Читать книгу: «Mord im Hause des Herrn», страница 2

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Das Ermittlungsteam traf sich im kleinen Besprechungsraum.

»Also, bisher haben wir noch nicht allzu viele Fakten. Aber klar ist, wir haben einen Toten in der Kirche auf Holm gefunden, erschlagen von einem massiven Glaskreuz. Das Ding war so schwer, dass wir extra ein Team mit einer Seilwinde anfordern mussten, um es zu heben.«

Hinter Lundquist waren schon die ersten Fotos aus der Kirche an der Magnetwand angepinnt worden.

Ole Wikström runzelte die Stirn.

»Wenn es so schwer war, können wir doch wohl kaum davon ausgehen, dass ein einzelner Kirchenbesucher es versehentlich umgestoßen hat, auch kann einer allein den anderen nicht damit erschlagen haben. Erdbeben?«

»Nein. Es gab kein Erdbeben. Wir haben schon mal vorsichtshalber nachgefragt. Keine seismologischen Besonderheiten«, antwortete Lundquist.

»Also doch Mord?«

Lundquist erhob sich etwas schwerfällig und zeigte auf die Aufnahmen.

»Es kann auch nicht einfach umgestoßen worden sein.«

Er wies auf einen Punkt auf einem der Fotos.

»Hier stand das Kreuz – der Fuß hat sich deutlich im Boden abgedrückt, und in der Umgebung finden sich jede Menge zum Teil tiefe Kratzer in den Dielen – und hier«, er wies auf den Toten, »und genau hier an dieser Stelle wurde das Opfer getroffen. Wir haben den Weg ausgemessen, und dabei wurde klar, dass das Kreuz um mindestens zwei Meter in Richtung Altar verschoben worden sein musste, um den Mann zu treffen.«

»Aber selbst wenn man es geschoben haben sollte – das ist doch laut. Warum hat sich der Mann nicht durch einen Sprung in Sicherheit gebracht?«, wollte Bernt Örneberg wissen.

»Vielleicht war er ja eingenickt. Viele Männer schlafen beim Gottesdienst ein«, stichelte Britta und sah Bernt herausfordernd an.

»Das ist eine der Fragen, die wir zu klären haben: Was wollte der Mann eigentlich um diese Zeit in der Kirche? Schließlich stammt er nicht aus dem Ort. Familiäre Krise? Suchte er Rat? – Vor der Kirche stand ein großer Saab mit dänischem Kennzeichen. Umgebaut für die Nutzung durch einen Rollstuhlfahrer. Was, wenn der Mann sich einfach nicht bewegen konnte?«, überlegte Lundquist laut.

Für einen Moment waren alle still.

Lähmendes Entsetzen lastete über dem Besprechungstisch. »Sich so was vorzustellen«, murmelte Ole leise, »jemand erschlägt mit diesem Riesending einen anderen, der die Gefahr zwar kommen sieht, aber hilflos der Situation ausgeliefert ist und ihm nichts anderes übrig bleibt, als darauf zu warten, dass der Mörder seine Tat vollendet. – Grausam.«

»Ja. Eine entsetzliche Vorstellung. – Nur haben wir es hier wohl nicht mit einem Einzeltäter zu tun. Es sei denn, er verfügt über übermenschliche Kräfte«, stellte Lundquist trocken klar. »Was die Sache allerdings keinesfalls erträglicher macht.«

»Und wie sollen wir uns das vorstellen? Mehrere Männer aus dem Ort treffen sich nachts in der Kirche, um dort einen wehrlosen Fremden zu erschlagen? Wieso sollten sie das tun?« Britta sah fragend in die Runde.

»Wenn dieses Kreuz so schwer war, warum wurde er dann nicht von der Wucht einfach zermalmt?«, warf Bernt ein.

»Die Spurensicherung meint, das läge daran, dass die vorderen Reihen des Gestühls fest mit dem Boden verschraubt sind. Weiter hinten stehen lockere Bankreihen, die sich automatisch verschoben hätten. Aber die ersten fünf Reihen sind fest verankert. Außerdem hatte sich das Kreuz mit einer Ecke an der Säule verkantet, es wurde so stark abgebremst, dass nur eine Ecke des linken Seitenarms ins Gestühl einschlug. Es entstand eine tiefe Kerbe, mehr nicht. Und da die Bänke verschraubt sind ... Natürlich wäre das Holz des Gestühls bei einem ungebremsten Aufschlag völlig zersplittert.«

»Wieso glaubst du denn, dass die Täter aus dem Ort gekommen sind?«, fragte Ole bei Britta nach.

