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Frithjof Bergmann

Die Freiheit leben

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Schäfer


Für Jandy und Lukas

© 2005 Frithjof Bergmann

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Eva Bachmann

Titelfoto: ©plainpicture/Thöt, P., 2005

Umschlaggestaltung und Satz: Rosalie Schnell – blauburg


www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-364-8

Wichtiger Hinweis

Die Ratschläge und Übungen in diesem Buch sind von der Autorin sowie dem Verlag sorgfältig geprüft worden. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Bei Beschwerden sollten Sie auf jeden Fall eine Ärztin, Psychotherapeutin, Psychologin oder Heilpraktikerin Ihres Vertrauens zu Rate ziehen. Eine Haftung der Autorin oder des Verlages für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Im Bemühen um einen Beitrag zu achtsamer Gendergerechtigkeit wechseln generisches Maskulinum und generisches Femininum im folgenden Text ab, stets beginnend mit dem Femininum. Ist dies sprachlich nicht möglich oder inhaltlich nicht präzise, werden auch bloßes Femininum, Alternativauszeichnungen oder ein Binnen-I verwendet. Ist nicht inhaltlich explizit auf eine Geschlechtsidentität hingewiesen, stehen beide Formen stets für Personen beliebiger, im jeweiligen Kontext irrelevanter Geschlechtsidentität.

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

1 Den Widerspruch bloßlegen

2 Eine Theorie der Freiheit

3 Freiheit und absolute Unabhängigkeit

4 Wählen können – frei sein?

5 Freiheit und das Selbst

6 Freiheit und Erziehung

7 Freiheit und Gesellschaft

Anhang

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Der Kern dieses Buches ist ein einziger Kontrast. Die beste Formel, die ich dafür gefunden habe, ist der Unterschied zwischen einem Gott und der Verunstaltung dieses Gottes zu einem Götzen. Die Freiheit ist zum Götzen verhunzt worden. Am aktuellsten erleben wir diesen Götzendienst gerade im Irak. Götzendienst war schon immer mit Menschenopfern, mit dem Verbrennen von Menschen verbunden, und das ist jetzt auch bei George W. Bush so: Seine Vorstellung, dass die Art von Wahl, die man jetzt im Irak erzwungen hat, Freiheit bedeutet, ist Götzendienst. Diese Wahl hat ebensowenig mit wirklicher Freiheit zu tun wie die Anbetung eines Zahns, der angeblich einmal im Kiefer eines Heiligen gesteckt hat, mit echter Religiosität.

Die Verfälschung der Freiheit zum Götzen entstand im 18. Jahrhundert. Damals entwickelte sich die Idee, Freiheit sei die Abwesenheit aller Grenzen. Das war das Zeitalter, in dem das symbolische Bild für die Freiheit der „leere Raum“ wurde, ein Raum, in dem man von nichts eingeschränkt oder behindert wird. Dies ist der völlig leere Raum, in dem ein Astronaut taumelt, wenn seine Sauerstoffschläuche durchgeschnitten worden sind. Freiheit als die Idee, dass „alles möglich“, dass „alles erlaubt“ ist; dass wir frei sind, wenn es keine Zäune mehr gibt (die amerikanische, die Cowboy-Idee der Freiheit: „Don’t fence me in“). Das ist die Quintessenz der Götzen-Idee der Freiheit.

Man muss das Perfide, das Alles-auf-den-Kopf-Stellende, das in der Tat Reaktionäre an dieser Verfälschung in seiner lachhaft transparenten Klarheit sehen. Jede Mutter und jeder Vater und jeder Lehrer weiß, dass es ohne Grenzen „einfach nicht geht“, dass „keine Grenzen“ das Chaos, den Untergang im Durcheinander, in der Wüstenei bedeuten. Und das war und ist die plumpe, bauernschlaue, unterdrückerische Logik hinter dieser Verhunzung und Verunstaltung der Freiheit. Leichter konnte und kann man sich das Irreführen kaum machen. Mit einem einzigen taschenspielerhaften Falschmünzertrick konnte und kann man eine Unzahl von Menschen an der Nase wegführen von der Freiheit. Wenn man Freiheit so definiert, wenn man ihr diese Bedeutung in die Schuhe schiebt – oder um den Hals hängt –, dann erkennen ja die meisten Menschen sofort, sozusagen auf den allerersten Blick, dass Freiheit auf gar keinen Fall realisierbar oder praktikabel ist. Der innere Drang bleibt vielleicht abgeschwächt noch bestehen, aber alle „vernünftigen“ Menschen sind sich jetzt einig, dass es in ein ganz fürchterliches Pandämonium hineinführen würde, wenn man die Freiheit ernst nähme, sie „leben“ würde. Und deshalb ist der selbstverständliche nächste Schritt in dieser Logik: Wenn die Freiheit so aussieht, dann versteht man jetzt, aus ganz eigener innerer Überzeugung, die Notwendigkeit der Autorität, der Grenzen, der Polizei, der Gefängnisse, ja der Staatsgewalt. Auf Deutsch: Man erkennt jetzt, durch diese Falsch-Definition, die absolute Notwendigkeit der Unfreiheit – und welch ein Triumph, was für ein lachendes Fest für die Herren der Erde: Ein Wortspiel hat genügt! Eine kleine Gaukelei! Man musste der Freiheit nur eine plumpe, fratzenhafte Maske aufsetzen, und Simsalabim: Schon waren die Menschen dazu bereit – jetzt auch noch freiwillig! –, weiter die Galeeren zu rudern.

Weil diese Karikatur der Freiheit sofort zum Chaos führ­ten, würde man sie im Ernst verwirklichen, geschieht das also nicht. Man wird sich im Vorfeld darüber klar, dass die Freiheit eine Unmöglichkeit ist. Deshalb wird man, wie sehr viele heute, zynisch, oder was vielleicht noch schlimmer ist: Man wird „realistisch“, „pragmatisch“, mit anderen Worten: klein – und kleinkariert. Ein bisschen Freiheit, aber bitte nur in genau abgesteckten Grenzen. Freiheit ja, aber nur in einem Käfig, dessen Gitterstäbe „Verantwortung“ heißen. Dieses Beschneiden der Freiheit, diese unendlich vielfältigen Arten der Kastration: Auch sie wurden durch die Bedeutungs-Verfälschung der Freiheit vorbereitet – mehr noch, sie werden durch diese Verfälschung gerechtfertigt und zu etwas Selbstverständlichem gemacht.

Aber das Thema dieses Buches ist ein Gegensatz. Die ursprüngliche, eigentliche, authentische Idee der Freiheit war nämlich völlig und von Grund auf anders! So anders, aus so ganz anderem Holz geschnitzt, dass man sich wundern muss, wie es überhaupt dazu kam, dass zwei so grundverschiedene Dinge denselben Namen bekamen. Freiheit im eigentlichen und wahren Sinne drückt sich in ganz anderen Bildern aus: nicht im Bild des grenzenlosen leeren Raums, sondern im Urbild eines Menschen, der nicht Sklave ist, der nicht auf den Knien liegt, der sich nicht artig verbeugt; im Bild einer Frau, die ihren eigenen Willen hat, die selber entscheidet; im Bild eines Menschen, der Kraft hat, der sich selbst achtet und eben deshalb nicht die Stiefel eines anderen küsst – auch wenn dieser andere Macht und Titel besitzt.

