Читать книгу: «Mord im Hause des Herrn», страница 5

Шрифт:

****

Lundquist strauchelte. Unsanft stieß er mit der Schulter gegen das Regal mit den Biografien und konnte nur mit Mühe verhindern, das Brett mit den Komponisten von Weltrang im Sturz abzuräumen. Nicht jetzt, dachte er, nicht jetzt! Er hatte doch wirklich Schwierigkeiten genug.

Eine junge Frau stand plötzlich neben ihm, ohne dass er hätte sagen können, woher sie gekommen war. Ihre langen, dunklen Haare waren streng aus dem Gesicht gekämmt. Als sie den Kopf bewegte, sah Lundquist einen dicken, geflochtenen Zopf.

Besorgt sah sie ihn aus dunklen Augen an.

»Geht es dir nicht gut? Vielleicht kann ich dir irgendwie helfen?«

Lundquist schüttelte energisch den Kopf.

Das musste ja nicht unbedingt sein. Junge Frauen sollten nicht auf diese Weise ihr Interesse für ihn entdecken. Kam gar nicht in Frage!

»Ich kann das gut verstehen«, plapperte die junge Frau unterdessen munter weiter, »dieser Weihnachtsstress kann schon mal den stärksten Mann umhauen. Das muss dir gar nicht peinlich sein.«

Dabei ermutigte sie ihn mit ihrem strahlendsten Lächeln.

»Ich habe vier Kinder. Alles Jungs. Damit habe ich also faktisch fünf Männer im Haus. Außerdem zieht morgen mein Schwiegervater bei uns ein. Dann sind es sechs. Und genau wie in jedem Jahr hat natürlich keiner Zeit für irgendwelche Weihnachtsvorbereitungen. Na ja. Dabei ist doch die Adventszeit eigentlich die Zeit der Ruhe und Besinnung, eine Zeit, die die Menschen zur inneren Einkehr nutzen sollten. Und was machen sie? Statt sich gemütlich vor dem Kamin einzukuscheln und sich den Bauch mit Lebkuchen voll zu schlagen und dabei lange Gespräche bei Kerzenschein zu führen, hasten sie raus in die Kälte und hetzen durch die Geschäfte.«

Wie konnte sie nur ohne Pause so viel reden? Ob sie wohl bei ihren vielen Männern nichts zu sagen hatte und sich alles für Gelegenheiten wie diese aufhob, um es mit einem Mal loszuwerden? Bei einem möglichst harmlos aussehenden Fremden?

»Statt Liebe im Blick zu haben, jagen ihre Augen unruhig und gierig über die Auslagen der Geschäfte. Ist das nicht wirklich schade?«

Lundquist nickte unbestimmt und begann abwesend seine Schulter zu massieren.

»Entschuldige, ich will dich nicht weiter aufhalten. Wenn wirklich alles in Ordnung ist ...«

Sie sah ihn prüfend an.

»Dann hast du ja sicher auch noch viel zu erledigen.«

»Danke«, murmelte Lundquist.

Als sie sich zum Gehen umwandte überlegte er, dass sie, wenn sie vier Kinder hatte wahrscheinlich nicht so jung war, wie er zunächst gedacht hatte. Sie ging sogar leicht gebeugt, fiel ihm jetzt auf. Und plötzlich tat es Lundquist leid, dass er sie so wenig freundlich behandelt hatte. Sie war keinen Deut glücklicher als er – vielleicht trotz der Kinder gerade jetzt vor Weihnachten besonders einsam. Sonst hätte sie vielleicht auch nicht so viel über die Sehnsucht nach Wärme und Liebe gesprochen, oder? Ach ja, du Hobbypsychologe, tadelte er sich.

»Wie alt sind deine Kinder denn?« Mit einem Schritt hatte er die zarte Frau wieder eingeholt. Sie zuckte zusammen, als er sie so überraschend ansprach. Doch einen Moment später wich der Schreck und sie lächelte ihn schon wieder an.

