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Verzweifelte Suche nach Freiheit: Dostojewskijs „Mann aus dem Untergrund“

Grenzfall einer extremen Form von Freiheit

Als ein erstes Beispiel werden wir diesen Gefühlen eine ungezügelte und drastische Version der Freiheit gegenüberstellen. Es ist gerade das Extreme an ihr, was sie theoretisch lehrreich macht. Man könnte sie mit einem mathematischen oder juristischen Grenzfall vergleichen. Das Grundmaterial dieser prinzipiellen Sichtweise findet sich vielerorts, aber in besonders schlagender Form wieder bei Dostojewskij, diesmal in den Aufzeichnungen aus dem Untergrund4.

In der ersten Hälfte dieses Werkes, in der der in einer erbärmlichen Kellerwohnung hausende, verspottete, ständig auf und ab gehende kleine Regierungsbeamte seine Philosophie der Bosheit zu Papier bringt, gibt es eine Passage, in der Dostojewskij diesen Teil des Romans zu einem konzentrierten, kraftvollen Höhepunkt führt. Sein kleiner Beamter erklärt, dass nur ein Akt schierer Willkür, ausgeführt in völliger Unabhängigkeit, unter Missachtung jeglicher Vernunft und Vorteilhaftigkeit, eine wahrhaft metaphysische Dimension hat. Er proklamiert es als das summum bonum.5 Nichts anderes gibt dem Menschen wahre Freiheit. Nur solch ein Akt durchbricht den neutralen Panzer der Anonymität, der den Menschen gefangen hält. Allein auf diese Weise kann der Mensch einzigartig werden und sich dauerhaft von anderen abheben. Andernfalls hat das Selbst nicht mehr Identität oder Kontur als ein Ei unter einem Dutzend anderer.

Dieser kleine Beamte hat einen Freund, von dem er sagt: „Schickt sich dieser Herr zu einer Tat an, wird er ihnen sogleich wortreich und eindeutig darlegen, wie er nach den Gesetzen der Vernunft und der Wahrheit vorzugehen habe. Mehr noch: er wird Ihnen eine erregte und leidenschaftliche Rede über die wahren, normalen Interessen des Menschen halten, wird stotternd über die kurzsichtigen Dummköpfe herziehen, die weder ihre Vorteile noch den wahren Wert der Tugend zu erkennen vermögen, und – er kann eine Viertelstunde darauf ohne jede plötzliche äußere Ursache, vielmehr aus innerem Antrieb, der stärker ist als alle vorgetragenen Interessen, ganz anders handeln, das heißt deutlich wider seine eigenen Worte, wider die Gesetze der Vernunft, wider den eigenen Vorteil, kurz, gegen jede bessere Einsicht.“

In einem Ausbruch der Verzweiflung attackiert Dostojewskijs kleiner Beamter all die „Statistiker, klugen Forscher und Freunde der Menschheit“, all die klugen und berechnenden Systematiker, und schleudert ihren Bemühungen seine einzige, seiner Meinung nach jedoch vernichtende Erwiderung entgegen. All ihre auf Vernunft gegründeten, sorgsam konstruierten Gebäude müssen einstürzen, so behauptet er, denn in ihrer Aufzählung der Ziele und Zwecke, die der Mensch verfolgt, fehlt ein Ziel und Desideratum zwangsläufig. Und ironischerweise ist es das Wichtigste; es ist der „über alles vorteilhafte Vorteil“. Dieses Gut, das „wichtiger und vorteilhafter ist als alle anderen, besteht genau darin, „gegen alle Gesetze zu handeln; das heißt, gegen Vernunft, Ehre, Ruhe und Wohlstand – mit einem Wort gegen alle herrlichen und nützlichen Dinge“, es ist der „eigene ungezwungene freie Wille, die eigene, womöglich ungezügelte Laune, die eigene mitunter bis zum Irrsinn aufgestachelte Phantasie … Woher nehmen all die klugen Denker ihre Weisheit, dass der Mensch ein ‚normales‘, tugendhaftes Wollen nötig habe? Wieso bilden sie sich unerschütterlich ein, er brauche unbedingt einen vernünftigen, vorteilbringenden Willen? Was der Mensch braucht, ist allein das selbständige Wollen, was diese Selbständigkeit auch kostet und wohin sie auch immer führt.“

Freiheit als völlige Unabhängigkeit …

Dass eine repräsentative Formulierung dieser Idee von Freiheit nicht in einem klassischen philosophischen Text vorkommt, sondern stattdessen bei einem Romancier wie Dostojewskij gesucht werden muss, sollte uns nicht überraschen. Sogar diejenigen Philosophen, die den Fähigkeiten der Vernunft Grenzen setzen, neigen nicht dazu, Freiheit nur mit solchen Handlungen zu identifizieren, die gegen sie verstoßen. In literarischen Werken jedoch finden sich Varianten dieser Idee ziemlich oft (etwa bei William Blake; oder in André Gides „acte gratuit“, „zweckfreier Handlung“; oder bei D. H. Lawrence). Außerdem, wenn es so etwas wie eine grundlegende erfahrungsmäßige Bedeutung der Idee der Freiheit gibt, dann ist sie von den Ansichten des Mannes im Kellerloch nicht weit entfernt – und eher als eine vorsichtige philosophische Definition neigt natürlich die Literatur dazu, solche archaischen Regungen festzuhalten. Die Idee, völlig ungebunden zu sein, sich keiner wie auch immer gearteten Autorität zu unterwerfen (nicht einmal der der Vernunft), ganz unbeschwert zu handeln – diese Vorstellung scheint der Grunderfahrung der Freiheit ziemlich nahe zu kommen und beinhaltet etwas von ihrer ursprünglichen Anziehungskraft. Und da in allem Reden über Befreiung noch die Erinnerung an diese Erwartung durchscheint, haben wir damit begonnen.

Die Tragweite dieser Idee der Freiheit lässt sich besser erfassen, wenn die verschiedenen Arten, in denen sie eine äußere Grenze darstellt, ein Maximum, im Detail bestimmt werden:

… als Verstoß gegen

die Vernunft …

Es ist nicht nur so, dass der Mensch in allen seinen unfreien Handlungen wie eine Marionette von den Fäden der Natur- und Vernunftgesetze gelenkt wird – „der verwünschten Gesetze“ –, so dass er eine „Klaviertaste“ ist, gleichgültig, anonym, abhängig, wogegen nur die willkürliche Handlung, die Handlung aus einer Laune heraus, anders ist, weil sie die Möglichkeit der Einzigartigkeit und der Identitätsbildung schafft – wir haben auch das extreme Beharren darauf, dass Freiheit notwendigerweise Verstoß gegen Rationalität heißt. In dieser Hinsicht ähnelt diese Vorstellung dem Standpunkt, den vielleicht ein Sohn im Kampf um seine Unabhängigkeit vom Vater einnimmt. Auch einem Sohn scheint vielleicht bloße „Unabhängigkeit“, die Tatsache, seine eigene Entscheidung zu treffen, nicht ausreichend. Er erlebt „wirkliche“ Freiheit nur, wenn er sich in direkter Opposition zu den Wünschen des Vaters befindet. Es ist, als ob nichts seinen Maßstäben genügen könnte, was zu solch demonstrativer Freiheit nicht taugt. Das ist ein wesentlicher Zug in den Ansichten des Untergrundmenschen, den ohne ihn könnten die „Systeme und Theorien“ nicht zu „Staub zertreten“ werden. Das geschieht nur, weil Freiheit für ihn gerade aus Handlungen besteht, die der Vernunft „zuwiderlaufen“ und weil diese Freiheit der „über alles vorteilhafte Vorteil“ ist.

… als absoluter Wert an sich

Diese Idee der Freiheit berührt noch eine andere äußere, nicht zu überschreitende Grenze, wenn er diese Widersetzlichkeit gegen die Vernunft nicht im Namen einer Spontaneität propagiert, die von zu viel Rationalität beschädigt werden könnte, und auch nicht zugunsten einer Emotion oder einer Sensibilität, sondern als absolutes und letztendliches Ziel.

Dem könnte man hinzufügen, dass das Verstoßen gegen die Rationalität auch noch in anderer Hinsicht eine nicht mehr zu übertreffende Bedingung darstellt: Man könnte schiere Vernunft als letzten und am wenigsten lästigen von allen „Zwängen“ ansehen; sich sogar dagegen zu erheben stellt eine Art Maßstab dar. Wenn eine Handlung weniger ist als frei, bloß weil ein Grund für sie vorhanden ist, was zählt dann noch? Nur eine Handlung, die sich aus dem Nichts materialisiert. Es ist, als könnte es keinen wie auch immer gearteten Kontext geben, als könnte in diesem Sinne eine Handlung nur „frei“ sein im grenzenlosen Akt der Schöpfung – als Gott sprach: Es werde Licht.

Frage nach dem Lebensgefühl eines solchen Menschen

Diese Version der Freiheit provoziert offensichtlich zahlreiche Fragen, aber für den Moment wollen wir außer Acht lassen, wie sich dieses Konzept gegenüber anderen, konkurrierenden Behauptungen über die Freiheit irgendwie rechtfertigen ließe oder ob jemand dem Ausleben blindester und störrischster Launenhaftigkeit ernsthaft solch einen herausragenden Wert beimessen würde. Wir werden uns stattdessen auf einen einzigen Punkt konzentrieren: Welche Erfahrung bringt diese Idee der Freiheit mit sich? Was für eine generelle Beziehung zur „Vernunft“ muss jemand haben, wenn dieses Konzept für ihn stimmig sein soll? Anders gesagt, wie muss er seine Gedanken erleben, die ihm in einem bestimmten Fall einen „vernünftigen“ oder „umsichtigen“ Weg suggerieren, wenn das Einschlagen dieses Weges dann „unfrei“ ist, bloßer Gehorsam und Unterwürfigkeit?

Entfremdete Vernunft

Die Frage stellen heißt sie beantworten. Die Behauptung des Untergrundmenschen, dass man gegen die Vernunft handeln muss, um frei zu sein, impliziert, dass er seine Rationalität als etwas ihm Fremdes erlebt. Ich meine nicht, dass er buchstäblich glaubt, seine Gedanken seien die eines anderen (das wäre Wahnsinn), aber wenn er sich einem Zwang beugt, wenn er seinen Gedanken gehorcht, dann muss da eine gewisse Distanz existieren, ein Gefühl, dass sie kein intimer Teil seiner Person sind. Seine Vernunft kann ihn nur dann unfrei machen, wenn sie nicht zu seinem eigenen wahren Selbst gehört. Irgendwo muss da eine gewisse Entfremdung herrschen. Er muss seine rationalen Gedanken irgendwie als „von woanders her kommend“ empfinden; als „Objekte“ für ein „Subjekt“, als „Dinge“, denen er begegnet und mit denen er konfrontiert ist.

Und das trifft auf Dostojewskijs gedemütigten, boshaften, unproduktiven kleinen Beamten zu. In allen möglichen Situationen gibt ihm seine Vernunft solide Ratschläge: sich nicht in die Abendgesellschaft seiner Freunde zu drängen, wo er unerwünscht ist, wo er auf groteske Weise fehl am Platz wäre, peinlich und die Zielscheibe zahlloser Witze; seine fortgesetzten Überlegungen aufzugeben, wie er sich an dem Offizier rächen könnte, der ihn im Billardsalon „in seine Schranken verwiesen“ hat. Aber es ist immer dasselbe. Er erlebt diese „Vernünftigkeit“ als einen weiteren Zügel, der ihm angelegt werden soll (im Grunde die niederträchtigste aller Fesseln, denn sie ist der Feind im eigenen Lager); und so hört er ihr fasziniert zu, rennt dann jedoch mit aller Kraft gegen sie an, durchbricht sie und tut genau das, vor dem er gewarnt worden ist. In seiner Sicht der Dinge sind diese rationalen Ratschläge letztendlich nicht seine Fürsprecher. Sie verkünden das Interesse der Gesellschaft oder etwas noch Vageres, die Urteilssprüche von Recht und Ordnung. Mächte, die ihn überwältigen, die seine Individualität auslöschen wollen, sprechen zu ihm mit einer Stimme, die als seine eigene getarnt ist. Damit sind sie Diktate und Zwangsmaßnahmen, die nicht von ihm ausgehen, sondern ihm aufgedrängt und aufgezwungen werden. Sie zu befolgen heißt, immer noch an der Nase herumgeführt zu werden. Seine Vernunft kann ihm höchstens zeigen, welche unpersönlichen Überlegungen sich wie beeinflussen, gegenseitig aufheben oder die Oberhand behalten. Würde er im Einklang mit ihr handeln, so würde er nur ihre neutralen und gefühllosen Schlussfolgerungen ausführen. Er wäre weiterhin nichts als anonyme Passivität, eine träge Masse, die sich dem Druck beugt.

Es wäre falsch, die Erfahrung des Untergrundmenschen als bizarr und unglaubhaft einzustufen und zu meinen, etwas so Seltsames könnte in Bezug auf das Normale und Vertraute kaum aussagekräftig sein. Im Gegenteil: Es geht gerade darum, dass er auf eine ganz ausgeprägte Art und Weise ein Syndrom verkörpert, das in abgeschwächter Form jeder von uns kennt und das alltäglich, ja trivial geworden ist. Eine sehr alltägliche Situation, in der auch wir unser Denken als einen objektiven Prozess erleben, der außerhalb von uns stattfindet, ereignet sich beispielsweise, wenn wir nach einer Party oder einer Prüfung wach liegen und nicht schlafen können, weil jetzt, um drei Uhr morgens, unser Geist mit all den schlagfertigen Erwiderungen und geistreichen Antworten aufwartet, die er uns vorher vorenthielt. Wenn unsere Gedanken, verliebt in ihre eigene Produktivität, immer aufgeregter weiterplappern und es auf vier Uhr zugeht, dann ist es nur natürlich, wenn wir uns gegen sie stellen und schimpfen: „Still jetzt!“ Bald könnten sie auch von einem Plattenspieler unterm Bett kommen, der immer weiterläuft, und während das Geschwätz zu verebben scheint, schlafen wir vielleicht ein.

Extreme Form

einer alltäglichen Erfahrung

In so einer Nacht erfahren auch wir unsere Gedanken als Ereignisse, die wir beobachten, die in einer gewissen Distanz stattzufinden scheinen und die im Grunde nicht von uns selbst gedacht werden. Und das ist keineswegs ungewöhnlich oder seltsam. Etwas ganz Ähnliches passiert jedes Mal, wenn wir Schwierigkeiten haben, uns zu konzentrieren. Auch dann scheinen unsere Gedanken ihre eigenen Wege zu gehen und nicht unserer Kontrolle zu unterliegen.

Weitere Beispiele

Aber es gibt auch extremere und einprägsamere Fälle: Nehmen wir die letzten Sekunden, bevor Sie zum ersten Mal mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug abspringen. Sie haben jede Bewegung viele Male geübt und schon vor Tagen den Entschluss gefasst, nicht im letzten Moment noch einen Rückzieher zu machen, und alle wahrscheinlichen psychischen Reaktionen sind vorher schon einmal durchgegangen worden. Wenn Ihr Geist, wie vorauszusehen, in den letzten Minuten des Anfluges wild flattert wie ein verängstigter Vogel, dann distanzieren Sie sich vielleicht auch von ihm. Vielleicht hören Sie ihm ungläubig und ungerührt kurz zu, aber dann schließen Sie die Tür seiner kleinen Zelle und begeben sich in die Obhut Ihres Körpers, damit dessen trainierte Reflexe das Kommando übernehmen können. Sie springen, fühlen, wie Sie fallen, und kommen erst wieder zu Ihrem Geist zurück, wenn Sie mit einem dumpfen Geräusch landen.

Betrachten wir zwei weitere Beispiele: Sie schieben Ihren Einkaufswagen durch den Supermarkt, müde von einem anstrengenden Tag, und hartnäckig dudelt in Ihrem Kopf immer wieder der Werbespruch „Coke macht mehr draus“, bis Sie sich, zermürbt, plötzlich vor dem Kühlregal wiederfinden und bereits nach der entsprechenden Dose greifen. Oder, um es noch klarer zu machen: Stellen Sie sich vor, Sie wären hypnotisiert worden und führten jetzt nach dem Erwachen den Befehl aus, sechs Gläser Wasser hintereinander zu trinken, und nehmen Sie dabei an, man habe Sie nur zum Gedanken an diese Handlung aufgefordert und nicht, tatsächlich durstig zu sein.

Damit sollte die wesentliche Parallele deutlich hervortreten. In beiden Situationen würden Sie ­– wie der Mann aus dem Untergrund ­– Ihre Gedanken nicht als welche erleben, die zur Gänze von Ihnen selbst stammen, und Sie würden auch erkennen ­– ebenfalls wie der Mann aus dem Untergrund –­, dass Sie „gegen sie“ handeln müssten, um frei zu sein.

Eine weitere Parallele zur extremen Auffassung des Untergrundmenschen von der Freiheit findet sich in einer Szene des Films über das Leben von T. E. Lawrence (Lawrence von Arabien)6 Sie kommt im letzten Drittel des Films vor, als Lawrence bereits eine kleine, aber schlagkräftige arabische Armee kommandiert, die schon eine lange Reihe glänzender Waffentaten vorzuweisen hat. Nach einem momentanen Rückschlag ist Lawrence dabei, eine größere, gut geplante Unternehmung vorzubereiten, die einen Sieg über die Türken und seinen Männern Ruhm und Beute verspricht. Er braucht jedoch mehr Truppen, und die Szene schildert seine Unterredung mit einem stolzen Stammesführer. In ihrem Verlauf trägt Lawrence dem Häuptling ein Argument nach dem anderen vor: „Dein Ruhm wird sich überall verbreiten, wenn du dich mir anschließt. Wir werden viel Geld machen. Das ist die Chance, mit den Türken abzurechnen, auf die du so lange gewartet hast. Zusammen werden wir dein Volk aus der Knechtschaft herausführen. Wir werden sie aus ihrem Untertanendasein befreien. Du kannst der Gründervater einer neuen, stolzen Nation sein.“ Unnahbar und ungerührt bleibt der Araber sitzen. Verächtlich schüttelt er bei jedem dieser Gründe den Kopf. Aber er weiß sehr gut, wie stichhaltig sie sind, und er spürt es. Seine Geste ist eine Weigerung, eine Abwehr; im Grunde zeigt sie seine Entschlossenheit, sich ihrem Gewicht nicht zu beugen. Schließlich ist Lawrence’ Arsenal erschöpft. Er hat jeden Grund angeführt, und jeder ist mit demselben Kopfschütteln beantwortet worden. Nun schweigen beide Männer, bis Lawrence kurz davor ist, sich zu erheben und knapp zu verabschieden. Da endlich spricht der Häuptling: „Ich schließe mich dir an“, sagt er, „aber nicht wegen des Ruhms, nicht wegen des Geldes; nicht einmal wegen meines Volkes. Nicht aus irgendeinem der Gründe, die du aufgezählt hast. Ich tue es, aber nur, weil es mir gerade in den Sinn kommt.“ Dieser Mann handelt im Grunde nicht gegen, sondern gemäß der Vernunft. Und doch will er das bemänteln, es als puren Zufall hinstellen. Wenn sein Handeln Resultat vernünftiger Überlegung wäre, wäre es wertlos. Dann wäre er nur ein Diener, der tut, was er tun muss. Also besteht er darauf, dass es willkürlich ist, eine bloße Laune. So versucht er, sein Handeln von allen äußeren Faktoren zu isolieren, ihm Autonomie zu geben und den Anschein, als rühre es nirgendwo her. Er gibt es frei und macht es sich dadurch zu Eigen.

Die Auffassung von Freiheit, die wir gerade untersucht haben, ist offensichtlich eine „späte“. Tief in der Subjektivität verankert, ist ihre düstere Pracht und verzweifelte Extravaganz die letzte Variation eines Themas, die in brillantem Eigensinn noch einmal einen ansonsten abgeflauten Impuls rekapituliert. Wir wenden uns nun dem gegenüberliegenden Punkt dieses Horizontes zu und blicken auf den Anfang, auf eine sehr frühe, recht primitive und deshalb umso aussagekräftigere philosophische Darstellung des Themas Freiheit.

Erste Philosophen der Freiheit: Sokrates und Platon

Sokrates’

Paradoxon …

Es war das verwirrendste, das sokratischste aller Paradoxa des Sokrates, das die Bühne für Platons Auseinandersetzung mit dem Problem des „freien“ Handelns abgab. Mit funkelnder Ironie hatte Sokrates seinen vielleicht aufrüttelndsten Lehrsatz in die Form einer scheinbaren Plattitüde gekleidet: „Niemand irrt sich absichtlich.“ Was könnte unschuldiger und unbestreitbarer sein? Wer könnte dagegen auch nur das Geringste sagen? Und doch, aus anderem Blickwinkel betrachtet, artikuliert diese scheinbare Tautologie die Essenz einer Ansicht über das Verhältnis des Menschen zum Bösen, die alles andere als gefällig ist. Ihre Konsequenzen machen das schnell klar. Wenn sich niemand „absichtlich irrt“, dann ist alles Böse (alles falsche Handeln) Resultat eines Irrtums oder höherer Gewalt. Damit stellt sie eigentlich also die radikale Behauptung auf, dass der „natürliche“ Impuls jedes Menschen immer auf das Gute gerichtet ist – denn nur das würde garantieren, dass der Mensch allein dann böse handelt, wenn er getäuscht oder gezwungen wird.

Sokrates’ trügerisch harmlose Formel erteilt in Wahrheit eine universale Absolution: Niemand ist im Grunde schuldig. Alle sind Opfer von Unwissenheit oder Zwang. Wie wenig tautologisch dieses Diktum in Wirklichkeit ist, wird noch offensichtlicher, wenn wir es mit christlichen Ideen vergleichen wie etwa Calvins „Auserwählten“ oder Luthers „Nicht durch die Werke, sondern allein durch den Glauben“, die die völlig konträre Annahme verkörpern, dass die „natürlichen“ Impulse und auch Handlungen des Menschen zu nichts führen.

Das tiefe Wohlwollen und die „Nächstenliebe“ seiner Position war für Sokrates wahrscheinlich nicht wichtiger als die subtil mit inbegriffene Konsequenz, dass Wissen – und vor allem das Wissen, das er vermittelte, die Kenntnis des Guten – von herausragender Wichtigkeit ist: Denn wenn der Mensch dieses Wissen einmal besitzt, wird – falls nicht Zwang herrscht – unvermeidlich das Gute getan werden. Dies muss Sokrates’ Sinn für Ironie sehr angesprochen haben.

… und seine Weiter­entwicklung durch Platon

Dass diese idyllische Vision, in der Freiheit und Wissen zusammen genügen, um den Menschen gut zu machen, die Geburt eben von Freiheit und Wissen begleitete, hatte weitreichende Konsequenzen für deren spätere Geschichte. Unser Anliegen ist jedoch die Wichtigkeit, die Sokrates’ Paradoxon für Platon hatte.

Wir wissen, dass Platon sein philosophisches Projekt in einer Zeit grundlegenden Wertewandels unternahm. Das Ethos, das für uns beispielhaft in Homers Epen verkörpert ist, ein Gefüge von Tugenden, die einem kriegerischen, feudalen Volk angemessen sind, das noch nicht langfristig sesshaft geworden ist, passte für den Stadtstaat Athen nicht mehr. Seine Plausibilität war verblasst, neue Notwendigkeiten wurden spürbar. Tüchtigkeit, unbestreitbarer Erfolg, wie auch immer er erreicht wurde, war für das Überleben der früheren agrarischen Gesellschaft unverzichtbar gewesen, die für Bedrohungen von außen anfälliger gewesen war, und deshalb waren diese Qualitäten zu Tugenden erhoben worden. Innerhalb des alten Ethos hatte das Ansehen unter den Gleichrangigen, überhaupt die eigene Reputation, viel gegolten: Sie repräsentierte die Dankbarkeit der Gesellschaft gegenüber jenen, die zu ihrem Nutzen Hervorragendes leisteten; sie inspirierte zu glänzenden und mutigen Heldentaten. Aber jetzt, in der Polis, wurden andere Tugenden nötig. Ordnung, Verlässlichkeit und innerer Zusammenhalt mussten gestärkt werden, und das Augenmerk richtete sich auf „stille Tugenden“, vor allem die Gerechtigkeit.

Von den „äußeren“ zu den „inneren“ Tugenden

Zwei Faktoren, die diesen Wandel begleiteten, erfordern besondere Aufmerksamkeit. Da ist zum einen die Tatsache, dass die älteren Werte von kriegerischer Tüchtigkeit und sichtbarem Erfolg ihren Lohn ganz offensichtlich in sich tragen. Das tun sie auch für uns noch, wenn auch vielleicht nicht so extrem wie für die Griechen. Das Streben nach den Zielen, die von diesen Tugenden hochgehalten werden, ist in der Tat so „natürlich“, dass keine weitere Rechtfertigung nötig scheint, vor allem dann nicht, wenn hinter ihnen alte und farbenprächtige Traditionen stehen. Im Hinblick auf diese Werte könnte man wirklich sagen, dass „niemand sich absichtlich irrt“. Niemand würde mit Absicht Schwäche, Inkompetenz oder den Niedergang anstreben oder dem Erfolg willentlich das Scheitern vorziehen – das könnte man tatsächlich als unschuldige Tautologie stehen lassen. In Bezug auf die neueren Werte der Polis ist es aber zumindest nicht selbstverständlich, dass ordentliches Benehmen, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit „von Natur aus“ befriedigend sind, vor allem nicht, wenn sie Opfer verlangen. Es leuchtet überhaupt nicht ein, dass man diese neuen Werte nicht absichtlich vernachlässigen könnte. Diese Werte verlangen deshalb eine Rechtfertigung in einer Art und Weise, wie sie die früheren nicht brauchten.

Der zweite Unterschied betrifft die Sichtbarkeit, die „Greifbarkeit“. Die älteren Werte von Tüchtigkeit und Erfolg erforderten Handlungen, die im Grunde öffentlich waren, die sich zur Schau stellten und in der Sonne glänzten. Nicht so die neuere Ethik der Polis. Nach Gerechtigkeit und Ehrlichkeit muss man sich richten, auch wenn niemand das sieht, wenn niemand anders anwesend ist. Diese Tugenden müssen auf die Verlockungen des „Ansehens“ verzichten, und das macht ihre Rechtfertigung notwendiger und zugleich schwieriger. (Daher die Sage von Gyges’ Ring in Buch II der Politeia/Der Staat.)

Platons Ansatz: Die neuen Werte nach dem alten Muster legitimieren

Die Komplexität von Platons Auseinandersetzung mit dem sokratischen Paradoxon und mit der darin enthaltenen Idee der Freiheit sollte nun deutlich werden. Im Grunde machte Platon dieses Paradoxon zur hauptsächlichen Prämisse seines überragenden Versuchs, die bitter notwendige philosophische Legitimation der neueren, stilleren Tugenden zu entwerfen. Seine Strategie ergab sich auf natürliche Weise, war vielleicht die einzige, die ihm offenstand. Sein grundlegender Plan war, einfach die Kluft zwischen Alt und Neu zu überbrücken, zu zeigen, dass dieselbe Argumentation, die für die alten Werte so offensichtlich zutraf, auch für die neuen galt – wenn auch auf subtilere Weise. Sein Ziel war, zu veranschaulichen, dass Gerechtigkeit und die stillen Tugenden letztendlich genauso „natürlich“ erwünscht waren wie Erfolg und Spitzenleistungen, dass sie, wenn man sie eingehend prüfte, ebenfalls „ihren Lohn in sich trugen“, dass man sie, wenn man sie richtig verstand, ebensowenig „absichtlich“ vernachlässigen würde, wie man „freiwillig“ Schande und Scheitern erstreben würde. Das sokratische Diktum war somit der archimedische feste Punkt, um den sich das ganze Unternehmen „Rechtfertigung der neuen Werte“ drehen sollte.

Eine falsche

Psychologie …

Damit ersetzte Platon eigentlich im sokratischen Paradoxon die alten durch die neuen Werte. Er verschob seine Bedeutung – weg von der Idee, dass der Mensch freiwillig nach Ehre und Größe strebe, hin zu der ziemlich andersartigen Idee, dass er freiwillig der Gerechtigkeit folge. Auf diese Weise schuf er den Eindruck, dass die neue Moral nicht eine gesellschaftlich erzeugte Forderung war, sondern nur repräsentierte, was der Mensch „wirklich“ wollte. Dabei zwang er ihm im Endeffekt eine falsche Psychologie auf. Er opferte eine genaue Wahrnehmung der tatsächlichen menschlichen Antriebe, um den neuen Werten den Anschein der Natürlichkeit und Legitimität zu geben – mit den Resultaten dieses Konzepts leben wir noch heute.

… als Fundament einer mächtigen Idee: Freiheit ist Gehorsam gegen­über der Vernunft

Diese Strategie legte das Fundament für die eine Idee der Freiheit, die einflussreicher war als alle anderen, denn nun war die Freiheit mit dem Guten verknüpft, und nun war es nur noch ein kleiner Schritt bis zu der Vorstellung, dass der Mensch frei ist, wenn er im Einklang mit der Vernunft handelt, und unfrei, wenn er gegen sie verstößt. Platon musste hier vielleicht gar keinen Schritt mehr machen, da Tugend und Rationalität für ihn ganz eng zusammenhingen („Tugend ist eine Form des Wissens“). Jedenfalls liegt die Idee, dass der Mensch frei ist, wenn er der Vernunft gehorcht, Platons Ausführungen oft sogar in Details zugrunde. Um ein Beispiel zu geben: In Buch IX der Politeia stellt Sokrates die Frage, ob der Staat unter einem Despoten frei oder versklavt sei, und erhält die Antwort, dass ein Staat unter einem Despoten natürlich versklavt sei.7 Dann fährt er fort: „Wenn der Mensch also dem Staate ähnlich ist, werden wir in ihm dieselbe Ordnung der Dinge finden: eine Seele, die sich in finsterster Knechtschaft abmüht und deren beste Teile versklavt sind, während ein kleiner Teil, der übelste und wahnsinnigste, den Meister spielt. Und genauso wie ein Staat, der von einem Tyrannen unterdrückt wird, nicht tun kann, was er wirklich will, kann auch eine Seele unter ähnlicher Tyrannei nicht tun, was sie als Ganzes wünscht. Gegen ihren Willen von einem starken Verlangen angestachelt, wird sie von Verwirrung und Reue erfüllt sein. Wie der ihr entsprechende Staat ist sie immer von Armut heimgesucht, von Angst geplagt und unzufrieden. Nirgendwo sonst wird es soviel Jammern und Stöhnen und Angst geben wie in einem despotisch regierten Land und in der Seele, die unter der Tyrannei von Trieben und Leidenschaften toll geworden ist.“ Der springende Punkt hier ist, dass eine von Trieben oder Leidenschaften beherrschte Seele genauso tyrannisiert und versklavt wird (unfrei ist) wie ein Staat unter einem Despoten. Dass eine von Vernunft regierte Seele im Gegensatz dazu frei ist, ist die klar beabsichtigte Kehrseite der Medaille. (Und es ist leicht, von dieser Seite der Analogie wieder zum Staat zurückzukehren und zu folgern, dass auch der Staat frei ist, wenn die Vernunft – der Philosophen-König – ihn regiert.)

Gewöhnlich wird die Idee, dass Freiheit Gehorsam gegenüber der Vernunft heißt, Hegel zugeschrieben, was es einfach macht, sie als die Sophisterei eines „Metaphysikers“ zu behandeln, der ja, wie man sich einbildet zu wissen, dazu noch „konservativ“ war. Aber dieser Gedanke lässt sich nicht so leicht aus unseren Köpfen verbannen (genauso wenig wie Hegel übrigens). Zum einen taucht dieselbe Idee schon vorher bei Platon auf sowie bei einer Reihe anderer Denker einschließlich Rousseau, der (dem liberalen Herzen näher stehend als Platon oder Hegel) im Gesellschaftsvertrag lapidar bemerkt: „Seinen Begierden unterworfen zu sein, heißt Sklave sein, während der Gehorsam gegenüber den Gesetzen der Gesellschaft Freiheit bedeutet.“ Wichtiger ist aber noch, dass diese Verbindung zwischen Freiheit und Rationalität mit ihrer eingebauten Garantie, dass Irrationales und Inakzeptables von vornherein nicht als frei gelten kann, für die Macht und die Geschichte der Freiheitsidee wesentlich ist. Diese Annahme, verbunden mit ihrem Gegenstück, dass Freiheit nur die Freiheit ist, vernünftig zu sein, verlieh dieser Idee einen Großteil ihrer Macht und Überzeugungskraft. Ohne diese stillschweigende Übereinkunft wäre es für einen Untertanen viel schwerer gewesen, seinen Anspruch auf Freiheit zu legitimieren, und jeder Herrscher hätte noch mehr gezögert, sie zu gewähren oder für sie zu sorgen, wäre diese Garantie nicht gewesen.

Unsere Vorstellung von Freiheit noch

heute prägend

Das Ausmaß, in dem dieses Konzept immer noch unsere Auffassung von Freiheit beherrscht, lässt sich an der Leichtigkeit ermessen, mit der wir behaupten, Freiheit bedeute natürlich nicht Willkür und ihr Gegenstück heiße selbstverständlich Verantwortung. Dieses und andere ähnliche Klischees könnten sich nicht auf so etwas wie das erste Freiheits-Paradigma berufen, das wir untersucht haben. Wenn Freiheit „Laune“ bedeutet, dann endet sie natürlich nicht da, wo „Willkür“ anfängt, und „Verantwortung“ ist für diese frühere Auffassung nicht Bedingung der Freiheit, sondern ihr Tod. Die zitierten Beteuerungen sind nur stichhaltig, wenn so etwas wie die heutige Auffassung von Freiheit vorausgesetzt wird. Und das gibt uns einen Hinweis, wie umfassend und allgegenwärtig diese Auffassung ist.

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