Achselzucken in der Runde.

»Wir müssen so schnell wie möglich rauskriegen, wer unser Toter ist«, stellte Lundquist fest. »Dann wird sich bald zeigen, ob er eine Verbindung zu Holm hatte oder nicht.«

Es klopfte.

»Der Rechtsmediziner hat einen ersten Kurzbericht geschickt.«

Ein Polizist reichte Lars einen Aktenordner und zog sich eilig wieder zurück.

»Hier steht, der Mann war 1,90 Meter groß und wog 134,2 Kilogramm. Die äußere Inspektion hat keinen Anhalt auf eine andere, als die vermutete Todesursache ergeben. Das Genick ist gebrochen. – Ganz schön schwerer Brocken«, sagte Lars.

Er selbst war beinahe zwei Meter groß und achtete akribisch auf sein Gewicht. Jedem Gramm zuviel wurde im Fitness-Studio sofort zu Leibe gerückt.

»Tja – vielleicht alles Muskulatur«, sagte Bernt, der selbst ständig gegen seinen Schwimmring und den leichten Bierbauch ankämpfte.

»Übrigens: Dr. Wennerström möchte einen von uns bei der Autopsie dabeihaben«, sagte Lars.

»Ich gehe«, legte Lundquist fest und trat wieder an die Magnettafel.

»Bernt, du sprichst mit den Leuten im Ort. Vielleicht fällt dem einen oder anderen ja doch noch ein, dass er einen Rollstuhlfahrer kennt. Über das Kennzeichen des Saab finden wir den Halter. Lars, du suchst in dieser Richtung – die dänischen Behörden sind gerne behilflich. Britta – du besuchst den Pfarrer. Sprich mit ihm über seine Kirche und die Leute, die regelmäßig zum Gottesdienst kommen. Wir müssen auch wissen, ob die Kirche nachts offen war. Ole, wie kam der Tote rein? Er musste doch mit dem Rollstuhl über den Kiesweg. Das war sicher gar nicht so einfach. Frag bei den Kollegen von der Spurensicherung nach, ob sie tiefe Furchen gefunden haben. Wir haben auch bisher den Rollstuhl nicht entdeckt. Für mich sieht das so aus, als wollte jemand dieses Beweisstück verschwinden lassen. Vielleicht stand der Name des Opfers darauf oder es gibt eine Art Registriernummer. Und kläre, ob in der Gegend bei einem Feuer Metallteile die zu einem Rollstuhl gehören könnten, gefunden wurden. Wäre doch möglich, dass der Täter ihn auf diese Weise verschwinden lassen wollte.«

Lundquist streckte sich.

»Jetzt ist es 14 Uhr. Wir treffen uns um 19 Uhr wieder hier. Vielleicht wissen wir dann schon deutlich mehr.«

Er verließ den Raum und hoffte wie schon so oft, dass sein etwas unsicherer Gang keinem aus dem Team auffallen möge.

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Nachdenklich betrachtete Dr. Wennerström den Toten, bevor er mit der Lupe Hals und Hinterkopf untersuchte, wo sich ein großes Hämatom gebildet hatte. Inzwischen war er sich sicher, dass das Opfer den ersten Schlag überlebt haben müsse.

Als er einen Blick auf die Fotos in der Akte warf, schnalzte er mit der Zunge. Ein liebenswerter Tick von ihm, an den sich inzwischen alle längst gewöhnt hatten, selbst sein Hund zuckte bei diesem Geräusch nicht mehr wie elektrisiert zusammen.

»Zwei Schläge mit so einem schweren Ding? Das ist doch wirklich mehr als unwahrscheinlich.«

Wieder schnalzte er mit der Zunge und richtete die Lichtquelle neu aus.

»Ja, was haben wir denn da?«

Er beugte sich noch tiefer über den Toten und stocherte vorsichtig mit einer langen Pinzette, die er von einem Tablett neben dem Seziertisch genommen hatte, in der Wunde herum. Schließlich zog er mit einiger Mühe einen winzigen Span heraus, den er behutsam auf einen Objektträger legte.