»Zwischen neunzehn und zwei.«

»Ist ja sicher viel Arbeit für dich – besonders in den Wochen vor Weihnachten. Vielleicht kann dein Schwiegervater ja ab morgen ein bisschen mithelfen.«

»Er ist ein böser alter Mann, der mich hasst, weil ich seinen Sohn in die Stadt gelockt habe und er den Hof nicht übernehmen wollte.«

Sie klang so ohne Hoffnung, dass Lundquist spürte, wie sich ein Tonnengewicht auf seine Brust legte.

So wollte er das Gespräch nicht enden lassen.

»Ich habe eine kleine Tochter. Gerade jetzt verursacht sie einen ziemlichen Stress. Sie ist noch klein, vier Jahre alt, aber in dem Alter ist der Dickkopf manchmal besonders groß. Und mit Vernunft allein ist da nicht viel zu erreichen«, sagte Lundquist.

»Für vernünftiges Handeln bleibt ihr noch der ganze Rest ihres Lebens«, sagte die junge Frau. »Solange sie Kind ist, darf sie auch unvernünftig sein – das ist ihr Privileg. Und auch wenn sie schwierig sind – ohne die Kinder wäre Weihnachten doch nur halb so schön.«

Sie sah ihm jetzt nicht in die Augen. Er wusste, sie wollte ihn nicht die Lüge entdecken lassen.

»Vielleicht kannst du dir die Zeit vor dem Fest ein wenig ruhiger gestalten«, sagte sie.

»Ich muss noch rasch einen Mörder fangen, bevor Weihnachten werden kann.«

»Wie furchtbar: einen lieben Menschen auf so gewaltsame Weise verlieren zu müssen – und dann auch noch zu dieser Zeit.«

So hatte Lundquist das noch gar nicht gesehen. War es nicht immer schlimm, wenn ein Mensch sterben musste? Ganz gleichgültig wann es passierte? Litten die Angehörigen um Weihnachten herum mehr, wenn einer ihrer Lieben starb oder noch schrecklicher: ermordet wurde? Und das Opfer? Was mochte jemand denken, dem bewusst war, er konnte nur noch diesen einen Gedanken fassen ...? Er strich abwesend über seine Arme, als wollte er sich wärmen. Eine Gedichtzeile fiel ihm ein, die er vor vielen Jahren gelesen hatte und die ihn damals tief beeindruckte:

Am schlimmsten: Nicht im Sommer sterben,

wenn es hell ist

und die Erde für den Spaten leicht ...

Er spürte den Blick der zarten Frau wieder auf sich ruhen. Sie wechselten noch ein paar Sätze, schüttelten sich die Hände, dann verschwand die kleine Gestalt im Gewimmel der Weihnachtskaufwütigen.

Von wem war nur dieses Gedicht? Abwesend starrte er vor sich hin und bedauerte nicht zum ersten Mal das etwas chaotische Ablagesystem seines Gedächtnisses. Vielleicht würde es ihm heute Nacht im Traum einfallen. Manchmal funktionierte diese Methode ganz gut, zum Beispiel neulich, als ihm partout seine PIN für die EC-Karte nicht mehr einfallen wollte.

Aber eigentlich müsste es ihm doch möglich sein, sich daran zu erinnern, von wem diese Zeilen stammten, schließlich wusste er ja auch noch genau, wie sehr sie ihn damals beeindruckt hatten. Mit zorniger Entschlossenheit forschte er weiter.

Gottfried Benn! Das Gedicht musste von ihm sein. Zufrieden seufzte Lundquist auf. Selbst den Titel wusste er wieder: Was schlimm ist. Wenn die Erde für den Spaten leicht ... Hatte Benn dabei an die Totengräber gedacht, die weniger Arbeit mit dem Ausheben des Grabes haben würden, oder dachte er dabei an den Toten, dessen auf ihm ruhende leichte Erde ein Bild des gelassenen Abschieds vermitteln sollte. Oder hatte Benn womöglich Angst gehabt, bei lebendigem Leib begraben zu werden und sich aus schwerer Erde schlechter befreien zu können? Dachten Mörder überhaupt über die Jahreszeit nach, zu der sie ihre Taten begingen? Oder spielte das keine Rolle? Bei Mord aus Rache vielleicht, spann er den Faden weiter, wenn der Mörder dachte, das Opfer solle auf keinen Fall mehr den nächsten schönen Sommer oder das kommende Weihnachtsfest erleben dürfen. Musste der Tote in der Kirche deshalb ausgerechnet jetzt und an diesem Ort sterben?

Gedankenverloren griff Lundquist nach einer Biografie. Ob Magda wohl Kinder wollte, Kinder mit ihm? Darüber hatten sie noch nie gesprochen. Vielleicht wäre es für Lisa sehr schön, Geschwister zu haben, schweiften seine Gedanken ab. Schadete es der Stimme einer Opernsängerin eigentlich, wenn sie schwanger wurde? Er fuhr sich mit zitternden Fingern übers Gesicht und wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. Würde er überhaupt noch genug Zeit haben, um diesen Kindern ein guter Vater zu sein?

Er stellte abrupt das Buch ins Regal zurück und verließ hastig die Buchhandlung.

Dr. Palm sah seinen Patienten kritisch an.

»Aha, du bist also gestrauchelt, möchtest eventuell eine neue Familie gründen und hast nun Angst, dir könnte ein neuer Schub dazwischen kommen?«

Lundquist zuckte die Schulter.

»Nun ja, ich glaube, so könnte man die Situation kurz und knapp zusammenfassen.«

Dr. Palm war schon seit Lundquist denken konnte Hausarzt der Familie und für ihn ein ganz besonderer Freund. Damals, als Anna gestorben war, hatte er es übernommen, die Familie über den Unfall zu informieren, hatte in einer hoffnungslosen Situation Halt gegeben. Auch als Lundquist vor einigen Monaten erfuhr, dass er an Multipler Sklerose erkrankt sei, war es Dr. Palm gewesen, der ihm Zuversicht geben konnte. Er kannte die familiären Hintergründe und war mit seinem analytischen Urteil immer ein guter Ratgeber.

»Deine neue Freundin weiß ja über deine Erkrankung Bescheid. Sie kennt also das Risiko, auf das sie sich eingelassen hat.«

»Ja. Na klar. Sie weiß es eigentlich schon seit den ersten Minuten unserer Bekanntschaft. Du weißt, wir haben uns ja im Krankenhaus kennen gelernt. Zwei Invaliden auf einer Bank.«

»Wildromantisch«, spöttelte der Arzt.

»Ich frage mich, ob ich die Disposition für MS vererben würde, wenn wir Kinder bekommen sollten. Und ich frage mich, ob ich noch genug Zeit habe, mit dem Nachwuchs zu spielen und zu toben.«

»Oh, wir sind wieder bei deinem Jahrmarktsbudenthema. Du weißt genau, dass dir kein Mensch die Frage beantworten kann, wie viel Zeit dir für die Verwirklichung deiner Pläne bleibt! Ob du morgen von einem Auto überfahren wirst oder beim nächsten Badespaß im Meer einen Krampf bekommst und ertrinkst: Wer will das wissen? Geh zu Lily Antwerpes, der berühmten Hellseherin, die beantwortet deine Fragen nach der Zukunft!«

»Ist ja gut, ist ja gut!« Sven Lundquist hob schützend die Hände über den Kopf. »Ich gebe mich geschlagen und bekenne, du hast Recht!«

Sie lachten.

»Was deine Frage nach der Vererbung angeht, kann ich dir sagen, es gibt definitiv keine familiäre Häufung. Man weiß einfach nicht genau, warum der eine es bekommt und der andere nicht. Wenn du wirklich abgeklärt haben willst, ob sich bei dir ein neuer Schub ankündigt, bin ich nicht die richtige Adresse. Dr. Baum wird das schneller herausfinden. Möglicherweise wird er deine Interferon-Dosis etwas erhöhen. Und einmal straucheln ist nicht wirklich ein alarmierendes Signal. Ich hatte einmal eine Sprechstundenhilfe, Insga, die stolperte von morgens bis abends durch meine Praxis. Sie war nicht etwa krank, nur irgendwie ungeschickt beim Bewegen. Jede Treppe war eine Herausforderung für sie, manchmal schlugen die Türen, die sie aufgestoßen hatte, zurück und mehr als einmal musste ich ihr eine Salbe für ihre Rippenprellungen verschreiben, die sie sich bei so einem Kontakt mit der Türklinke zugezogen hatte. Aber deshalb bist du auch nicht wirklich zu mir gekommen, nicht wahr? Das Problem liegt ganz woanders«, sagte Dr. Palm und goss aus einer großen Thermoskanne Kaffee in zwei Tassen.