Dass die Götzen-Idee der Freiheit grauenvolles, zum Himmel schreiendes Unheil angerichtet hat, ist am Ende sogar leichter zu begreifen und auch leichter anzuklagen und zu beschreiben als die Kehrseite: Wie lebt man das, was Freiheit eigentlich ist? Wie hilft man anderen Menschen, seinen eigenen Kindern, Schülern oder Studenten, freie Menschen, das heißt: kraftvolle, wirklich und tatsächlich lebendige, lebende Menschen zu werden, Menschen, die sich selbst nicht hassen, sondern sich an sich selbst freuen? Mit welcher vielleicht ganz anders gearteten Politik, in welcher vielleicht ganz anders gearteten Gesellschaft und Kultur könnte man einen neuen Anfang machen und damit das Wachsen solcher Menschen fördern und unterstützen? Dadurch, dass man Menschen alle vier Jahre einmal wählen lässt, werden sie nicht zu freien Menschen in diesem ernsten und ursprünglichen Sinn. Unvergleichlich mehr ist dazu nötig. Die Frage ist, was könnten diese Voraussetzungen sein und wie könnte man sie erfüllen? Wie könnte man denn den lange verlorenen Faden, der hinführt zur tatsächlichen Befreiung der Menschen, wieder aufgreifen, und wie könnte man ihm folgen?

Dieses Buch ist als Wegweiser gedacht: Es markiert den Weg, der dorthin führen könnte, für den einzelnen Menschen, für unsere Bildung, aber auch für die Gesellschaft. Gehen aber muss man diesen Weg selbst, und zwar auf ureigene, selbst gefundene und nicht vorgeschriebene Art. Denn man erreicht die Freiheit nur dadurch, dass man nicht „folgsam“ ist.

Ann Arbor, Michigan, 17. Februar 2005

Frithjof Bergmann

„Kein Vogel fliegt zu hoch,

wenn er mit seinen eigenen

Schwingen fliegt.“

William Blake, „Die Hochzeit von Himmel und Hölle“

„Die Kunst aller Künste, die Herrlichkeit des Ausdrucks und der Sonnenschein aus den Büchern heißt

Einfachheit.“

Walt Whitman, „Grashalme“ (Vorrede, 1855)

1
Den Widerspruch bloßlegen

Unsere Kultur hat eine schizophrene Auffassung von der Freiheit. Zwei Denkrichtungen vertreten den Begriff Freiheit und gehen noch heute nebeneinander her. Diese beiden Denkrichtungen gelangen von völlig verschiedenen, fast gegensätzlichen Prämissen zu ebenso unterschiedlichen und widersprüchlichen Schlussfolgerungen – und doch streiten sie sich nicht darüber. Der Kon­flikt wird nicht offengelegt. Es gibt keinen Austausch, nicht viel Kommunikation. Die beiden gehen eigene, getrennte Wege, als gäbe es ein „gentlemen’s agreement“, Stillschweigen zu bewahren.

Die beiden Traditionsströme des Freiheitsdenkens

Für die erste Denkrichtung ist es eine unverzichtbare Grundannahme, dass Freiheit etwas Wunderbares ist: Freiheit unterscheidet den Menschen vom Tier und erhebt ihn über die bloße Natur; sie ist die Conditio sine qua non seiner herausragenden Stellung. Seine Freiheit gibt dem Menschen einen einzigartigen und unvergleichlichen Status, der verloren geht, wenn er sie einbüßt. Sein Anspruch auf sie kann nicht in Frage gestellt werden, da sie sein Wesen ausmacht und definiert; sie ist die Essenz des Menschseins. Sie zu erobern hat Vorrang vor allen anderen Zielen, sie zu verlieren ist die endgültige Niederlage.

Die „offizielle“ Tradition der Freiheit …

Dies ist sozusagen die „offizielle“ Tradition. Sie betrachtet Freiheit als etwas Befriedigendes, als natürliches und selbstverständliches Ziel für das Streben eines jeden. Nach dieser Auffassung will der Mensch die Freiheit genauso spontan und direkt, wie ein Baby Milch will. Alle politischen Glaubensrichtungen, egal wie sehr sie in anderen Bereichen differieren, bekennen sich zu dieser Auffassung – wenn auch auf sehr verschiedene Weise. Alle kämpfen für die Freiheit. Jede Eroberung ist eine „Befreiung“. Sogar die Nazis verkündeten, sie seien dafür.

Die Diskrepanzen zwischen den verschiedenen politischen Ideologien scheinen in diesem Punkt nicht größer als die zwischen den verschiedenen Abspaltungen einer Religion. Alle berufen sich auf denselben uralten Text: dass Freiheit erstrebenswert sei. Wenn in der heutigen Zeit die Politik die Rolle spielt, die im Mittelalter die Religion innehatte – wenn sie jetzt also den grundlegenden Orientierungsrahmen liefert, die Werkzeuge der Erlösung und die einzigen Ideen, die ähnlich mächtig sind wie die theologischen Vorgänger –, dann hat in diesem Orientierungsrahmen die Freiheit jetzt den Platz, der früher göttliche Gnade hieß. Nur wenn er in das Königreich der Freiheit eintritt, wird aus dem alten Adam der neue Mensch hervorgehen.

… und ihr Geschichtsbild

Diese Auffassung von Freiheit prägt auch unser allgemeines Bild der Geschichte, in dem die Welt immer noch als großes Fortschritts-Drama angesehen wird. Wir denken, die Menschheit erlange immer größere Freiheit. Es war Hegel, der diese Hoffnung als Erster zu einem System ausarbeitete. Er entwarf ein Bild der Geschichte, in dem die Menschheit unter Schwierigkeiten zu ihrer eigenen Befreiung fortschreitet, und er schrieb der Freiheit einen Wert von immenser Strahlkraft zu. Er sah aber in der Geschichte keinen stetigen Aufstieg, der sich für alle auszahlte, sondern für ihn war sie süchtig danach, zu horrenden Preisen Irrwege zu erforschen. Er hielt sie, mit seinem berühmten Ausspruch, für „die Schlachtbank, auf welcher das Glück der Völker … zum Opfer gebracht“ wird.1 Und doch glaubte er, dass sie trotz aller Schlächterei und Vergeudung irgendwie gerechtfertigt und als vernünftig betrachtet werden könne. Warum? Weil sie zur Freiheit führte. Freiheit war genug. Sie war den Preis wert.

Von dieser Schule des Denkens haben wir auch gelernt, Freiheit zum letztgültigen Beurteilungsmaßstab hinsichtlich der Überlegenheit unseres Lebensstils, unserer Institutionen, sogar unserer Überlegenheit als Menschen zu machen. Wir sind frei, und deshalb sind wir besser. Das ist der Fels unseres Glaubens. Damit ist die Debatte beendet. Und der Ursprung sowie die Rechtfertigung für viele Strategien in der Innen- und Außenpolitik folgt demselben Muster. Die letzte Bastion, auf die man sich zurückzieht, ist, dass dieses oder jenes Vorgehen die Freiheit fördert. Jeder weiß, dass diese Argumentation oft heuchlerisch ist. Aber die Tatsache, dass man sich als Anhänger der Freiheit geriert, obwohl man keiner ist, zeigt nur, wie selbstverständlich und sakrosankt Freiheit als Wert geworden ist. „Gib mir Freiheit oder gib mir den Tod!“ könnte der Wahlspruch dieser ersten Tradition lauten.

Die zweite Tradi­tion: „Der Mensch hat Angst vor der Freiheit“

Wollte man die zweite Tradition auf einen Nenner bringen, so könnte er „Flucht vor der Freiheit“ lauten. Herausragende Vertreter dieser Schule sind Sartre und Kierkegaard, aber von Fjodor Dostojewskij stammt die Formulierung, die für moderne Schriftsteller klassisch geworden ist. Es ist das Großinquisitor-Kapitel aus den Brüdern Karamasow, und wir werden es etwas genauer untersuchen.