Leise summend trug er seinen Fund zum Mikroskop hinüber, nahm ungelenk die Brille ab und betrachtete den Span genauer.

Dann stieß er einen unmelodischen Pfiff aus.

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»Wie soll ich das verstehen?«

Lars Knyst war gereizt.

»Wir ermitteln in einem Mordfall, Mann! Ich möchte doch nur wissen, wem der Wagen mit dem Kennzeichen Rufus 15 gehört. Und du erklärst mir, das sei nicht so einfach!«, fauchte er seinen Gesprächspartner am Telefon an. »Ach – das ist ein Leihwagen? Und von welcher ...? Aha. Na, geht doch. Jetzt muss ich nur noch wissen, von welcher Filiale der graue Saab vermietet wurde.«

Er angelte nach einem Stift, um sich die Nummer der Filiale zu notieren, als seine Augenbrauen plötzlich hochschnellten.

»Was? Die sind nicht vernetzt? Soll das heißen, ich muss jetzt jede der Filialen einzeln anrufen?«

Zwanzig Minuten später hatte der Kollege aus Dänemark die Liste mit den einzelnen Filialen und die entsprechenden Nummern gefaxt, und wider Erwarten hatte Lars schon beim dritten Versuch Erfolg.

Bernt Örneberg sprach mit Bjarne Jaspers, dem Wirt des Kro in Holm. Nach vier Tassen Kaffee mit viel Milch hatte Bernt zwar einen gewaltigen Druck auf der Blase, war aber bei den Ermittlungen noch keinen Schritt vorangekommen.

Bjarne Jaspers kannte niemanden, der im Rollstuhl saß. Er wusste auch nicht, ob man das schwere Kreuz in der Kirche verrücken konnte, er jedenfalls hatte das noch nie versucht und kannte auch keinen, der es je ausprobiert hätte. Ja, klar gäbe es im Dorf ein paar kräftige, junge Männer, aber die gingen ja nie in die Kirche und, ehrlich gesagt, es würde ihn eher überraschen zu erfahren, dass sie von dem Glaskreuz überhaupt wüssten. Und die Älteren wären ja wohl kaum in der Lage – und wieso sollte überhaupt jemand aus Holm mit der Sache zu tun haben? Ja, er gäbe schon zu: Ein zufälliges Zusammentreffen eines unbekannten Rollstuhlfahrers und einer unbekannten Gruppe von Tätern in einem selbst dem Tourismus unbekannten Ort wie Holm sei zumindest unwahrscheinlich – aber so sei der Zufall eben nun mal, oder nicht? Das sei doch wohl ein typisches Merkmal. Und seine deutsche Großmutter habe auch schon immer gesagt: Unverhofft kommt oft.

Außerdem solle der Ermittler doch nach so viel Kaffee lieber noch etwas essen.

Das sei gut für den Magen. Und gerade heute habe er so leckere Smörebröd im Angebot.

»Oder Toast? Wie wäre es mit einem Toast Skagen? Meine Frau bereitet ihn dir ganz frisch zu!«

Bernt gab auf und ging zur Toilette.

Britta Lilliehöök wurde von einer entrüsteten Haushälterin zum Tee ins Pfarrhaus gebeten.

»Seit über zwanzig Jahren mach ich nun für den Herrn Pfarrer den Haushalt – aber so was ist uns noch nie untergekommen. Wir waren schon in ein paar Gemeinden, das ist ja so üblich in einem Pfarrerleben – aber außer ein paar Prügeleien und Familienzwistigkeiten ist nichts Außergewöhnliches passiert. Du weißt schon: wenn der Alkohol das Regiment übernimmt, da bleibt das oft nicht aus. Aber ein Mord!«

Die dralle Wirtschafterin bugsierte Britta ins gemütliche Wohnzimmer. Der Inspektorin kam es vor, als träte sie durch ein Zeitfenster in ein Zimmer aus einem vergangenen Jahrhundert. Hier sah es genauso aus wie in einem der Agatha-Christie-Romane, die sie so liebte.

Fast erwartete man Miss Marple am Fenster vorbeihuschen zu sehen.

Die antiquierte Sitzgruppe, auf deren Armlehnen gehäkelte Schoner lagen, die dunklen Möbel, die das Zimmer ein wenig höhlenartig wirken ließen, die Lampe über dem Couchtisch, deren Troddeln sich im Laufe der Jahre gelblich verfärbt hatten, und die vielen Bücher, die sich ihren Weg aus den deckenhohen Regalen über Stapel auf dem Fußboden bis zu einem der Sessel gesucht hatten, alles schien aus Monkswell Manor in Die Mausefalle zu stammen. Auch die Haushälterin mit ihrem akkuraten schwarzen Kleid und der weißen Schürze passte perfekt hinein.

»So eine Frechheit – im Hause des Herrn, und dann auch noch mit einem Kreuz! Das ist pure Blasphemie! Also ich weiß nicht, ob der Pfarrer sich von dem Schock je wieder erholen wird. Er ist noch immer ganz verstört, der Ärmste.«

Britta nickte verständnisvoll.

»Wie rücksichtslos von diesen Unmenschen. Pfarrer Landulf hätte ja der Schlag treffen können! – Kräutertee oder Grünen Tee?«

»Ach, Quatsch. So schwer ist das Kreuz nun auch wieder nicht. Ungefähr 120 Kilo, schätz ich mal. Einer allein hätte es nicht bewegen können, aber so viele Leute hätt’s jetzt auch wieder nicht gebraucht. Die Gemeinde hat aus dem Aufstellen des Kreuzes ein Riesenhappening gemacht, mit Musik und Grillen – aber wirklich nötig wäre das nicht gewesen.« Knut Hallmannsson Augen blitzten Ole Wikström amüsiert an. Sein faltiges, deutlich verlebtes Gesicht schien noch furchiger zu werden, wenn er lachte. Seine Haare, falls er noch welche hatte, waren unter einer bunt geringelten Strickmütze verborgen, die perfekt zu seinem ebenfalls geringelten, völlig ausgeleierten Pullover passte. Der Mann sah eindeutig nicht gesund aus, fand Ole.

»Nur weil ich der Gemeinde das Kreuz geschenkt habe, muss ich doch nicht auch gleich irgendwas mit Religion am Hut haben! Hab ich nämlich nicht. Ist doch eh alles Quatsch. Aber wenn’s den Leuten gefällt. Mir soll’s egal sein. Du weißt schon: Religion ist Opium fürs Volk.«

Eine Welle aus Alkoholdunst schwappte auf Wikström zu. Er hatte Hallmannsson überraschend in der Kirche angetroffen, wo der Künstler mit gesenktem Blick den Boden nach Glassplittern absuchte. Offensichtlich hatte Hallmannsson keinen Besuch erwartet und konnte den Flachmann nicht so schnell in der Hosentasche verschwinden lassen, wie er das vorhatte.

Eine Alkoholfahne hatte in einem Gotteshaus etwas leicht Irritierendes, registrierte Ole und unterdrückte den Impuls sich abzuwenden.

»Warum bist du hier?«, fragte er.

»Gegenfrage: Was meinst du: in dem Nest oder hier in der Kirche?«

Ole überlegte kurz.

»Beides.«

»In dem Nest, weil ich hier in Ruhe arbeiten kann.

Außerdem will meine Frau hier nicht weg. Sie liebt unseren kleinen Hof und das ganze Viehzeug. Und hier in der Kirche, weil ich gucken wollte, ob das Kreuz Schaden genommen hat. Ist aber alles soweit in Ordnung. Ist doch irre, was?« Die Begeisterung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Ein Mann erschlagen von meinem Kreuz!«

Im Revier Einar Dahls ging es weit weniger gemütlich zu als im Haus des Pfarrers. Das Telefon stand kaum mal zwei Minuten still, und Einar gab jedem Anrufer die gleiche Auskunft: Ja, es habe einen Toten in der Kirche gegeben, nein, er wisse nicht, um wen es sich handle, weitere Auskünfte könne er nicht geben, der Fall läge in den Händen der Göteborger Kollegen.

Man hätte genauso gut eine Ansage vom Band schalten können, überlegte Ole und wartete gelangweilt darauf, dass Einar das Gespräch beendete.

»So, was also wolltest du genau wissen?«

»Ich hatte gefragt, ob du dir eine Verbindung des fremden Rollstuhlfahrers zum Dorf vorstellen kannst?«, wiederholte Ole.

»Wie denn? Ohne Namen, ohne irgendeinen Hinweis?«

»Na, vielleicht hat hier mal jemand gewohnt, der einen Rollstuhl benutzen musste. Der Tote war mittleren Alters, besonders auffällig waren seine hellroten Haare. Also?«

»Ich kann mich jedenfalls an keinen erinnern«, brummte Einar gereizt.

Das Telefon schrillte erneut.

Ole stand auf und sah aus dem Fenster. In so einem kleinen Dorf müsste man sich doch an einen Rollstuhlfahrer erinnern, dachte er übellaunig.

»Wer war denn eigentlich vor dir hier Ortspolizist?«, fragte er, als Einar den Hörer endlich auflegte.

»Uli Morgenstern.«

»Aha. Ungewöhnlicher Name. Wo kann ich ihn finden?« Wikström bemerkte, wie ihm die früh hereinbrechende Dunkelheit auf die Stimmung schlug. Kurz nach vier Uhr fiel bereits die Nacht über die Straßen her und fraß den Tag auf. Dabei hatte der Winter noch gar nicht richtig angefangen. Du wirst langsam reizbar, dachte er missbilligend. Seiner Schwester war das auch schon aufgefallen: Im Winter verwandelte sich der jugendlich lustige und originelle Ole in einen nörgligen und reizbaren Misanthropen. Vielleicht sollte er seinen Arzt mal nach dieser neuen Lichttherapie fragen, dachte er. Mist, jetzt hatte er die Antwort nicht mitbekommen.

»Wo?«

»Na, ich sag doch: auf dem Friedhof.«

»So? War er krank?«

»Nein. Ist vor ein paar Jahren mit seiner Jolle rausgefahren. War ein prima Segler, der Uli, aber an dem Tag war es sehr stürmisch, und da muss er wohl über Bord gegangen sein. Das Boot hat man erst nach Monaten gefunden. Er selbst wurde acht Tage nach seinem Verschwinden unten in Sandvik angespült. Ich musste hin – es war grausig.«

Einar schüttelte sich.

»Was kam bei der Untersuchung raus?«

»Er wurde obduziert. Als Todesursache hat der forensische Pathologe einen schweren Hieb auf den Hinterkopf festgestellt. Er war wohl vom umherschlagenden Segel getroffen worden und ist dann über Bord gegangen. Fremdverschulden war nicht anzunehmen – schließlich war er ja allein unterwegs. Man muss auch zugeben, dass es nicht mehr allzu viel gab, was der Rechtsmediziner hätte untersuchen können – du weißt schon, die Fische. Bei der feierlichen Beisetzung gab’s einen großen Auflauf. Alle waren da. Die ganze Insel.«

Er war sichtlich ergriffen.

»Wie konntest du ihn dann überhaupt identifizieren?«, fragte Ole.

»Na, er sah schon ziemlich schrecklich aus – unvorstellbar, so zerfetzt schon nach ein paar Tagen. Noch heute träume ich manchmal von diesem Gesicht, dann wache ich schweißgebadet auf. Nach so langer Zeit! Der Arzt meinte damals, vielleicht habe auch die Brandung das ihre dazu beigetragen. Jedenfalls hat der Gerichtsmediziner die eindeutige Identifizierung anhand der Zahnarztunterlagen vornehmen müssen.«

»Also gut. Wen kann ich denn sonst noch fragen?«

»Jens, dem gehört der kleine Supermarkt am Ende der Straße. Alle kaufen bei ihm ein – und dabei schütten wohl manche auch gleich ihr Herz bei ihm aus. Der weiß mehr, als ihm lieb sein kann.«

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»Schön, dass du gerade kommst, Sven«, begrüßte Dr. Haakan Wennerström Hauptkommissar Lundquist. »Da kann ich dir gleich meine vorweihnachtliche Überraschung zeigen.«

Er nahm einen Objektträger vom bereitstehenden Instrumentenwagen und wies auf einen winzigen Span.

»Das ist ein Holzspan, lackiert. Unter dem Mikroskop sieht er irgendwie gerundet aus. Er stammt also nicht von einem Brett, einem Paddel oder so was. Ein Besenstiel oder Baseballschläger kämen eher in Betracht.«

Beifall heischend beobachtete er Lundquists Reaktion. Doch der Ermittler schien immer noch nichts mit der Information anfangen zu können.

»Verstehst du nicht, Sven? Dieser Span stammt von der Leiche aus der Kirche!«

»Was?«

»Ja. Den hab ich vorhin aus seinem Nacken präpariert – anders ausgedrückt: gepopelt. War gar nicht so einfach.«

»Er wurde aber von einem massiven Glaskreuz erschlagen. Wie kommt dann der Holzspan ins Spiel? Vom Kirchengestühl?«

»Vom Gestühl eher nicht. Schließlich lag er ja mit dem Kopf nach vorne, die Stirn berührte den vorderen Teil der Bank. Die Prellmarke passt auch nicht zu einem geraden Brett, und der Span auch nicht. Nein, nein. Ich glaube, er wurde mit einem schweren Gegenstand aus Holz erschlagen. Und anschließend arrangierte man alles so, dass alle glauben sollten, er sei durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen.« Wennerström wies mit dem Finger auf den Nacken des Toten.

»Es sieht sogar so aus, als hätte er mehrere Schläge abbekommen. Hier am Rand finden sich unterblutete Bereiche, siehst du, hier«, er wies mit seinem gelblichblassen Latexfinger auf einige Stellen im Nacken des Opfers, »– das bedeutet, dass er nach den Schlägen, zumindest nach den ersten, noch gelebt haben muss.«

»Dann diente das Kreuz also nur zur Tarnung. Wenigstens ein Trost für Pfarrer Landulf, wenn auch sicher nur ein schwacher.«

»Ja, sieht ganz nach einer gestellten Szene aus. Ich glaube, es wurde ganz vorsichtig auf ihm abgelegt.«

»Abgelegt? Du sprichst in Rätseln!«

»Ich weiß, dass es seltsam klingt. Bei der äußerlichen Inspektion konnte ich keine Verletzung finden, die eindeutig dem Kreuz hätte zugeordnet werden können – vielleicht eine Quetschung, aber das klären wir ja jetzt.«

Wennerström warf Lundquist eine Plastikschürze und eine Hygienehaube zu.

Während Lundquist sich die Schürze zuband, richtete der forensische Pathologe mit knappen Bewegungen seine Instrumente auf einem Edelstahltablett. Eine Atmosphäre der Endgültigkeit hing über dem Sektionsraum.

Nicht zum ersten Mal wünschte sich Hauptkommissar Lundquist weit weg von hier.

Der Körper auf dem Tisch war groß und massig. Wennerström nahm ein Skalpell und schnitt in den Brustkorb. Es knirschte leicht, als liefe jemand über verharschten Neuschnee.

»Er war sicher eine enorm stattliche Erscheinung. So groß und schwer – vielleicht Türsteher in einer Disko oder Leibwächter irgendeiner Unterweltgröße«, sagte Haakan Wennerström und griff nach der elektrischen Knochensäge.

Eine Ewigkeit später – so schien es jedenfalls Lundquist – waren alle nötigen Proben entnommen, gesichert und die Organe einer ersten Untersuchung unterzogen.

»Er war ungefähr Mitte vierzig bis Anfang fünfzig, litt an deutlichem Übergewicht, BMI bei 37. Aber nicht alles war Fett. Möglicherweise hat er seine beeindruckende Muskelmasse mit Hilfe anaboler Steroide aufgebaut ...«, mutmaßte Wennerström.

»Er war behindert. Da mag es nicht so einfach sein, eine gute Figur zu behalten. Auf jeden Fall steht fest, dass er im Rollstuhl saß«, unterbrach ihn Lundquist. »Das Auto, das wir vor der Kirche gefunden haben, war speziell für Behinderte umgerüstet. Lars klemmt sich dahinter. Vielleicht finden wir über die Firma, die dieses Fahrzeug behindertengerecht umgebaut hat, seinen Namen raus.«

Wennerström stand die Verblüffung deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Ich will dir ja nicht allen Wind aus den Segeln nehmen«, begann er zögernd, »aber dieser Mann wurde nicht nur nicht von diesem Glaskreuz erschlagen, er war auch nicht auf einen Rollstuhl angewiesen. Und wo wir gerade dabei sind: seine Haarfarbe ist auch nicht echt.«

399
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9783941895683
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