»Milch? Zucker?«

Lundquist schüttelte den Kopf.

»Schwarz ist prima.«

Dr. Palm wartete. In den vielen Jahren hatte er als Hausarzt ein untrügliches Gespür für familiäre Spannungen seiner Patienten entwickelt. Er wusste, schweigend warten zu können, war eine unbezahlbare Fähigkeit, für die in der schnelllebigen Zeit im Bereich der Medizin zu wenig Raum blieb. Viele Kollegen hetzten sich und ihre Patienten durch die Anamnese und zu Spezialuntersuchungen, ohne von ihren wirklichen Problemen jemals etwas zu erfahren.

»Mutter will, dass alles so bleibt, wie es ist«, spuckte Lundquist trotzig aus.

»Sie befürchtet ihre Bedeutung für dein Leben zu verlieren«, sagte Dr. Palm; seine Stimme hatte mit einem Mal ein dunkles, beruhigendes Timbre bekommen.

»Sie weigert sich sogar, Weihnachten mit Magda zu feiern! Selbst Lisa hat schon gemerkt, dass mit Oma irgendetwas nicht stimmt.«

»Sie macht also so richtig Stimmung gegen Magda.« Lundquist knetete seine Finger, dann spreizte er sie und musterte sie kritisch, als könne er chiromantische Erkenntnisse gewinnen.

Er seufzte.

»Ja und nein«, sagte er und legte die Hände wieder auf die Armlehne. »Manchmal wirkt sie auch einfach nur traurig, vorwurfsvoll traurig, und an anderen Tagen keift sie sofort los, sobald Lisa sie nicht mehr hören kann.«

»Was hält die Kleine denn überhaupt von deinen Plänen?«

»Sie findet Magda toll. Die beiden unternehmen viel gemeinsam – auch wenn ich Dienst habe. An den Wochenenden sind wir nach Möglichkeit sowieso zusammen. Von meinen Heiratsplänen weiß sie allerdings noch nichts – Magda weiß es ja auch noch nicht«, sagte er und rutschte mit dem rechten Arm etwas fahrig an der Armlehne ab.

»Aber du glaubst schon, dass die beiden jungen Damen miteinander klarkämen?«, hakte Dr. Palm nach.

»Ja, schon. Ich glaube, Lisa wäre total begeistert, wenn Magda meine Frau würde.«

»Nehmt ihr deine Mutter auf eure Wochenendausflüge eigentlich manchmal mit?«

»Nein. Sie will nicht. Lieber sitzt sie schmollend in ihrer Wohnung und wartet auf meine Rückkehr, um mich mit Vorwürfen zu überschütten.«

In Lundquists Jacke meldete sich das Handy. Entschuldigend nickte er Dr. Palm zu und nahm das Gespräch an.

Gitte war mit Wehen ins Krankenhaus eingeliefert worden.

Drei Monate vor dem errechneten Endtermin! »Scheiße!«, fluchte Sven Lundquist, winkte Dr. Palm flüchtig zu und eilte aus dem Zimmer.

****

»Wie? Ihr hattet euch getäuscht und nun wisst ihr immer noch nicht, wer der Tote aus der Kirche ist?«

Hanne schüttelte fassungslos den Kopf.

»Wie kann denn so was passieren? Es ist schon tragisch genug, wenn man auf so eine Art und Weise sterben muss, einsam in einer Kirche – und dann kennt noch nicht mal einer deinen Namen!«

»Nur, dass er eben nicht einfach gestorben ist, sondern kaltblütig ermordet wurde«, stellte Britta schonungslos klar.