In diesem Kapitel erzählt Aljoscha eine Parabel, die im Spanien des 16. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt der Inquisition spielt: Jesus kommt für einen Tag auf die Erde zurück, einen Tag, nachdem der Großinquisitor eine Massenhinrichtung von Ketzern überwacht hat, ein prächtiges, spektakuläres Autodafé, bei dem fast hundert Irrgläubige auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Die Menge erkennt Jesus und ist bereits in Hosianna-Rufe ausgebrochen, als der Großinquisitor, der Jesus ebenfalls erkannt hat, ihn von seinen Wachen verhaften lässt. In der Nacht besucht der Großinquisitor Jesus im Untersuchungsgefängnis, und der Großteil der Geschichte schildert die Unterhaltung, die zwischen den beiden stattfindet und in der der Großinquisitor vor Jesus sich und seine Inquisition und sogar Jesu Verhaftung rechtfertigt. Der Kern seiner Argumentation lautet, dass Jesus versucht habe, die Menschheit zu befreien, die Menschheit Freiheit jedoch nicht wolle und nicht ertragen könne. Er, der Großinquisitor, hat ihnen aus Mitleid und Güte dieses schreckliche Geschenk deshalb abgenommen. Die Freiheit, die Jesus den Menschen verliehen hat, war eine Plage und eine Geißel. Der Mensch leidet darunter und kann sie nicht ertragen. Sie stellt Ansprüche an ihn, denen er nicht gerecht werden kann. Er besitzt nicht das Format, die Statur und die Stärke, um sie auszuhalten. Was die Menschheit wirklich will, was sie ersehnt, sind Geheimnis und Autorität: „Der Mensch strebt nach nichts so unablässig und unter solchen Qualen wie danach, jemanden anbeten zu können.“

Im Wesentlichen stellt uns der Großinquisitor vor ein Dilemma: Man kann der Menschheit entweder gewähren, was sie verlangt, obwohl diese Wunscherfüllung entwürdigend ist, oder man kann ihr hehre Ideale anbieten, aber dann muss man grausam sein. Man hat nur die Wahl zwischen einem Mitleid, das der Menschheit die Vulgaritäten zugesteht, nach denen sie lechzt – oder einem Willen, ihr zu Höherem zu verhelfen, der letztendlich brutal ist. Es ist unmöglich, ihr gleichzeitig Glück und Würde zu gewähren. Angesichts dieses Entweder-oder beschließt der Großinquisitor, milde zu sein und der Menschheit das zu geben, was sie verlangt: Geheimnis, Autorität, ein Objekt der Verehrung, Unterwerfung. Er weiß, dass das, was er tut und gibt, widerwärtig ist, aber die Tatsache, dass er sich selbst so abstoßend macht, ist ein Gradmesser seines Mitleids. Nur das zu gewähren, was sich mit der eigenen Makellosigkeit vereinbaren lässt, ist zu wenig. Der Großinquisitor bringt ein größeres Opfer, und Jesus steht als Angeklagter da, dem man Halbherzigkeit vorwirft.

Für diese Tradition lautet der erste Grundsatz, dass wir zwei einander entgegengesetzte Wahlmöglichkeiten haben. Entweder-oder – aber nicht beides. Im Roman macht Iwans Empörung gegen diese grundlegende Prämisse ihn unfähig zu handeln. Er ist zu edelmütig, um der Menschheit zu geben, was sie verlangt, aber auch zu sensibel, um sie mit hehren Idealen zu behelligen. Dass er sich weigert, sich für eine Möglichkeit zu entscheiden, hält ihn in qualvollen Fesseln gefangen. Und demselben Dilemma hat sich eine ganze Reihe von Denkern von Platon bis Sartre (Die schmutzigen Hände) gegenübergesehen.

Von dieser Weggabelung aus betrachtet, erscheint der Liberalismus wie ein hoffnungsloser Versuch, beides zu erreichen; er verknüpft Glück und Freiheit, Befriedigung und Edelmut, damit man zwischen ihnen nicht wählen muss. Es ist erstaunlich, dass der Liberalismus das als völlig selbstverständlich ansieht, dass er so redet, als habe es nie in Frage gestanden. Aber es gibt dabei zumindest ein Problem, dem man sich stellen muss.

Zwei Menschenbilder

Die Entscheidung, vor die uns Iwan stellt, ist einem Denkmuster diametral entgegengesetzt, das während der Aufklärung dominierte und unser Denken immer noch in großem Maß beherrscht: Im Kern lautet es, dass die Mängel der Gesellschaft und der Menschen letztendlich aus der Unterdrückung des Menschen herrühren, aus den verschiedenen Arten und Weisen, in denen er niedergehalten wird. Befreiung ist deshalb die Antwort schlechthin, und die politische Frage lässt sich einfach auf die Frage reduzieren, wie ein Maximum an Freiheit zu gewinnen ist. Man verfährt nach der Grundannahme, dass es für das Maß an Freiheit, das die Einzelperson will (und das für sie gut ist), keine Obergrenze gibt, und man glaubt, dass das Bedürfnis nach Grenzen rein äußerlich ist. Das bedeutet, dass die Gesellschaft sich nur jenes Minimum an Regeln auferlegen sollte, das zum Schutze der Mitmenschen nötig ist, und es bedeutet auch, dass andere Menschen und die Gesellschaft primär als etwas angesehen werden, das Grenzen setzt.

Dieses Denkmuster zu attackieren stellt nicht nur das Fundament in Frage, auf dem der Liberalismus ruht. Es bedroht das gesamte Spektrum der politischen Diskussion und durchkreuzt auch die große Hoffnung, die die meisten Revolutionen antreibt. Nehmen wir nur einmal die berühmten Schlusszeilen von Trotzkis Literatur und Revolution. Wenn die Revolution gesiegt hat, wird

„der Mensch (…) unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme wird musikalischer werden. Die Formen des Alltagslebens werden dynamische Theatralität annehmen. Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben. Und über diese Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.“2

Warum hat der Mensch diese Gipfel nicht vorher erreicht? Weil es aktiv verhindert wurde. Wenn er von den Hindernissen einmal befreit ist, wird sein Aufstieg fast von allein geschehen. Die Fähigkeiten steckten von Anfang an in ihm; sie brauchten nur Raum, um sich zu entfalten.

Diese Sichtweise sieht den Menschen als blockiert an. Sie glaubt, dass sein Edelmut nur freigesetzt zu werden braucht. In Dostojewskijs Parabel treffen wir auf eine andere Sichtweise: eine, die im Menschen eine größere Schwäche und gleichzeitig mehr Böses sieht.

Die Menschen wollen „Freiheit“ – oder was sonst?

Wollen die Menschen wirklich frei sein? Beispiele

Diese beiden Traditionen miteinander in Berührung zu bringen liefert uns keine Lösung, und unser Motiv, es zu tun, zielt auch auf eine andere Art von „Lösung“: nämlich ein paar festsitzende Dogmen über die Freiheit zu lösen, zu erschüttern. Aber die Vorstellung, dass man aus Mitleid Unterwerfung gebietet, könnte uns dennoch als grobe Übertreibung vorkommen. Wir zucken die Achseln. Wir wissen, dass die Menschen im Grunde Freiheit wollen.

Wirklich?

Dostojewskij ging es offensichtlich nicht um banale Entscheidungen. Der Großinquisitor sagt, dass es ihm um das Bedürfnis nach Wundern, nach dem Geheimnisvollen und nach Autorität geht; es war der Hunger nach einem Gegenstand der Verehrung, den er zu stillen versuchte. Aber ist dieser Hunger so groß? Ein Gradmesser seiner Intensität ist der schnelle Aufstieg der psychoanalytischen Bewegung. Sogar wenn wir den wissenschaftlichen Wert von Freuds Ideen außer Acht lassen (und die Tatsache ignorieren, dass viele sie dazu benutzt haben, sich zugunsten der Mysterien ihres eigenen Unbewussten aus der Verantwortung zu stehlen); sogar wenn wir nur die Popularität der psychoanalytischen Behandlung ins Auge fassen, bekommen wir eine Ahnung von diesem Hunger. Die bloße Tatsache, dass so viele Menschen es für nötig halten, ihr Leben einer Prüfung zu unterziehen, dass so viele sich gedrängt fühlen, intimste Dinge für eine Beurteilung offenzulegen, und vor allem, dass sie das trotz aller Zweifel und Bedenken tun, beweist die Realität dieses Bedürfnisses zu Genüge.

Oder nehmen wir den Totalitarismus: Wir wiederholen Formulierungen wie „Menschen brauchen eine Identität“ oder „Menschen müssen sich irgendwie definieren können“ wie geistesabwesend. Und doch sind diese Bedürfnisse so handfest wie die nach Sex oder Nahrung. Um ein Gefühl für ihre Realität und ihre Stärke zu bekommen, muss man sich daran erinnern, wozu Menschen fähig sind – den Hunger, die Strapazen und Frustrationen, die sie für ein „Etikett“, einen „Titel“, einen „Namen“ zu akzeptieren gewillt sind (für einen Anstecker am Revers) –, und wie für jemanden die ganze Tonlage und der ganze Rhythmus seines Lebens sich ändert, wie er plötzlich anders geht, weil es jetzt eine Formulierung oder ein Image gibt, die zu ihm passen.

Es ist gut möglich, dass die eigene Vorstellung davon, wie Totalitarismus entsteht, auf den Kopf gestellt wird, wenn man einmal konkret über dieses „Bedürfnis nach Identität“ nachgedacht hat. Gewöhnlich stellen wir uns vor, dass zwei gegensätzliche Kräfte am Werk sind: das Verlangen nach Freiheit und zum Beispiel die Angst, hungern zu müssen. Wir denken, dass diese beiden im Konflikt stehen und dass die Freiheit dabei manchmal den Kürzeren zieht. Aber eigentlich geht es oft gar nicht so vor sich. Wenn sich jemand einer stark reglementierten Gruppe anschließt, tut er das oft nicht aus einem wohlüberlegten Entschluss heraus. Da werden nicht zwei Dinge gegeneinander abgewogen. Der Drang geht allein in eine Richtung. Ein Gefühl der Erleichterung stellt sich ein, sogar der Euphorie. Man hat Unabhängigkeit gar nicht gesucht, man hat sich vor der Freiheit gefürchtet.

Für manche Zusammenhänge akzeptieren wir das als Binsenweisheit. Wenn es um die biederen Bürger der amerikanischen Vorstädte oder um studentische Korporationen geht, braucht uns niemand daran zu erinnern, dass die Menschen im Allgemeinen „nicht auffallen wollen“, „irgendwie dazugehören wollen“, „akzeptiert werden wollen“, dass es für jeden einsamen Wolf ein Rudel gibt. Und doch fließen diese Selbstverständlichkeiten nicht in andere Kontexte ein. Praktisch jede abstrakte politische, philosophische oder moralische Diskussion über Freiheit geht vom Gegenteil aus: dass die Menschen Individualität und Freiheit wollen, dass nur Maßnahmen wie Unterdrückung und Gehirnwäsche diese Wünsche beschneiden können und dass der Mensch rebelliert, wenn man ihm keine Freiheit gewährt. Wieder haben wir dieselbe schizophrene Spaltung, und hier wird sie durch die Semantik verstärkt. Statt rundheraus zu sagen, dass der Mensch keine Freiheit will, sagen wir, dass er ein Gefühl der Solidarität und Gemeinsamkeit braucht oder – im schlimmsten Fall – dass er „konform gehen“, sich „anpassen“ will. Motive, die der Freiheit zuwiderlaufen, werden mit anderen Etiketten versehen, wodurch die Illusion aufrechterhalten werden kann, dass der Drang nach Freiheit uneingeschränkt und absolut ist. Dieses Schubladendenken wird bis ins Extrem verfolgt, so dass sogar historische und theoretische Erklärungsansätze für den modernen Totalitarismus sich streng daran halten. In der Analyse totalitärer Bewegungen lautet die Hauptfrage gewöhnlich: Was hat ein Volk an diesem Punkt dazu gebracht, seine Freiheit aufzugeben und sich einer diktatorischen Herrschaft zu unterwerfen? Aber das ist wahrscheinlich die falsche Frage. Sie geht davon aus, dass es eine natürliche Tendenz hin zur Freiheit gibt und dass die „Erklärung“ für den Totalitarismus im Endeffekt aus einer Liste der Repressalien besteht, die über diese Tendenz siegten. Vielleicht wird umgekehrt ein Schuh daraus; wenn der Mensch im Allgemeinen die Freiheit nicht wünscht, dann muss die wichtige Frage vielleicht lauten: Was hat an diesem Punkt die Durchsetzung von Individualität und Freiheit geschwächt und erlaubt, dass der natürliche Drang nach Anpassung sich ungehindert entfaltete?

Zwiespältige Freiheit

Es gibt keinen Grund, warum wir von einem Mann, der seiner Pensionierung mit Bangen entgegensieht, nicht sagen sollten, dass er sich vor einer gewissen Freiheit fürchtet, oder nicht von einer Mutter, die sich an ihre Kinder klammert, dass sie an einer Form von Knechtschaft festhält. Diese Krisen sind teilweise deshalb so schmerzlich, weil man entdeckt, dass die Anforderungen des Berufslebens oder der Kindererziehung, die bis dato als Einschränkungen erlebt wurden, vielmehr dem Leben eigentlich Struktur und Zusammenhalt gegeben haben. Das Gefühl der Sinnlosigkeit, die Gereiztheit, weil es keine äußere Instanz mehr gibt, die unsere Dienste verlangt, die ganze Erfahrung, nun „für sich selbst“ leben zu müssen – für nichts außer die Fortsetzung der eigenen Existenz –, all diese Dinge sind die Auswirkungen einer bestimmten Art von Freiheit. Sogar völlig übertrieben wirkende Aussprüche werden plötzlich plausibel, wenn sie in diesen Zusammenhang gerückt werden. Sartre hat gesagt, dass wir „zur Freiheit verurteilt“ sind, und in einem seiner Dramen (Die Fliegen) sagt Orest, dass die Freiheit ihn getroffen habe „wie der Blitz“. Würde man dies von einem Mann sagen, dessen Lebenswerk ihm gerade weggenommen worden ist, würden wir es sofort verstehen.

Ein letztes Beispiel. Betrachten wir einmal, wie wir für unser Handeln Rückendeckung und Unterstützung bei abstrakten Begriffen suchen. Wir haben die Neigung, „im Namen von irgendetwas“ zu handeln. Wenn nichts Plausibles zur Hand ist, halten wir nach windigen, fragwürdigen Ideen Ausschau; wir werden zu Bannerträgern des Fortschritts, der Aufklärung, der Ordnung, der Vernunft. Es ist, als bräuchten wir etwas, und sei es nur eine abgehalfterte Illusion, dem wir unser Handeln unterordnen können; etwas, das ihm den Anschein eines Instruments geben wird, das einem Zweck dient. Auch die Moral können wir aus dieser Perspektive betrachten und sie uns als eine Art letzter Zuflucht vorstellen: Wenn alles andere versagt, können wir immer noch ihre ehernen Kategorien beschwören und wenigstens im Namen des Guten handeln. Das ganze Phänomen stellt wieder eine neue Taktik dar, mit der wir die Freiheit vermeiden. Dass wir darin so erfinderisch sind und das Bedrohliche einer autonomen, nackten Tat mit solchen Verbrämungen verschleiern, zeigt, wie tief unsere Furcht vor der Freiheit wirklich sitzt.

1 149,11 ₽
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