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BENEDETTO RISSONO fühlte sich beflügelt. Auf Zehenspitzen tänzelte er in seinen Lackschuhen die Stufen der Züricher Oper hinab, über den Teppich, hinaus in den Abend. Seine Lungen füllten sich mit kühler Frühlingsluft. Er blickte auf den Zürichberg, der von Nebelschwaden umhüllt dalag. Die Lichter der Stadt spiegelten sich auf dem Wasser des Sees, der ruhig vor ihm schimmerte.

Er atmete tief ein. Herrlich, die Oper, dachte er sich. Eigentlich sollte er von Haus aus mit ihr fremdeln. Sein Vater hatte beim AC Florenz Fußball gespielt und sich später als Amateurboxer die Wut aus dem Körper geschlagen. Er war in seiner Gegend berühmt gewesen für seine Pugno di Pietra, legendäre Fäuste aus Stein, die jede Deckung durchbrachen und später bei der Erziehung seines Sohnes eine Art Ansporn für notwendige Leistungen bilden sollten. Der sportliche Italiener glaubte unwiderruflich, ein jeder halte sein Glück in den eigenen Händen. Man musste sie nur geschickt nutzen, um jeglichen Gegner auszuschalten. Und der junge Benedetto musste erst in die Fußstapfen seines Vaters treten, bevor er den Lauf seines Lebens schließlich den väterlichen Händen entreißen konnte.

Sicher, der Alte hätte sich über den Abend lustig gemacht, über diese »verweiblichten Gecken und pudrigen Gören«, die »verzärtelte« Inszenierung; er hätte lauthals losgelacht über das »schwule« Kostüm des Belcantos, der heute nicht nur traumhaft leicht an der Rampe seine Partien gesungen, sondern der Figur zudem einen extrem starken Charakter verliehen hatte. Seine Koloraturen waren perlend klar aus seiner Kehle geflossen. Benedetto schwelgte noch im Rausch der Schönheit dieser Arien, die im starken Kontrast zu den Songs standen, die während seiner Jugend zuhause in den Stadien gesungen worden waren, auf den Bolzplätzen und in den heruntergekommenen Umkleidekabinen. Früher war er mit der Jugendmannschaft des AC Florenz durch die Provinzen gezogen, hatte große Siege eingefahren. Die jungen Spieler, auf äußersten Zusammenhalt getrimmt, hatten im Rausch ihres Erfolgs gejubelt und die Macht ihrer kraftvollen Körper gespürt und waren unter den Duschen doch verspielt gewesen wie kleine Kinder. Der Taumel des Sieges, das dampfende Wasser, der Alkohol und die von gegrölten Liedern begleiteten Rangeleien hatten nicht selten die Grenze zwischen kumpelhafter Berührung und erotischer Lust eingerissen. Gerne wurde nach einem solch fantastischen Sieg einem Spieler das Shampoo aus der Hand geschnappt, ihm über dem Kopf entleert, der dann von vielen Händen kräftig eingeseift wurde, während zwei, drei andere Jungs ihr sich windendes Opfer umklammert hielten und der Übermut im Spiel für eine allgemeine Enthemmung sorgte, bei der unter lautem Gelächter il culo più bello, der schönste Hintern, gefüllt wurde: Sei es mit dem Schlauch für Kaltwasser, leeren Shampoodosen oder auch mal mit einem der prächtigsten Glieder dieser jungen Männer. Niemand aber hätte es je gewagt, ihn, Benedetto, den Träger der Kapitänsbinde, anzurühren, das Metronom des Mittelfelds, das so lange Tempo aus dem Spiel zu nehmen gewusst hatte, bis es seiner Zeitrechnung folgte. Der violette Stolz des Vereins. Seine Bestimmung hätte darin gelegen, den Traum seines Vaters zu erfüllen und Profi zu werden und damit auch die unerträgliche Armut hinter sich zu lassen, die sich wie eine Erbkrankheit durch die Familie zog. Sie war von den Großvätern auf die Väter und Söhne übergegangen wie die schwarzen Locken und hohen Schläfen oder auch die Hochzeitsanzüge, von denen er heute Abend jenes Exemplar trug, in dem sein Vater seiner Mutter das Jawort gegeben hatte. Benedetto schüttelte das Weiß seines Hemdes aus den zu kurzen Ärmeln, die Hose spannte an seinen muskulösen Beinen.

Der erste Pulk an Gästen strömte nun an ihm vorbei: sein Zeichen. Er ging zurück ins Foyer, wartete vor der Garderobe und behielt die Treppe scharf im Auge. Im Kopf hatte er sich Anekdoten zurechtgelegt. Das Aufstiegsmärchen über Enrico Caruso vielleicht, das zog immer, etwas recht Menschliches, dachte er, das friedlich den Abend besiegeln konnte.

Seine Begleitung stieg langsam die Stufen hinunter. Die Dame war hochgewachsen und hatte eine breite, fast flache Brust, weißes Haar und eine nahezu wölbungsfreie Stirn. Sie sah elegant aus in ihrem perfekt sitzenden blauen Kleid, mit dem dezenten Lippenstift und den zartbeigen Schuhen aus Saffianleder. Ein sicher sehr kostbares Perlencollier rundete den Eindruck ab, trotz ihrer knochigen Schultern. Er reichte ihr den Arm, sie hakte sich wortlos ein. Gemeinsam schritten sie zur Garderobe.

»Wie schön die Oper war«, sagte er und half ihr in den Nerz.

»Wissen Sie«, sprach sie betont vornehm, »wer die Oper nicht mag, ist nicht kultiviert.«

Er nickte gewissenhaft, sehr ernst. »Prima la musica«, antwortete er und hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Die Scheinwerfer der Limousine blendeten auf, als der wartende Fahrer sie auf der Straße erblickte. Benedetto öffnete die Tür, half der Dame in den Wagen und stieg auf der anderen Seite ein. Sie fuhren los. Er musterte ihr Profil, wie es sich in der Scheibe spiegelte. Häuser zogen an ihnen vorbei: groß, modern, gläsern. Sie passierten ein Gebäude am Ufer, das in die Jahre gekommen war. Er blickte sich um. »War das nicht mein Hotel?«, fragte er.

Die Dame klappte ihre Handtasche auf und zog Lippenstift nach. Dann blickte sie zu ihm: »Der Abend war schön. Warum sollte er jetzt enden?«

Weil ich müde bin, hätte er antworten wollen. Stattdessen griff er nach ihrer Hand, hielt sie in der seinen. Er hatte das Gefühl, es beruhige ihn mehr als sie. Mit der freien Hand fischte er eine kleine blaue Pille aus seiner Sakkotasche. Er wartete auf einen günstigen Moment und schmiss sich die Pille ein. Er wusste, es würde etwa eine Stunde dauern, bis sie wirkte.

Die Straße führte inzwischen durch einen dichter werdenden Wald. Sie fuhren bergan, auf die Chefetage der Stadt zu. Er verfolgte das Mondlicht nach jeder Kurve im Rückspiegel, bis die Limousine langsamer wurde und in eine Auffahrt einscherte. Ein Tor öffnete sich, die Reifen knirschten auf dem Kies. Eine Flutlichtfalle strahlte auf und beleuchtete eine Art Schloss mit kunstvoll gezimmerten Balken. Sie stiegen in umgekehrter Reihenfolge aus, wie sie eingestiegen waren, der Fahrer blieb gelassen im Wagen sitzen. Es war nicht der Marmor auf dem Boden, der auf Benedetto Eindruck machte, nicht die kunstvollen Bilder an der Wand oder die grünen Vertäfelungen an der Decke, sondern die Vorhalle, die sie betraten. Benedetto hatte das Gefühl, als befände er sich in einem Grandhotel. Was stellt man mit so viel Platz an?, fragte er sich. Als Kind hatte er am Stadtrand von Florenz gemeinsam mit seinen Eltern, der Großmutter, seinen Geschwistern und weiteren Mitgliedern der Familie gelebt. Jahrelang, beinahe zwei Jahrzehnte, wie in einem Kaninchenstall. Er hatte mit seinem Onkel und zwei seiner Brüder in einem Raum geschlafen. Im Winter hatte ihnen nur ein alter Kachelofen Wärme gespendet, im Sommer hatten die Kastenventilatoren an allen Fenstern das Haus in ein brummendes Wespennest verwandelt.

»Wollen Sie mit nach oben kommen?«, holte die Dame ihn zurück in ihre Gegenwart. Sie stand an der weit geschwungenen Treppe, hatte bereits ihre beringte Hand auf das Geländer gelegt. Er nickte. Die Stufen knarzten an einigen Stellen, ein Einbrecher hätte sich ertappt gefühlt. Aber er war ja kein ungebetener Gast. Sie gelangten in einen großen Salon mit schweren, weißen Vorhängen und hellen Möbeln. Eine Flügeltür führte zum angrenzenden Schlafzimmer. Die Dame zog ihren Nerz aus und legte ihn auf einem Diwan ab. Das Perlencollier verwahrte sie in einer Samtschatulle.

»Wollen Sie etwas Musik machen?«, fragte sie.

Benedetto warf einen beflissenen Blick auf die Plattensammlung, die ein cremeweißes Regal füllte. Enrico Carusos Stimme erklang bald im Raum. Sie beglückte ihn. Er legte den Kopf zur Seite und lauschte der Musik. »Caruso wurde im Armenviertel von Neapel geboren«, kam es ihm über die Lippen. »Als der große Komponist Giacomo Puccini ihn zum ersten Mal hörte, fragte er erstaunt: ›Wer hat Sie zu mir geschickt? Gott?‹« Benedetto lächelte. »Schön, nicht wahr?« Als er sich der Dame zuwandte, hatte diese sich bereits aufs Bett gesetzt und war entkleidet. Sie legte sich auf den Bauch, streckte Beine und Arme wie ein Seestern auseinander.

»Stellen Sie sich vor, ich wäre tot«, sagte sie. »Machen Sie einfach alles, was sie tun müssen.«

Benedetto nickte. Er war in einer psychisch prekären Situation. Wie immer zählte am Ende sein Körper, nicht sein Geist. Er zog sein Sakko aus, nahm sich Zeit, legte es sorgsam auf der Lehne eines Sessels ab. Er knöpfte langsam sein Hemd auf und bewegte sich in Richtung des Durchgangs, hin zu der offenstehenden Flügeltür. Was nun folgte, glich in gewisser Weise dem Gang ins Stadion vor einem Spiel. Alles schmolz zu einem Moment zusammen. Dieser Körper war nicht nur eine durch viele Trainingseinheiten geformte Materie, nein, er war eine Ansammlung straffer Muskeln und Sehnen, die zu funktionieren hatten; ein kampfbereiter Körper, gänzlich von Konzentration durchdrungen. Er hatte ihre Silhouette fest im Blick. Ging auf das Bett zu. Nahm einen ihrer Fußballen in die Hand. Die Absätze ihrer Schuhe hatten sie rot anschwellen lassen. Plötzlich schwang die Flügeltür zu. Benedetto erschrak und drehte sich um. Im Raum stand ein zitternder, alter Mann in Unterwäsche, eine Videokamera in der Hand, seine Augen waren wie ängstliche Träume, er wirkte wie ein Kind, das unabsichtlich etwas kaputt gemacht hatte und nun um Verzeihung bettelte. Benedetto folgte dem Blick des Mannes, der auf einen blütenweißen Umschlag am Kopfende des Bettes zielte. So funktionierte also die Ablassbitte, sprachlos und in eindeutige Gesten gehüllt.

»Schneiden Sie mein Gesicht raus«, sagte Benedetto nach einigem Zögern. Wenig später sollte ein nur sanft nachgebender Körper unter ihm laut werden.

32

DER WUNSCH nach einem aufregenden Leben hatte sich in Viktor verflüchtigt, wenig nur schien ihm noch ein mögliches Versäumnis zu sein. Zu oft hatte er seine Nächte im Qualm von Berliner Eckkneipen verbracht, auf Feiern im Osten der Stadt, vom Wunsch durchdrungen, seine Einsamkeit mit Menschen zu füllen. Zu später Stunde war seine Leidenschaft meist zu einer unerträglichen Lieblosigkeit zerfallen, die nichts anderes wahrscheinlicher machte als in der Dumpfheit eines abgestorbenen Gefühls aufzuwachen und sich unnötig allein zu fühlen, gerade weil jemand neben ihm lag. Seit seiner letzten Beziehung hatte er mit niemanden mehr geschlafen, sich zu keinem Rendezvous getroffen, geschweige denn versucht, noch den Nimbus eines erfüllten Lebens auszustrahlen. In vielerlei Hinsicht war er wohl ein soziales Alien, das als Fossil einer anderen Epoche bestaunt werden konnte. Er las keine Nachrichten, masturbierte nicht mehr über Erotikfilmen, nutzte kaum noch technologische Krücken – für ihn nichts als Einflüsse, die seine Vorstellungskraft lähmten. Selbst zu den wenigen Treffen mit Kunden fertigte er lieber Collagen statt computergenerierter Visualisierungen an. »Eine Collage hat ein offenes Ende«, hatte er seinem Partner Anton gegenüber diese Entscheidung begründet. »Jeder kann sie mit eigenen Eindrücken, Fotos oder Skizzen vervollständigen.«

Auch heute widerstand er allen Verlockungen, die Berlin wie einen Paradeflor vor ihm auszurollen schien. Er stand früh auf, machte sich Spiegeleier in Benedettos kleinem Apartment am Körnerpark, der als grüne Insel vor dem Fenster lag. Sein Freund hatte ihm diese Wohnung in Neukölln zur Verfügung gestellt, solange er selbst für eine Reportage außer Landes war. Benedettos Zimmer waren, wie Zimmer eben waren: Es gab eine Kommode, einen Schreibtisch und ein Bett am Fenster. Dennoch fühlte er sich warm umschlossen von der nicht sonderlich kostspieligen, dafür aber aufwendig zusammengetragenen Einrichtung. An der Wand hingen Partiturblätter, medizinische Karten mit mundmotorischen Übungen, auf dem Boden lagen Sitzkissen und Platten herum. Viktor fiel die schwere Hantelstange im Flur auf, die Pflanzen überall, die Küche mit ihren handbemalten Fliesen und nicht zuletzt ein aus filigran wirkendem Holz gearbeiteter Jali, mit den typisch rundgebogenen Zweigen eines blätterlosen Baumes, der im Schlafzimmer als Paravent und Lichtvorhang zwischen Kleiderschrank und Bett stand. Die Trennung zwischen Ankleide und Schlafstätte in ein und demselben Raum faszinierte Viktor. Jalis werden in der indischen Architektur nicht nur als Ornament, sondern auch zur Trennung der Geschlechter und somit der Identitäten eingesetzt. Ist es möglich, fragte sich Viktor, dass wir uns morgens als ein anderer ankleiden, als wir abends, nach der Passage eines Tages, schlafen gehen? »Mit wem tut Benedetto dies hier wohl?«, sann er flüsternd. Das Licht strömte vom Fenster und gebrochen durch den Jali auf das Bett. Viktor fühlte sich seltsam berührt. Er entkleidete sich, schmiegte sich nackt in das Laken ein und strich sich minutenlang über die Brust. Später nahm er die U-Bahn zur Friedrichstraße. Ging ohne Umweg zur Grimm-Bibliothek. Auch heute ließ er die Großstadt Großstadt sein, im Inneren der riesigen Bibliothek herrschte Konzentration. Er hörte das gedämpfte Murmeln der Besucher, das Knarren von Bücherkarren und das gelegentliche Rascheln von Seiten. Er ging die Treppen der Bibliothek hinauf und blickte hinab in den Lesesaal. Dieser war in der Mitte des Gebäudes angeordnet, türmte sich wie ein Bücherregal in Reihen nach oben, viel höher als die übliche Traufhöhe der Stadt. Die Architektur der Bibliothek überhöhte sozusagen die Funktion des Lesens und machte es zu einem sakralen Akt, zu einer Weihe. Der Innenraum war groß wie ein Schiff, in ihm vibrierte förmlich die Stille. Auf beiden Seiten bildeten die einzelnen Geschosse jeweils versetzte Terrassen aus, auf diese Weise entstand eine Galerie der Blicke: Nicht nur das eigene Buch, sondern auch der andere konnte zur Lektüre werden. Wer hier las, las in Gemeinschaft.

Als Kind hatte Viktor mit seiner Mutter Bibliotheken besucht. Eine Bibliothek war auch der erste Ort, an dem er seine Unabhängigkeit erlangt hatte. Mit sieben Jahren durfte er bereits allein losziehen – und er hatte es geliebt, durch die Regale zu schlendern, die Buchrücken mit den Augen abzutasten, mit den Händen nach ihnen zu greifen. Diese Reisen waren verträumte, reibungsfreie Pausen in seiner Kindheit. Er war stets reicher nach Hause zurückgekehrt, als er es verlassen hatte, und nun, heute, verbrachte er wieder jeden Tag in der Bibliothek und recherchierte zu Mexiko, las, was er finden konnte, von den Aufzeichnungen der Bodenbeschaffenheit in diversen Regionen bis hin zu den Bauweisen untergegangener Kulturen. Seine Notizen füllten bereits zwei dicke Blöcke.

Zwischendurch widmete er sich den Informationen zu Xinatli. Ein Kunstprojekt hielt ihn in Atem, das in dem Museum ausgestellt werden sollte. Es bestand aus zwei Teppichen. Die Geschichte dazu war vertrackt. Die mexikanisch-französische Künstlerin Jeanne Garcia hatte sich mit nichts ahnenden Polizisten angefreundet und ihnen ihre Zuneigung vorgespielt, sie durch Intimität infiltriert, um aus der Asservatenkammer Beweise verschiedener Polizeireviere des Bundesstaats Taumalipas zu entwenden. Dabei handelte es sich um Kleiderfetzen und Habseligkeiten von Vermissten, deren Fälle, wie sie recherchiert hatte, nie aufgeklärt worden waren. Die Stoffe waren blutgetränkt, weil die Vermissten gefoltert, verstümmelt und wie Müll auf die Straße geschmissen worden waren. Aus den Stoffen verwebte Garcia den Roten Teppich, der vor dem Museum ausgerollt werden sollte. Ein furchtbarer Laufsteg in die Welt der Kunst, dachte Viktor. Die Installation war eine Hommage an die mexikanische Künstlerin Rosa María Robles und zugleich eine weiterführende Arbeit, mit der Jeanne ihr offen Tribut zollen wollte. Robles hatte bereits 2007 im Bundesstaat Sinaloa eine Stoffinstallation ausgestellt, die mit diversen Verbrechen aus dem Drogenkrieg in Bezug gestanden hatte. Die Generalstaatsanwaltschaft von Sinaloa hatte die Künstlerin damals unter Druck gesetzt und sie gezwungen, Teile aus der Ausstellung zu entfernen. Jeanne Garcia wollte mit ihrer thematischen Reprise in verschärfter Form beweisen, dass die Straffreiheit der Täter und somit die Verstrickung des Staates vollkommen ungesühnt geblieben waren. Zudem wollte sie als dokumentarischen Appendix ihre Protokolle der Verwebung offenlegen, in denen sie die kriminelle Verbindung zwischen Polizei, Mördern und Gouverneuren aufdeckte und das Muster dieser Verbindungen abstrahierte, aus ihnen eine narrative Struktur verdichtete, was zur Grundlage eines Webmusters für einen weiteren Teppich dienen sollte, dem sogenannten Weißen Teppich, der, aus blütenreinem Papier gearbeitet, sich mit Schmutz färben würde, sobald man über ihn hinweglief. Nach Stunden konzentrierter Lektüre rauchte Viktor der Schädel, er hatte genug für heute.

Draußen hatte die Dämmerung Einzug gehalten. Die Bücher aus der Bibliothek wogen schwer in seiner Tasche – zuhause konnte er sich den Entwürfen für das Museum widmen. Anton hatte wiederholt versucht, ihn anzurufen. Er hatte sein Handy auf lautlos geschaltet und gab nun einem zufahrenden Taxi ein Handzeichen. Aber Taxis – sie hören ja nicht mehr auf Handzeichen, dachte er sich, stülpte die Kapuze seines Pullovers über den Kopf und gab sich der Stadt hin. Er ruderte mit den Armen, Schritt um Schritt, sein Puls stimulierte sich. Die entspannte Abendluft eines Sonnentages füllte seine Brust. Er ging vorbei an einem schraubenförmigen Haus, einem verfallenen Altbau mit großen Bogenfenstern, einem verwilderten Park, ehe er nahe des Kanals in eine Seitenstraße einbog. Hier fand er eine Baustelle vor. Das Schild am Zaun rief die Zukunft des Lebens und Arbeitens aus, eine Gründergemeinschaft am Ufer. Der abgebildete Neubau sah aus wie eine Klinik, daran änderte das hingetupfte Grün nichts: Es handelte sich um einen pastellfarbenen Block mit transparenten Wohnkästen, die sich mit Glasbalkons brüsteten, mit einer Garage samt Mobilitätsangebot, modernster Haustechnik und einer Küche aus Holz-Imitat, die aalglatt und antiseptisch ausgeleuchtet wirkte. Wenn man moderne Architektur als einen Versuch verstand, die Angst vor Schmutz und Krankheiten auszurotten und dunkle Räume wie Ecken zu meiden, dann ergab dieser Ort Sinn. Ein Grundbedürfnis ließ der Bau allerdings außer Acht: Menschen brauchen Schönheit, um sich zu entfalten. Dieser Klotz machte Viktor wütend. Das Ding war schlicht einfallslos. Akzeptabel für alle, inspirierend für niemanden, eine Krypta der Gleichmacherei. Und genau darin lag wohl auch das unschlagbare Argument: Das Los der Bewohner war die Schwebe. Flexibel bleiben, auf dem Sprung sein, zu einer anderen Arbeit übergehen, in eine andere Stadt oder auch gleich die Beziehung wechseln. Wer zu lange bleibt, verfehlt das Werden, erinnerte er sich an einen Spruch, den er irgendwo gelesen hatte. Dabei wohnte dem gotischen Ursprung von Wohnen, wunian, doch ein Zufriedensein inne, ein Zum-Frieden-Gebracht-Sein. Welchen Frieden?, fragte er sich. Welchen Frieden wird wohl dieser Bau stiften? Er funktionierte als soziale Durchlaufmaschine, wie gemacht für ein Leben ohne Reibung. Es war eine Architektur, die aus Menschen nicht das Beste herausholen, sie nicht emanzipieren oder gar eine mutige Lebensform ergreifen lassen wollte. Sie ließ sie schlicht in einem seelenlosen Wohnblock erkalten. Wenn die Zukunft des Zusammenlebens so aussah, war er nicht an ihr interessiert.

Er setzte sich in ein Straßencafé am Kanal, bestellte beim Kellner eine Flasche Wein und kramte sein Notizbuch und einen Füllfederhalter hervor. Sein Vater hatte ihm diesen in einer Box mit ein paar anderen Gegenständen hinterlassen. Eine einzige Box – alles, was von ihm übriggeblieben war, nachdem er sich aus dem Staub gemachte hatte. Viktor vermisste ein Phantom, einen Menschen, der nur mehr anhand welker Geschichten aus seiner Kindheit existierte, in Form von Bildern, einer Handvoll Fotos, aber ohne die Note eines Körpers – einen Menschen also, für den man Netze der Erinnerung auswarf und nur einen läppischen Beifang bekam. Sein Vater war nicht präsent gewesen, als Viktor zum ersten Mal zur Schule gegangen war; er war nicht da gewesen, als er seine erste Freundin zum Abendessen ausgeführt hatte; und er hatte gefehlt, als Viktor seinen Abschluss in Architektur gemacht hatte. Pünktlich zu Viktors neuntem Geburtstag hatte er sich entschlossen abzuhauen. Von da an hatte Viktor mit seiner deutschen Mutter, die im Laufe der Jahre immer stärker verbitterte, allein gelebt. Es war schwer für sie gewesen, allein zurechtzukommen. Viktor hatte früh das Gefühl gehabt, ihr zur Seite stehen zu müssen, so gut es damals eben ging.

»Du bist eine Kämpferin«, hatte er einmal leise und falsch erwachsen zu ihr gesagt, als sie von der Arbeit in einer Telefonzentrale nach Hause gekommen war und feststellte, dass sie niemanden mehr im Leben hatte, der sie anrief. »Ich bin eine Mutter«, hatte sie geantwortet und das Abendessen zubereitet.

Viktor schlug das Notizbuch auf und brachte den Füller in Position. In fremden Augen wollte er mehr Rätsel denn Erklärungen finden. Doch der Anblick der Menschen hier verstörte ihn. Er sah Sitznachbarn ohne Nähe. Sie schauten auf Screens, sie schauten nicht auf. Er wollte offen in die Welt blicken, aber sie schirmten sich ab. Die Gegenwart eines anderen schien ihre Neugierde nicht mehr zu entfesseln. Ihre Körper nahmen eine Betonhaltung ein, wurden unbeweglich. Er lauschte den Gesprächen, die geführt wurden. Sie waren geprägt von Polemisierung und bestanden weitestgehend aus bloßen Meinungen. Die wichtigsten Fragen waren Wellness-Fragen. Er hatte diese Gespräche noch nie gemocht und reagierte allergisch auf bestimmte Verhaltensformen. Wenn jemand etwas Gutes für den anderen übrighatte, dann nur das vergiftet Gute. Niemand war freigebig genug, Größe und Anmut anstandslos anzuerkennen, solange eigene Leistungen nicht wahrgenommen wurden. Für Liebe gab es Likes, für Orgasmen eigene Workshops, für Ideen kein Geld. Sie schauten auf Screens und schauten nicht auf. Zwischen all diese Menschen schien sich ein dunkler Vorhang zu legen, eine Decke aus unfühlbarem Stoff, den anderen ausschließend.

Er klappte das Notizbuch zu, hinterließ Geld auf dem Tisch, ohne den Wein angerührt zu haben und verließ das Café. Ein Spaziergang am Kanal brachte ihn auf andere Gedanken. Er setzte sich auf eine Bank und klappte sein Notizbuch wieder auf. Sein Handy vibrierte, meldete eine neue Nachricht. Ich sollte Anton endlich zurückrufen, dachte er noch, doch nicht sein Partner hatte ihm geschrieben. Es war dann auch nicht die mit einer unbekannten Nummer einhergehende Hoffnung auf irgendeinen neuen Kunden, die seinen Atem hätte schneller gehen lassen, sondern die Vorschau eines angehängten Videos. Zuerst dachte er, ein x-beliebiges Pärchen hätte ihm eine falsch adressierte Amateuraufnahme zugeschickt. Aber der nackte Frauenkörper, der sich auf einem Bett räkelte, mit angewinkelten Beinen und nach oben gestrecktem Hintern war kein ihm fremder Körper. Die Kamera fuhr die Beine der Frau entlang, über Bauch und Brust, langsamer werdend, bis sie am Hals einrastete. Eine Hand griff zwei helle Strähnen aus dem Haar der Frau und ließ sie durch ihre Finger gleiten. Wie hatte er diese Locken geliebt, diese Korkenzieherlocken, an den vielen Tagen und Nächten, als sie ein Gesicht einrahmten, das mal gelächelt, mal geweint hatte, oder schlicht sehr ernst geblieben war, ein Gesicht allemal, das mit ihm im Alltag versunken war, in Gewöhnlichkeit, und in einer Großmannssucht, die das Weite ausfüllen wollte. Gemeinsam hatten sie Realitäten ausgehebelt und die Kissen weich geschlagen. Nun sah er Rebekka lustvoll in diese Laken gebettet.

»Schläfst du schon?«, fragte eine Stimme, für einen kurzen Moment meinte Viktor, Benedetto wiedererkannt zu haben. Die Kamera bewegte sich im Handschweif, folgte den Konturen des Frauenkörpers, bis ein Zeigefinger über die Mulde zwischen Rücken und Po strich, sich weiter vortastete, um ihr zärtlich in den Schritt zu greifen. Sie stöhnte auf. Er mochte nicht länger hinsehen, aber er konnte nicht anders. Ein Finger tauchte tiefer in ihren Schoß ab, ihr Becken begann zu kreisen. Er spürte, wie sich ihre Lust mehrte. »Du hast mich aufgeweckt«, sagte sie verschlafen. »Weck mich noch mehr auf.« – Ein Satz wie ein Ruck, der gewaltsam Viktors Herz auseinanderriss. Er griff nach seinem Füller, drehte ihn um, drückte die Spitze aufs Papier, fuhr mit den Fingern den Schaft hinunter, wieder hinauf, wieder hinunter, blind für sein eigenes Tun, den Blick auf das Video geheftet. Eine Flut von Bildern strömte auf ihn ein. Er sah zwei Körper, die sich in Figuren legten, hörte Schreie, den Taumel zwischen Schmerz und Lust, einen fleischfarbenen Hai, der in ihrem Innern Beute riss. Er sah Hände, die an der Hüfte zupackten, um es diesem Schmetterlingswesen mit den schönen, so wunderschönen Korkerzieherlocken, hart zu besorgen.

In Viktors Körper hämmerte ein Rhythmus. Es tat weh, überall. Sein Blut schäumte, sein Notizbuch glitt ihm aus der Hand. Er konnte nicht beschreiben, was in ihm vorging, Hitze, Kälte. Wut. Vielleicht sogar Erregung. Er fühlte sich verloren in seinem eigenen Körper, der ihm deplatziert vorkam, und er hörte nichts als diese Laute, Geräusche, die aus dem Innern zweier Menschen schallten: klagend und schön. Sie drangen nun zu ihm wie die Geißelung aus einer fernen Zeit, einer Zeit, in der Rebekkas Körper ihm noch ein Tempel war, von dem ein göttlicher Bann ausging und der für ihn nie zu einer Art Selbstverständlichkeit hätte werden dürfen. Vor gut einem Jahr dann war ihre gemeinsame Zeit abgelaufen, ihre gemeinsamen Geräusche waren verstummt. Wenn es ihr dabei gut geht, soll es so sein, dachte er jetzt bitter und weinte. Das Video war zu Ende, sein Leben ging weiter.

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