Es schien, als versuche die eine Hälfte des Ortes den Mord durch eine vorsichtige Wortwahl zu negieren, während die andere Hälfte sich bemühte, der Polizei zu erklären, dass weder Täter noch Opfer mit dem Ort in Verbindung stehen könnten.

Hanne sah Britta tadelnd an.

»Dass ihr jungen Leute immer alles so brutal ausdrücken müsst«, beschwerte sie sich. »Zu meiner Zeit ging man mit seinem Wortschatz pfleglicher um und achtete die Gefühle seiner Mitmenschen. So eine Ausdrucksweise schickte sich zu meiner Zeit einfach nicht!«

»Mord schickt sich zu gar keiner Zeit!«, parierte die junge Frau spitz.

»Ja, da magst du ja Recht haben. Aber wir haben über so viele Dinge nicht öffentlich gesprochen. Du weißt schon. Und nun guck dir doch heute mal die jungen Mädchen an: Bauch frei und im Nabel einen großen Klunker. Du liebe Güte! Mein Vater hätte mich grün und blau geprügelt, wenn ich so nach Hause gekommen oder womöglich zur Schule gegangen wäre. Aber heutzutage kommen die ja sogar in dieser Aufmachung in die Kirche! Schamlos!« Britta seufzte. Wollte Hanne ihr klarmachen, es sei von einer Generation, die den Bauch zur Schau stellte und gepierct war, nicht anderes zu erwarten, als dass sie auch vor einem Mord in der Kirche nicht zurückschreckte?

Unauffällig sah sie sich in der kleinen Küche um. Ganz offensichtlich war die Hausfrau gerade mit den Vorbereitungen fürs Mittagessen beschäftigt, als der Besuch der Inspektorin sie unterbrochen hatte.

»Wolltest du gerade Hechtgehacktes kochen? Mhm. Das hat meine Oma auch gern gegessen. Bei keinem Familienfest durfte das auf dem Tisch fehlen – selbst bei der zweiten Hochzeit meines Vaters bestand sie darauf, dass es mit auf der Buffetkarte stand.«

Hanne grunzte nur.

»Ich koche nicht gern. Aber es ist nun mal notwendig, wenn man nicht verhungern will. Heutzutage kümmern sich ja die eigenen Kinder nicht mehr um ihre alten Eltern. Ja, früher, da war das ganz anders. Wir haben für unsere Eltern und Großeltern gesorgt. Schon als junges Mädchen habe ich täglich das Essen zu meiner Großmutter gebracht. In so einem kleinen Tiegel. Den musste sie dann nur noch aufs Feuer stellen. Aber die Zeiten sind vorbei«, jammerte die alte Dame.

Das musste wohl Hannes Lieblingsthema sein, dachte Britta und beschloss, eilig ein anderes anzuschneiden und zu ihren aktuellen Ermittlungen zurückzukehren.

»Hat es hier denn eigentlich jemals einen Rollstuhlfahrer gegeben?«, nahm sie einen neuen Anlauf.

»Nein. Ich hab jedenfalls nie einen zu Gesicht bekommen. Zu meiner Zeit hießen die noch Krüppel und wurden vor der Öffentlichkeit versteckt. Man versorgte sie im Haus. Natürlich hätte das ganze Dorf davon gewusst – aber mit Sicherheit wäre nie darüber gesprochen worden. Das ist erst heute so Mode.« Langsam riss Brittas Geduldsfaden.

»Und in der Mordnacht hast du nichts Ungewöhnliches bemerkt? Vielleicht Geräusche auf der Straße. Wenn man älter wird, braucht man nicht mehr so viel Schlaf oder man schläft schlecht. Meine Großmutter steht dann immer auf und guckt auf die Straße. Manchmal stundenlang.«

»Ach ja? Wie ungemein spannend! Was glaubst du, kann man wohl nachts auf unserer Dorfstraße sehen?«

»Du meinst, hier ist nicht genug los? Gibt es denn keine heimlichen Liebhaber auf dem Weg zum außerehelichen Rendezvous? Oder einen auf dem Heimweg torkelnden Bürgermeister, direkt nach seiner flammenden Rede zur Kampagne gegen den Alkoholmissbrauch?«

»Na, dann hätte er ihn ja auch gebraucht und nicht missbraucht«, gab Hanne giftig zurück.

So kam sie nicht weiter. Britta zögerte, noch eine weitere Frage zu stellen. Irgendwie schien Hanne alles misszuverstehen oder umzudeuten. Wie sollte man da zu einem vernünftigen Ergebnis kommen? Auf der anderen Seite wusste man nie, welche Überraschungen solche Zeugen noch in petto hatten. Britta atmete tief durch und unternahm einen weiteren Versuch.

»Was tust du denn, wenn du nachts aufwachst und merkst, dass du auf keinen Fall wieder einschlafen kannst?«

»Ich mache Nachtschicht am Telefon der Seelsorge.« Für einen Moment war Britta platt. Welcher verzweifelte Mensch sollte sich ausgerechnet mit Hanne über seine privatesten Probleme unterhalten?

Auf den Straßen von Holm herrschte nicht gerade hektische Betriebsamkeit. An einer Imbissbude sprach Britta mit einer Gruppe von Stammgästen. Keinem war das dänische Auto aufgefallen. Weder hatte in den beiden Geschäften ein Rollstuhlfahrer eingekauft, noch war an der einzigen Tankstelle des Dorfes ein Mann mit einem für Rollstühle speziell ausgerüsteten Wagen bemerkt worden.

Entmutigt beschloss Britta, eine kleine Mittagspause im Kro einzulegen.

Vielleicht würden sich am Nachmittag ein paar Kinder und Jugendliche finden lassen, die sie befragen konnte.

Lundquist und Lars saßen in der behaglichen Küche des Pfarrhauses. In den Tassen vor ihnen dampfte Tee und aus dem Radio dudelte leise Orgelmusik.

»Pfarrer Landulf mag keine andere Musik. Aber ich finde sie im Grunde auch recht beruhigend – gerade in so aufregenden Zeiten wie im Moment. Ein wenig langweilig ist sie allerdings auch«, lachte Grete gutmütig und angelte eine Gebäckdose vom obersten Regalbrett des Vorratsschrankes.

»Hier drin verstecke ich immer Weihnachtsplätzchen«, flüsterte sie den beiden Männern vertraulich zu. »Sonst isst Pfarrer Landulf die alle auf und zu Weihnachten stehe ich dann den ganzen Tag in der Küche am Ofen, um Nachschub zu backen. Da sind die Pfarrer kein bisschen besser als andere Männer.«

Sie zwinkerte Knyst zu.

Sven Lundquist warf seinem Freund, der mit fliegenden Händen und flackerndem Blick alle paar Minuten das Display seines Mobiltelefons überprüfte, einen besorgten Blick zu.

Hatte er sich damals auch so angestellt, als Anna schwanger war? Benahmen sich alle werdenden Väter so?

Gitte war im Krankenhaus gut aufgehoben. Man hatte ihr strenge Bettruhe verordnet und die Wehen wieder zum Stillstand gebracht. Dem Baby ging es auch gut – und so sollte es dem Vater auch möglich sein, sich etwas zu entspannen, dachte Lundquist.

Doch stattdessen saß Knyst mit schmalen Lippen und auf das Handy fixiertem Blick am Tisch.

Während Grete ihr selbstgebackenes Wundergebäck auf einem Teller arrangierte, entwand Lundquist den feuchten Händen seines Kollegen das Handy und legte es auf den Tisch.

Lars sah ihn gequält an.

Ob er dem Gespräch mit Grete überhaupt zuhörte? »Der Name Gunnar Thaisen sagt dir auch nichts?«

»Nein.«

Grete schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre beeindruckende Oberweite rhythmisch mitzuschwingen begann.

»Ist das der Name des Toten?«, fragte sie.

»Nein. Nicht direkt. Aber er hat sich als Gunnar Thaisen ausgegeben. Selbst das Auto war auf diesen Namen geliehen. Der echte Gunnar Thaisen lebt in Dänemark.«

»Das ist ja ein Ding! Meine Nichte erzählte mir gerade neulich von einem Skandal bei ihr im Dorf. Da hatte jemand eine Todesanzeige in die Zeitung gesetzt – dabei lebte der Mann gesund und lustig! Alle seine Freunde waren in heller Aufregung und riefen ständig bei seiner Frau an, um ihr zu kondolieren. Das muss für die beiden ziemlich schlimm gewesen sein. Am Ende stellte sich raus, es sollte ein Scherz sein! Na, über solche Scherze kann ich wirklich nicht lachen. So was ist nicht nur sehr makaber, das ist schon richtig geschmacklos!«

»Ja, da hast du Recht. Der echte Gunnar Thaisen war auch ganz schön aufgebracht, als die Polizei seine Frau darüber informierte, man hätte in eurer Kirche seine Leiche entdeckt. Gott sei Dank«, Sven Lundquist zuckte kurz zusammen, als ihm klar wurde, dass diese Formulierung in einem Pfarrhaus eine sehr gewichtige Bedeutung haben musste, »rief sie sofort geistesgegenwärtig sein Handy an und er meldete sich! Du kannst dir sicher vorstellen, wie unangenehm uns diese Sache war.«

Lars Knyst biss in einen von Gretes duftenden Lebkuchen und erklärte ungerührt mit vollem Mund:

»Nun dachten wir eben, vielleicht hat der Name für irgendjemanden im Ort doch eine Bedeutung. Vielleicht war er ja mal im Rahmen eines Kulturprojekts als Austauschschüler hier. Oder mit seiner Familie in den Sommerferien: Ferien auf dem Bauernhof oder so.«

Er fegte ein paar Kekskrümel von seinem Ärmel. »Aber alle im Dorf betonen, dass es nie einen Rollstuhlfahrer im Ort gegeben habe«, sagte Grete.

»Bei wem könnten wir uns noch erkundigen?«, schaltete sich Lundquist ein.

»Ich weiß nicht. Die alte Hanne kennt alles und jeden und weiß über alle Dinge Bescheid. Frag doch mal bei ihr nach.«

»Er muss ja damals auch noch gar nicht auf einen Rollstuhl angewiesen gewesen sein«, sagte Lundquist. »Es ist ja durchaus möglich, dass die Behinderung Folge eines früheren Unfalls war – oder einer Erkrankung.« Sven Lundquist kämpfte mit seiner Stimme, räusperte sich und nahm einen Schluck von Gretes Tee. Narr, schalt er sich, mach dich endlich von deinen Ängsten frei, sonst steht dir dein Kopf nicht zum Denken zur Verfügung!

»Tja, das ist natürlich möglich. Aber wenn er gar nicht der Tote ist, könnt ihr ihn doch einfach danach fragen.«

»Das stimmt.«

Knyst probierte noch eine Plätzchensorte, die in der Mitte einen roten Marmeladenklecks aufwies. Ein echtes Polizistenplätzchen, dachte Lundquist. Sieht aus wie eine Stoppkelle.

»Und ihr wisst tatsächlich nichts über den Toten aus der Kirche? Es wird doch wohl hoffentlich von irgendjemandem bemerkt werden, dass er nicht mehr nach Hause kommt. Ein entsetzlicher Gedanke: zu sterben, ermordet noch dazu und von niemandem vermisst zu werden.«

»Wir konnten ihn noch nicht identifizieren«, sagte Lundquist. »Wir wissen nur eines: Er war nicht gelähmt und seine Haare waren gefärbt.«

»Ist doch eigentlich eine total verrückte Idee, oder?«, stieß Grete perplex hervor. »Da täuscht einer eine Behinderung nur vor. Wozu in aller Welt soll das gut sein?«

Ja, dachte Lundquist, wenn wir diese Frage beantworten könnten, wären wir einen gewaltigen Schritt weiter.

Бесплатный фрагмент закончился.

399
573,60 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
341 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783941895683
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают