur durch eine komplette Eliminierung wirklich die seine. Auch nur das Geringste, das eine seiner Handlungen umgibt oder mit ihr zusammenhängt, nimmt sie ihm weg und reicht aus, ihn in die Rolle eines untätigen Beobachters zu verweisen. Der Akt muss in uranfänglicher Vereinzelung abgekapselt sein. Nur das gibt ihm die Bestätigung, dass es sein Akt war, dass er dieses eine Mal nicht das Opfer einer Manipulation war.

Zum Punkt

geschrumpft

Hinter dieser wählerischen und überspannten Vorstellung von Freiheit kann nur ein einziges Selbstbild stehen. Er darf sich mit keinem einzigen seiner natürlichen Bestandteile identifizieren. Er erlebt alles, was er ist, als seinem „wahren“ Selbst entfremdet. Alle seine Gedanken und Handlungen und Gefühle geschehen wie Ereignisse, die er aus der Ferne beobachtet; sie bewegen sich wie eine Menschentraube am anderen Ufer eines Flusses. Seine Art und Weise des Erlebens gibt dem vagen Begriff „Selbst-Entfremdung“ einen präzisen Sinn. Für ihn ist alles ein Objekt. Er selbst ist nichts als ein Punkt am Horizont, von dem aus alles gesehen wird, er ist nur reines, unaufhörliches Schauen. Es ist, als ob die alltägliche Erfahrung, befangen zu sein, zum Dasein und Handeln unfähig zu sein, die Trennung in Zuschauer und Handelnden nicht beenden zu können, in ihm zu fester Form erstarrt wäre.

Die Hauptaussage kann wieder in einem Diagramm dargestellt werden. Nur wenn all die tatsächlichen Bestandteile einer Person in eine äußere Sphäre verwiesen werden, so dass das „wahre“ Selbst zu einem unwirklichen Postulat wird – einem Punkt –, werden alle bestehenden Kräfte Zwang bedeuten, während allein ein Akt reiner Willkür frei ist. Nur wenn alle Wünsche und Leidenschaften und auch der eigene Körper und sogar die Vernunft irgendwie nicht das eigene „wahre Ich“ sind, wird man sogar durch sie genötigt und unfrei gemacht. Aber wenn man von ihnen so abgetrennt ist, dann wird man sie mit Sicherheit als unterdrückend erleben, und wer so geknebelt ist, ist nur in den Momenten frei, in denen er sogar gegen jedes Element der eigenen Person handelt.


Jeder Begriff der Freiheit setzt einen Begriff des Selbst – eine Selbst-Identifika­tion– voraus

Wenn wir diese drei Konzepte der Freiheit nun nebeneinander stellen, dann zeigt sich, dass sie alle in dieselbe Richtung zeigen, weil sie eine ganz klare Korrelation aufweisen. Jede der drei Auffassungen zieht die Grenze zwischen dem Freien und dem Erzwungenen woanders, aber jede geht auch von einer anderen Identifikation aus. Und in allen drei Fällen deckt sich die Linie, die das Freie und das Erzwungene abgrenzt, mit der, die den Bereich der Identifikation vom Bereich des Dissoziierten, Abgespaltenen trennt. Der „platonischen“ Auffassung gemäß sind nur vernünftige Handlungen frei, aber nur die Vernunft ist auch das wirklich menschliche Wesenselement, sie allein ist das „wahre Selbst“. Die „aristotelische“ Position zieht den Kreis freier Handlungen umfassender – sie vertritt die Ansicht, dass alle Handlungen frei sind, die aus irgendeinem Wesenselement der gesamten Person hervorgehen, aber sie vergrößert gleichzeitig den Bereich der Identifikation und betrachtet alle Wesenselemente der gesamten Person als „gleichermaßen menschlich“. Die Version des Untergrundmenschen reduziert die Klasse freier Handlungen bis an die Grenze des Möglichen – nur Handlungen, die „völlig unabhängig“ sind, zählen als frei. Aber die Identifikation oder das „wahre Selbst“ wird wieder dementsprechend vermindert, denn alle tatsächlich existierenden Wesenselemente der Person liegen außerhalb ihres Bereichs. Einem veränderten Identifikationsbereich entspricht also immer eine entsprechend veränderte Grenzziehung zwischen dem Freien und dem Erzwungenen. Die drei Ideen von Freiheit haben also Folgendes gemeinsam: Bei allen sind die Handlungen, die dem Bereich der Identifikation, dem „wahren Selbst“, entspringen, frei, während Handlungen, die abgespaltenen Wesenselementen entspringen, erzwungen sind.

Zentrale

Definition:

Freiheit hängt vom Selbstbild ab –

von der Art,

das Selbst zu definieren

Auf dieser Grundlage können wir nun eine Definition wagen: Eine Handlung ist frei, wenn der Handelnde sich mit den Wesenselementen identifiziert, aus denen sie entspringt; sie ist erzwungen, wenn der Handelnde sich von dem Wesenselement dissoziiert, das die Handlung erzeugt oder veranlasst. Dies bedeutet, dass Identifikation logisch der Freiheit vorausgeht und dass Freiheit nicht ein primärer, sondern ein abgeleiteter Begriff ist. Freiheit ist eine Funktion von Identifikation und steht in einer Abhängigkeitsbeziehung zu dem, womit ein Mensch sich identifiziert. Wenn eine Identifikation vorhanden ist, dann erscheint auch die entsprechende Freiheit. Die primäre Bedingung der Freiheit ist der Besitz einer Identität oder eines Selbst – Freiheit ist das Ausagieren dieser Identität. Nenne mir die Identität eines Menschen, und ich nenne dir seine Freiheit, nenne mir ihre Grenzen, und ich sage dir, wann er unter Zwang steht.

Ausblick: Was wir mit unserer Definition anfangen können

Diese Definition ist kein säuberlich abgepacktes Endpro­dukt. Sie ist nur ein Werkzeug, das wir im weiteren Verlauf unserer Diskussion benutzen werden. Und zunächst sollten wir uns ein paar ihrer handfesteren Konsequenzen einmal anschauen.

Meta-Theorie statt Theorie-Chaos

Es sollte klar sein, dass diese Definition nicht bloß ein weiterer Beitrag zu einem bereits überlaufenen Forschungsbereich sein will. Sie ist ausdrücklich eine Abstraktionsstufe höher angelegt und ist in gewissem Sinne eine Theorie über andere Theorien der Freiheit: Ihr eigentliches Thema sind mehr die bereits existierenden philosophischen Konzepte der Freiheit als Freiheit an sich. Ganz einfach gesagt, soll sie eine Logik aufzeigen, eine Art Ordnung, die tatsächlich vorhanden ist, aber in einer verwirrenden Vielfalt von Bedeutungen verborgen ist, die der Freiheit verliehen wurden. Es ist, als würden Perlen, die bis jetzt wahllos auf dem Boden verstreut lagen, auf eine Schnur aufgefädelt. Oder mit einem anderen Beispiel: Wir haben jetzt etwas, das sich zu den Theorien über die Freiheit so verhält wie eine Gleichung zu den Werten, die ihre Variablen annehmen können. Die meisten der in der Vergangenheit entwickelten Theorien der Freiheit stellen den Versuch dar, einer bestimmten Identifikation den Vorzug zu geben, und andere Bedeutungen, die der Freiheit zugewiesen werden, differieren davon auf eine nun ziemlich offensichtliche Weise: Die generelle Logik ist die gleiche, aber es wird eine andere Identifikation bevorzugt.

Die Erkenntnis, dass die Präsentation eines bevorzugten Konzepts von Freiheit im Endeffekt auf eine Einladung hinausläuft, sich eine bestimmte Identifikation zu Eigen zu machen und aus ihr heraus zu handeln, hilft nicht nur bei der Bestimmung der jeweiligen Spezies und Spielart von Freiheit. Sie sollte auch so wirken, als sähe man ein Theaterstück – oder einen Zaubertrick – nicht vor, sondern hinter den Kulissen. Um nur ein Beispiel dafür zu geben: Rousseaus berühmte Formulierung, dass „Freiheit Gehorsam gegenüber dem allgemeinen Willen“ sei, verliert die Aura des Paradoxen, die ihr zum Teil Schutz verleiht. Gemäß unserer Interpretation empfiehlt Rousseau hier eine Identifikation mit dem allgemeinen Willen und formuliert, dass Freiheit ein Handeln aus dem allgemeinen Willen heraus oder in Harmonie mit ihm ist. Und nun können wir viel klarer sehen, was das eigentlich beinhaltet: Ein rechter Bürger im Sinne Rousseaus (wenn wir diesen einen Satz aus dem Zusammenhang nehmen!) identifiziert sich mit dem allgemeinen Willen; das heißt, weit davon entfernt, zu seinem eigenen, privaten Besten zu handeln, betrachtet er das Wohl der Allgemeinheit als das seine. (Man könnte ihn sich fast als das politische Gegenstück zu einem Heiligen vorstellen.) Solch ein Bürger wäre natürlich „frei“, wenn er dem allgemeinen Willen „gehorchte“, einfach deshalb, weil der allgemeine Wille sozusagen sein eigener ist. Aber nun zeigt sich auch ein wenig von der Ironie, die diesem Diktum innewohnt: Solch einen Bürger müsste man natürlich zu nichts „zwingen“, aber nur weil aller Zwang von vornherein unnötig geworden ist; mit solch einer Identifikation würde er „freiwillig“ weit mehr tun, als die Gesellschaft normalerweise erwartet. Er würde nur zugunsten des Gemeinwohls handeln, und die Gesellschaft kann es sich natürlich problemlos leisten, ihm diese Freiheit zuzugestehen. Die Gesellschaft verliert nichts und bekommt im Gegenzug alles, denn dieser Bürger gibt ihr das Maximum dessen, was sie ihm zumuten kann.

Innere statt

äußere Faktoren

Aus einem anderen Blickwinkel gesehen, verlagert unsere Definition die Aufmerksamkeit vom Äußeren auf das Innere des Menschen. Letztendlich reicht es nicht aus, nur die äußeren Bedingungen neu zu arrangieren. Man kann ein Hindernis nach dem anderen entfernen, aber damit schaffen wir nur eine planierte Fläche, oder noch schlimmer, es fehlt jedweder Widerstand, es entsteht eine Art Vakuum, und das ist keine Freiheit. Die Beseitigung von Barrieren und Risiken geht vielleicht am tiefer liegenden Problem vorbei. Die meisten von uns haben irgendwann etwas Schwieriges getan und dabei vielleicht Lehrgeld gezahlt, aber das hatte etwas Befreiendes, hat uns vielleicht zum ersten Mal wirklich frei gemacht – nicht, weil alle Hindernisse beseitigt worden waren, sondern weil wir endlich das verwirklichten, was wir in uns zuvor nur schemenhaft geahnt hatten. Dies ist ein Punkt, an dem diese Art und Weise, über die Freiheit nachzudenken, Bodenhaftung bekommt. Die primäre Voraussetzung der Freiheit ist ein Impuls, ist ein Selbst, das etwas in die Tat umsetzen will.

Fördert unsere Gesellschaftsform wirklich die Freiheit?

Wenn aber die Bildung von Identifikationen Vorbedingung ist für die Möglichkeit der Freiheit, dann entsteht auch die Möglichkeit eines merkwürdigen Interessenkonfliktes. Man könnte sich leicht eine Gesellschaft vorstellen, in der zwei Kräfte gegeneinander arbeiten. Auf der einen Seite werden vielleicht große Anstrengungen unternommen und Opfer gebracht, um für die Ausübung der Freiheit einen Rahmen zu schaffen. Es werden vielleicht Institutionen aufgebaut, die Wahlmöglichkeiten und Mitbestimmung zulassen, und zahlreiche weitere Strukturen in dieser Art organisiert. Wenn jedoch andere Kräfte in dieser Kultur gleichzeitig das Wachstum von Identifikationen unterminieren, wenn sie das beschneiden, was ein Selbst werden soll, dann sind die in diese institutionelle Organisation investierten Anstrengungen komplett vergeudet. Denn in solch einer Gesellschaft würde es trotz der umfangreichen Vorkehrungen keine Freiheit geben. Wenn die erste Bedingung der Freiheit ein echtes Selbst ist, dann schließt eine Gesellschaft, die dem Selbst die Grundlage entzieht, die Möglichkeit der Freiheit von vornherein aus.

Eine der Stärken dieser Auffassung von Freiheit ist, dass sie diesen Vorrang des Selbst ans Licht bringt. Denn diese Zwiegesichtigkeit, die Möglichkeit, mit einer Gruppe von Kräften genau die Hoffnung zunichte zu machen, die von einer anderen Gruppe von Kräften wachgerufen wird, sowie die damit verbundene furchtbare Verschwendung – das Bild einer großartigen Maschine, die vor sich hin rostet, weil der eine Gang, der sie als einziger antreiben kann, nicht eingelegt wird und sie leer läuft – kommt der Realität ziemlich nahe. Sogar beim flüchtigen Hinschauen muss man bemerken, dass in unserer Gesellschaft etwas in dieser Art passiert: Wir haben, oft unter großen Opfern, institutionelle Rahmenbedingungen geschaffen, deren Zweck die Verwirklichung der Freiheit war. Und dennoch haben wir uns auch zu einer Gesellschaft entwickelt, in der das Selbst beschnitten wird, einer Gesellschaft, die es einem sehr schwer macht, Objekte der Identifikation zu finden, damit ein Selbst entstehen könnte.

Zwei

Schluss­folgerungen

Und das zieht zwei einfache Schlussfolgerungen nach sich. Zum einen verstehen wir nun allmählich eine Erfahrung besser, die viele von uns gemacht haben. Es ist ein Gefühl der Enttäuschung, ein Gefühl, betrogen worden zu sein. Es verschafft sich in Wutausbrüchen Luft und in einer verzweifelten Suche nach diesem „Mehr“, das man eigentlich erwartet. Für diese Erfahrungen haben wir nun die Umrisse einer Erklärung: Wir haben die Institutionen, die uns eigentlich Freiheit geben sollten, und doch erleben wir Freiheit nicht; in unserem wirklichen Leben entzieht sie sich uns, so wie sich der Becher dem Tantalus entzog. Und wenn sogar wir, die wir privilegiert sind und keinerlei Mangel leiden, die wir zur Erklärung dessen, was uns fehlt, auf keine Ungerechtigkeit verweisen können – wenn sogar wir uns zu kurz gekommen fühlen, dann vielleicht deshalb, weil uns diese andere Seite fehlt: ein Selbst, das diese Institutionen ausfüllen könnte, ein Selbst, das allein in und durch seine Taten Freiheit Wirklichkeit werden lassen kann.

Die andere Schlussfolgerung führt uns zu der Erkenntnis, dass uns weitere Veränderungen und die immer sorgfältigere Weiterentwicklung der alten Institutionen vielleicht nicht weiterhelfen. Das Versagen, der Fehler liegt vielleicht gar nicht bei ihnen; der Mangel entspringt womöglich nicht ihrer Unzulänglichkeit, sondern rührt aus einer ganz anderen Quelle her. Wenn die Vorbedingung der Freiheit ein Selbst mit einer stabilen Identität ist, dann werden die üblichen Heilmittel aufgrund einer Fehldiagnose verschrieben – wir haben einen Schuh geweitet, der gar nicht drückte. Es könnte sein, dass wir ein völlig anderes Problem angehen müssen, wenn wir eine Gesellschaft schaffen wollen, die uns Freiheit gibt. Solch eine Gesellschaft müsste so aufgebaut sein, dass ein Selbst in ihr Identifikationsobjekte finden könnte, und das Mindeste, das hierzu letztendlich erforderlich ist, ist vielleicht eine Gesellschaft, für die dieses Selbst sich nicht schämt.

4 Fjodor Dostojewskij, Aufzeichnungen aus dem Untergrund, übers. von Hartmut Herboth, Berlin/Weimar: Aufbau, 1994. Der Text ist im Deutschen auch unter dem Titel Aufzeichnungen aus dem Kellerloch bekannt, übers. von Swetlana Geier, Stuttgart: Reclam, 1984.

5 Lat. „das höchste Gut“, theologischer Ausdruck für die Gotteserkenntnis.

6 Regie: David Lean (1964). Lawrence von Arabien kämpfte im Ersten Weltkrieg auf britischer Seite gegen das mit den Mittelmächten verbündete türkisch-osmanische Großreich (Anm. d. Übers.)

7 Deutsche Ausgaben z. B.: Platon, Der Staat, übers. und erl. von Otto Apelt, hrsg. von Karl Bormann, Hamburg: Meiner, 111989; Platon, Politeia, hrsg. von Otfried Höffe, Berlin: Akademie-Verlag, 1997 (Klassiker auslegen, Bd. 7); Platon, Der Staat, übers. und hrsg. von Karl Vretska. Stuttgart: Reclam, 1982.

8 Deutsche Ausgaben z. B.: Aristoteles, Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übers. von Eugen Rolfes hrsg. von Günther Bien, Hamburg: Meiner, 41985; Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. von Franz Dirlmeier, Stuttgart: Reclam, 1969.

„Ich feiere mich selbst und singe mich selbst,

Und was ich mir anmaße, sollst du dir anmaßen,

Denn jedes Atom, das mir gehört, gehört auch dir.“

Walt Whitman, „Gesang von mir selbst“

3
Freiheit und absolute Unabhängigkeit

Die Hauptkategorien, die wir bisher eingeführt haben – Identität versus Abspaltung oder Dissoziation –, sollten auf die allersimpelste Weise verstanden werden. Zunächst wollen wir diese Begriffe ihrer reichhaltigen Assoziationen entkleiden und sie nur benutzen, um die als Teile des Selbst akzeptierten Elemente von den nicht akzeptierten abzugrenzen, und wir halten diese Zweiteilung für eine schlichte, unkomplizierte Tatsache. Mit jeder der verschiedenen Identitäten geht jedoch eine andere Art einher, die Gesamtheit der Erfahrung zu strukturieren.

Konzentration auf den „Untergrund“-Typus

Man könnte all die vielfältigen Muster studieren, die sich aus den verschiedenen Identifikationen für die Erfahrung ergeben, aber wir werden uns hauptsächlich auf die Konsequenzen aus der Struktur konzentrieren, die wir mit dem Untergrundmenschen in Verbindung brachten, in der kein Teil des Selbst akzeptiert wird und die Identität gleichsam ein bloßer Punkt ist.

Einer der Gründe für diese Entscheidung ist die bereits angedeutete Möglichkeit, dass unsere Kultur die Ausprägung dieses Typus fördert. Tatsache ist aber auch, dass jedem Versuch, die Qualität echter Freiheit einzufangen, immer die Frage im Nacken sitzt: Ist das jetzt genug? Wäre das Zusammentreffen dieser Bedingungen ausreichend, um einen Menschen „wirklich“ frei zu machen? Diesen Typus zu studieren hat den Vorteil, dass im Falle einer vollständigen Dissoziation das Verlangen nach bedingungsloser und totaler Freiheit ans Licht kommt und Form annimmt. Deshalb liegen darin vielleicht Hinweise verborgen, was unter „wirklich frei“ und „absolut unabhängig“ zu verstehen sein könnte.

Wie sieht also die Psychologie dieser Minimal-Identifikation aus? Ein Merkmal ist offensichtlich grundlegend für diesen Typus: Es dürfte das unausweichliche und nahezu konstante Gefühl herrschen, dass die eigenen Qualitäten und Handlungen alle nur aufgesetzt sind, dass sie keiner tief verwurzelten, soliden Notwendigkeit erwachsen, sondern irgendwie zufällig sind. Man könnte unschwer auch ein ganz anderer sein, man ist lediglich aufgrund einiger zufälliger Umstände in diese statt in irgendeine andere Rolle gefallen.

Im Untergrundmenschen äußert sich dieses Gefühl der Inauthentizität als Klage, er „habe keine Eigenschaften“, was ihn zu dem Gedanken verleitet, es wäre doch so tröstlich und beruhigend, wenn er wenigstens ein regelrechter Taugenichts wäre oder zumindest eine Säufernase hätte. Ein Taugenichts zu sein würde seiner ganzen Existenz Kontur und Substanz verleihen – es wäre wie ein Beruf. Dieses Gefühl, keine Eigenschaften zu haben oder sie als fremd zu empfinden, so dass sie das Selbst nicht definieren können und es daher leer und farblos erscheinen muss, ist fast wie eine nochmalige Formulierung oder erweiterte Beschreibung dessen, was wir Nicht-Identifikation genannt haben.

Aber dieser scheinbar simple Grundzug kann eine ganze Reihe von Konsequenzen haben. Nehmen wir zum Beispiel die Bosheit, die Dostojewskij seinem Untergrundmenschen zuschreibt, die Hand in Hand geht mit der Feindseligkeit, die er allen anderen entgegenbringt, und dem Hass, den er auf sich selbst hat. Man könnte diese Merkmale unmittelbar aus dem durch seine Identität erzeugten Freiheitsverständnis ableiten. Denn dieser Typus fühlt sich nur in einer völlig willkürlichen Handlung wirklich frei, wenn also die Handlung weder durch rationale Überlegung noch durch irgendetwas anderes in oder außerhalb von ihm ausgelöst wird. Die Kehrseite davon lässt uns ahnen, wodurch sein Selbsthass genährt wird: Wenn er sich nur in solchen Handlungen frei fühlt, dann muss er mit dem ständigen Gefühl leben, Opfer und Manipulationsobjekt zu sein. Niemand kann eine große Anzahl rein willkürlicher Handlungen ausführen; sie sind von Natur aus ziemlich selten. Die meiste Zeit wird er auf einen Impuls reagieren oder einer rationalen Überlegung gehorchen. Er muss über die Straße gehen und seinen Magen füllen. Und wenn er all das als heimtückischen Zwang empfindet, als etwas, das ihm aufgezwungen wird, etwas, das er nur tut, weil er nicht stark genug ist, ihm zu widerstehen, dann muss er zwangsläufig eine nicht enden wollende Verzweiflung empfinden. Die meisten Leute reagieren schon empfindlich, wenn auch nur kleine Elemente in ihrem Erleben den Unterschied verwischen zwischen dem, was sie wollen, und dem, was offensichtlich äußerlicher Druck ist – wenn sie nicht mehr wissen, ob sie ihrem eigenen Willen folgen oder dem eines anderen. Und doch würde sich diese Konfusion durch das gesamte Erleben dieses Menschen ziehen. Würde eine Situation von ihm die banalsten, natürlichsten Reaktionen verlangen oder würde er ein gewöhnliches, alltägliches Bedürfnis befriedigen, könnte er niemals sagen: „Ja, das habe ich gewollt.“ Die ruhige Abgeklärtheit solch einer bündigen Aussage wäre unerreichbar für ihn. Seine Welt wäre voller verborgener, höhnischer Mächte.

Auf diese Weise würde seine Feindseligkeit gegenüber allen anderen zu etwas Natürlichem, und so würde sich erklären, warum er seinen Spleen und seine Launenhaftigkeit an jedem auslässt, der ihm in die Finger gerät. Er fühlt sich ständig unter Druck gesetzt. Er sieht sogar hinter dem üblichen Austausch von Höflichkeiten eine Strategie, in der ein Teil seines Wesens von dem Bekannten aktiviert wird, den er grüßt, und der auf diese Art gegen seinen Widerstand eine kleine Nettigkeit aus ihm herauszwingt. Wenn er schon die Kleinigkeiten des sozialen Verkehrs so empfindet, dann gnade ihm Gott in komplizierteren Situationen. Was für eine Menge an Wut und Zorn muss sich, gespeist von einem unaufhörlichen Strom von Demütigungen, in ihm aufstauen. In seinen Augen besitzen alle anderen ein dämonisches Wissen über seine inneren Regungen, wodurch sie ihn immer dazu bringen können, ihren Willen zu tun. Was könnte sie auch daran hindern? Egal, welche Reaktion sie hervorrufen, sie wird nie das sein, was er will, denn jeder Einfluss, jede Ursache, jeder Grund ist eine Einmischung. Solch ein Mensch wird also genau wie der Untergrundmensch sein ganzes Leben lang hinter einem Schreibtisch lauern, um sich auf einen Bittsteller zu stürzen. „Ein einziges Mal jemandem meinen Willen aufzwingen“ – das ist vielleicht sein großer Traum. Er würde sich wie der Untergrundmensch den hochnäsigen, blasierten Schulkameraden von früher aufdrängen, obwohl er weiß, dass sie ihn verachten; und er würde es genau deswegen tun, weil er nicht eingeladen ist, und vor allem: eben weil sie ein Abschiedsessen geben, bei dem er auf groteske Weise fehl am Platz ist. Er wird alles tun, um das Wissen zu ersticken, dass er an einem Nasenring herumgeführt wird, den andere ihm eingehängt haben.

Wenn das die Ursache für seinen ihn zum Außenseiter machenden Hass auf andere sein könnte, könnte es auch die Quelle für seinen Selbsthass sein. Auch der könnte sich durch den Ort erklären lassen, den er seinem „wahren Selbst“ zuweist. Wenn er andere hasst, weil sie ihn in allen Situationen tyrannisieren, dann hasst er sich, weil er das zulässt, weil er unfähig ist zu größerem Widerstand, kurz gesagt, wegen dem, was ihm als seine unerträgliche Schwäche vorkommen muss. Das Ausmaß der Schwäche, die er in sich selbst sieht, lässt sich an der Tatsache ermessen, dass er sogar seine eigenen Gedanken als objektive Kräfte erlebt. Sie sind nicht seine Gedanken. Von seinem Standpunkt aus gesehen gibt es einen anderen, der unablässig Gedanken auf ihn abfeuert, und ihr Ergebnis unterliegt nicht seinem Willen. Um ein kurzes Beispiel zu geben: Gegen Ende des zweiten Kapitels von Teil II des Romans beschreibt der Untergrundmensch die Momente unmittelbar vor seinem unerwünschten Besuch bei den Schulkameraden, die er hasst und fast ein Jahr lang nicht gesehen hat. „Während ich zu Simonow in die vierte Etage hochstieg, überlegte ich mir, dass ich ihm gewiss zur Last fallen würde und mein Besuch also sinnlos war. Aber da derlei Erwägungen wie zum Tort bei mir immer damit endeten, dass ich mich noch mehr angespornt fühlte, mich in zweifelhafte Situationen zu begeben, ging ich hinein.“9 Das ist eine Situation, wo er eine in ihm vorgehende Überlegung beobachtet und weiter sieht, welchen Effekt diese Überlegung bei ihm auslöst.

… Selbsthass …

Man könnte sagen, dass dieser Typus die Umkehrung eines Stoikers darstellt. Die Stoiker versuchten, den Wechselfällen der Existenz die Stirn zu bieten und zumindest ihre eigenen Reaktionen auf sie unter Kontrolle zu bringen. Jeder Mensch hatte in seinem eigenen Geist sein eigenes Königreich. Aber es gibt überhaupt keinen Ort, den dieser von sich selbst entfremdete Mensch sein Eigen nennen könnte und über den er Macht hätte.

Das wirft ein Licht auf die merkwürdige „Passivität“, über die sich Menschen mit solch einer Identität beklagen. Der Untergrundmensch beschreibt seine „Unfähigkeit zu handeln“ sehr ausführlich. Angeblich sieht er bei jeder Frage zu viele Aspekte. Jedes Motiv wird geprüft, bis es sich sozusagen in seine Bestandteile auflöst. Jeder Zweifel wird gehätschelt, so dass sein Geist nie das Gleichgewicht, die Stabilität gewinnt, um eine echte Handlung auszuführen. Aber ist ein klares Bewusstsein des eigenen Selbst so lähmend, und ist er, um hier einmal nachzuhaken, in der Tat so „passiv“? Befindet er sich nicht vielmehr in einer andauernden Hetze pausenloser Beschäftigung? Und lautet deshalb die eigentliche Frage nicht vielmehr: Was gibt diesem Menschen die Illusion, dass er zur kleinsten Handlung unfähig sei? Sein eigentlicher Anklagepunkt ist nicht, dass er nicht handeln kann: Er besteht vielmehr darin, dass keine seiner Handlungen ganz ihm gehört; er hat nie das Gefühl, dass er es ist, der sie ausführt. Um ihn herum flammen sie auf, passieren, lassen ihn zurück, und dann verfolgt er sie. Sein Gefühl der Passivität könnte sich deshalb direkt aus der „Transzendenz“ ableiten, die er seinem „wahren Selbst“ zuweist. Man könnte sagen, dass er etwas Unmögliches verlangt. Er hat alle Antriebe, die möglicherweise ein Handeln hervorrufen könnten, objektiviert und von sich abgespalten. Er ist der reine Zuschauer, der astrale, körperlose Beobachter. Somit betrachtet er alles, was eine Handlung auslösen könnte, als eigentlich nicht zu sich gehörig, und was er als zu sich gehörig betrachtet, kann keine Handlung auslösen. Er muss sich als passiv empfinden. Aber der Grund dafür liegt nicht in einer übertriebenen Bewusstheit. Er liegt tiefer und ist zugleich zwingender: Angesichts seines Selbstbildes ist es unausweichlich. Es folgt einer gradlinigen Logik der Elimination.

… Gefühl der

Inauthentizität …

Zu sagen, dass er überhaupt keine Handlung als die seine erlebt, wäre natürlich etwas übertrieben. Es gibt Ausnahmen, nämlich die willkürlichen, launenhaften Handlungen. Diese jedoch betrachtet er als die seinigen genau deshalb, weil sie keine Grundlage zu haben scheinen. (Natürlich haben sie objektiv gesehen wahrscheinlich ihre Gründe, aber uns geht es nun um sein Erleben.) Das zeigt seinen Selbsthass noch einmal aus einer anderen Perspektive. Bedenken wir, dass er nur seine willkürlichen Handlungen für sich beansprucht und sich von all denen mit echten Motiven distanziert. Das bedeutet, dass er sich auf vernünftige Taten nie etwas zugute hält, sondern nur für verrückte, zweckfreie Verantwortung übernimmt. Wenn man die Handlungen, die man sich auflädt, auf diese Weise aussucht, muss die Last einen in die Knie zwingen.

Aber seine Selbstwahrnehmung ist noch komplexer und lehrreicher. Sie ist zutiefst ambivalent oder, genauer gesagt, sie kippt von einem Extrem ins andere. Und auch dieser Aspekt des Syndroms lässt sich durch den Ort erklären, an dem die Grenze zwischen dem Akzeptierten und dem Abgespaltenen gezogen wird. Eine ausführlichere Beschreibung der komplizierten Struktur, die seinen Anfällen von Selbstbeschimpfung zugrunde liegt, müsste bei dem Paradox seines monströsen Größenwahns beginnen. Karen Horney hat einmal gesagt, dass der Neurotiker sich selbst als Gott betrachtet, und etwas Ähnliches muss vorliegen, wenn das Selbst sich mit einem „Großen Subjekt“ identifiziert, das alle Erfahrung beobachtet. Wenn nämlich das „wahre Selbst“ nur der ungreifbare, postulierte Punkt ist, von dem aus das Erleben gesehen wird, dann kann keine Schwäche und kein Versagen im eigenen Verhalten je dieses Selbst modifizieren oder beflecken. Nichts kann es je zwingen, aus seiner Höhe herabzusteigen, und so bleibt es gottgleich und unantastbar. Die Gesamtheit der eigenen konkreten, ungelösten Existenz verbindet sich nicht mit der unbefleckten Essenz des eigenen Wesens. Sie wird als missgestaltete und trügerische Hülle abgetan, während der Kern unschuldig und makellos bleibt. Und dennoch steht ihm genau diese Makellosigkeit unausweichlich als alles übersteigender und hoffnungslos hoher Maßstab gegenüber. Weil seine Erfahrung sein eigentliches Selbst nie befriedigt, bleiben dessen Ansprüche absolut, und daraus entsteht sein Selbstekel. In den Stunden, in denen er sich selbst nicht genügend erniedrigen kann, hält er die Realität seiner alltäglichen Erfahrung gegen diesen unmenschlichen Maßstab, und dann findet er sich selbst natürlich so minderwertig, dass er sich wie eine „Maus“ oder bloßes „Ungeziefer“ vorkommt. Die Momente, in denen das Pendel in die andere Richtung schwingt, wenn er von den Höhen seiner wahnwitzigen Arroganz auf die anderen herabsieht, stellen in dieser Interpretation nur die Kehrseite desselben Musters dar: In ihnen vergleicht er nicht sich selbst, sondern andere mit seinem absoluten und sakrosankten „wirklichen“ Selbst.

1 149,11 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
453 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783867813648
Переводчик:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают