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36

EIN LUFTZUG wehte Fernanda eine Strähne aus der Stirn. Sie blickte zum felsigen Eingang einer unterirdischen Höhle, dann in das missmutige Gesicht ihres Gegenübers, forschte nach einer kurzen Notiz, einem Nicken, nach etwas, das sie darin bestärkt hätte, weitergehen zu können. Sie war aufgeregt. Allein bis hierher hatte sich der Weg als recht beschwerlich erwiesen. Vor drei Tagen hatte ihr Begleiter, Adrian Chan Sánchez, ein die Kultur der Maya ehrender Wissenschaftler der Universität Oriente in Valladolid, eine Korallenschlange vor der Kalksteinhöhle gesichtet. »Jeder Eingang hat einen eigenen Wächter«, hallte sein Orakelspruch in ihr nach. Drei Nächte hatten sie im Dschungel kampiert und Zeremonien zur Besänftigung der Geister abgehalten. Den Mayas galten die Unterwasserhöhlen als heilig, sie verehrten die Cenotes als Tore zur Unterwelt, das wusste Fernanda. Dennoch war sie erstaunt darüber, wie viel Ehrfurcht der Wissenschaftler dem auserkorenen Wächter entgegengebracht hatte.

»Die Passage ist offen«, erklärte Adrian, und nickte ihr zu. Ein kleiner Lustschauer rieselte ihr über den Rücken, wohl Ausdruck des menschlichen Instinkts, wie sie glaubte, wenn es eine Schwelle zu überqueren gilt, ohne dass man die Folgen überblicken kann. Sie schulterten ihre Rucksäcke mit den Tauchgeräten und gingen durch den steinernen Korridor auf die kreisrunde Cenote zu. Die Sonne drang dünn durch den Spalt im Felsen ein, ihre Kraft verlor sich, die Farben verdämmerten. Die Enge der Felsenschlucht presste die beiden vorwärts, bis sie eine Senke erreichten. Vor ihnen tat sich ein mit türkisfarbenem Wasser gefülltes Erdloch auf. Es ähnelte einem überdimensionalen marmornen Taufbecken, war von Pflanzen und Wurzeln umwuchert. Wortlos zogen sie ihre Ausrüstung über, glitten ins Wasser; eine letzte Kontrolle, dann sanken beide in die Tiefe. Stufe um Stufe drang Stille in Fernanda ein. Nur wenige Meter vergingen, schon hielt die Cenote sie gefangen. Fernanda hatte das Gefühl, hinter die Zeit zu gelangen. Sie folgte dem verlockenden Ruf der Höhle, tauchte an Steinen, Schatten und versunkenen Bäumen vorbei; folgte den engen, sich stets weiterverzweigenden Röhren im Gestein und tastete sich voller Lust immer tiefer hinein in den Bauch der Höhle, vorbei an weiteren Öffnungen, die sich plötzlich über ihr auftaten und das grandiose Spiel des Lichtes aufblitzen ließen. Nie hatte sie sich der menschlichen Sphäre ferner gefühlt. Schwerelos, schwebend, endlich undefiniert: ein kleines Nichts im Weltenraum.

Plötzlich flimmerte ihre Lampe und erlosch. Etwas Glitschiges streifte ihr Gesicht, ihr Atem beschleunigte sich, ging flacher. Sie geriet in Panik, glaubte, dass es ihr an Luft fehle, sie schlug um sich, biss auf den Bügel in ihrem Mund. Ihre Bewegungen wurden hastiger, sie ermahnte sich, kontrollierter zu atmen – tiefer – und die Luft aus der Lunge zu pressen, sie tauchte in vollkommener Dunkelheit weiter vorwärts und konzentrierte sich auf einen einzigen Gedanken: keine Panik! Langsam, Atemzug für Atemzug, schwamm sie in dem unterirdischen Gang Meter um Meter in der Hoffnung weiter, dass sich wieder eine der typischen Öffnungen im Erdboden zeigen würde, wo sie auftauchen könnte. Der fahle Lichtschein, den Adrians Lampe in ihre Richtung warf, beruhigte sie. Minuten später zeigte sich tatsächlich das fantastische Schauspiel eindringenden Sonnenlichts über ihr im Wasser. Die aufblühende Farbenpracht zwischen tiefblauen und helltürkisen Tönen, das Glitzern im Gestein verhießen mehr als nur Rettung: Die eben noch verspürte Angst wich einem Staunen über das unfassbar Schöne vor ihr. Sie tauchte auf, hievte ihren Körper aus dem Wasser, streifte sich die Taucherbrille ab und spuckte den Atemregler aus. Sie keuchte: die Höhle, das Wasser, das Licht, der intensive erste Atemzug an freier Luft. Sie lächelte. Mit ihrer Geburt hatte sie für eine Enttäuschung gesorgt, die bittere Enttäuschung bei ihrem Vater, nur ein Mädchen zu sein, kein Junge. Ein halbes Leben lang hatte sie versucht, ihren Wert unter Beweis zu stellen. Jetzt streifte sie sich mit der Hand über die Wange und lachte befreit auf.

Vor ihr schlugen Bläschen hoch, gefolgt von Adrians Kopf. Mit einem Ruck saß er neben ihr und nahm seinerseits die Taucherbrille ab. »Alles in Ordnung?«

Sie zuckte mit den Achseln, als wäre nichts passiert.

»Glauben Sie jetzt, dass es hier spukt?«

»Ich glaube, Sie hätten die Schlange etwas höflicher bitten sollen.«

Adrian nickte belustigt und erklärte ihr dann, sich noch einmal in eine Meditation begeben zu wollen, um die Geister in der Höhle zu besänftigen.

Minutenlang saßen sie nebeneinander da, Minuten, in denen Fernanda einfach nur schwieg. Schließlich wandte er ihr seinen Kopf zu: »Bereit?«

»Ja. Aber haben Sie gefunden, wonach wir suchen?«, fragte sie vorsichtig.

»Seit Urzeiten gebiert das Wasser Leben«, murmelte er und löste zwei Behälter vom Tauchgurt, hielt die Proben gegen das Licht der einfallenden Sonne. Die Flüssigkeit wies eine geleeartige Konsistenz auf. »Plastikpartikel sind durch das Gestein eingedrungen«, stellte er trocken fest und deutete mit ernster Miene auf die Felswände. »Der Stein auf der gesamten Halbinsel ist porös. Der Regen sickert durch den Boden und sammelt sich in den Unterwasserhöhlen. Sie sind über Hunderte von Kilometern miteinander verbunden.« Seine Stimme hatte den dozierenden Klang eines Akademikers angenommen. »Über uns befinden sich Müllkippen, die meisten davon sind illegal. Der Abfall hat sich den Weg in die Tiefe gebahnt – und wird das Grundwasser einer gesamten Region verseuchen.«

»Wie schlimm ist es?«, fragte sie.

»Ich kann es nicht sagen, ich muss die Proben untersuchen lassen.« Adrian verstaute die Behälter wieder an seinem Gurt und überprüfte die Gerätschaften. »Ohne das Licht Ihrer Lampe halten Sie sich dicht an meinen Füßen, haben Sie keine Angst.«

Bevor die beiden ihre Taucherbrille über den Kopf stülpten, verweilte ihr Blick noch auf dem Wasser. Die Landschaft wandelte sich vor ihrem inneren Auge. Sie sah verrottenden Müll am heiligen Ort, menschengemachtes Treibgut: Flaschen, zerfasernde Binden und klebriges Plastik. Die Schönheit, die sie verspürt hatte, war dem Eindruck eines nassen Grabes gewichen. Sie brauchten eine gute Stunde, um an den Eingang der Höhle zurückzuschwimmen.

Später dann, auf der Küstenstraße nach Tulum, ihrem Zielort, sprachen sie kein Wort miteinander. Nur einmal geriet Adrian aus der Fassung und schlug mit der Hand aufs Lenkrad. Sie wusste, dass sein ohnmächtiger Ärger der fortschreitenden Zerstörung der Schutzgebiete geschuldet war. Sie blickte aus dem Fenster. Als sie Tulum das erste Mal besucht hatte, hatte es friedlich im Dornröschenschlaf eines Fischerdörfchens gelegen. Unberührte Strände, kristallklares Wasser, ein Idyll der mexikanischen Karibik. Nur ein paar Hütten in Meeresnähe, sonst nichts. Einmal hatte sie in den Ruinen der Maya-Stätte übernachtet, unter freiem Sternenhimmel. Sie bat Adrian, sie dort aussteigen zu lassen, sie wollte die wenigen Kilometer zum Treffpunkt zu Fuß gehen. Sie winkte dem weiterfahrenden Kollegen kurz nach und drehte sich dem Meer zu.

Was ist mit den Orten meiner Erinnerungen geschehen?, dachte sie und schlenderte los. Am Strand stieß sie auf Schamanen, die Touristen mit Kakao reinigten. Sie traf auf Männer in Tangas und auf traurig streunende Hunde. Ein Hotel reihte sich an das nächste. Weiter hinten an einer Felsgruppe sah sie Frauen in Federn gekleidet, die sich in Trance tanzten, umringt von ratternden Dieselmotoren, die dem hiesigen Treiben den notwendigen Strom lieferten. Sie roch Benzin und den Gestank roher Eier, der einem Wall in der Sonne verfaulender brauner Algen entwich. Ein Arbeiter kehrte den Strand, versuchte ihn piekfein und postkartenweiß zu halten; eine absurde Sisyphusarbeit, bei der er die Algen aufhäufte, mit einer Schubkarre wegbrachte, während die Wellen wieder und wieder den dunklen Schlamm an Land spülten. Das Wasser, ehemals türkisfarben, wirkte wie dünner Kaffee.

Sie kletterte über Felsen hinweg und durchquerte schließlich eine Bucht. Sie traf auf ein Kind, das ihr mit seinen zarten Händen einen Regenbogen schenkte, eine Geste der Liebe, die ihr wohl und zugleich weh tat, dann bedrängte sie ein Ausländer, der ihr Drogen verkaufen wollte. Als sie dankend ablehnte, pries er seine Massagekünste an. Fernanda löste ihre Erinnerungen an diesen einst unberührten Ort in den Fluten auf.

Habe ich nicht Gleiches vor? Der Gedanke ließ sie in den Wellen erschaudern. Ihr Außenposten im Dschungel würde auch in die Natur eingreifen, mit unvorhersehbaren Folgen. Sie dachte zurück an den Brief jenes Mannes, den sie so sehr geschätzt hatte. Seine Fähigkeit zuzuhören, hatte schon gereicht, ihr Vertrauen zu einer Zeit zu gewinnen, in der ihr irgendwelche Typen noch die Handlung eines Films erklären wollten. »Schau, mi amor«, hatte sie einmal einen Verflossenen im Kino flüstern hören. »Gleich küssen sie sich. Schau, wie sie ihn ansieht. Alles nur Fassade! Die lieben sich gar nicht. Hast du bemerkt, wie sie den Musiker anschaut?«

Sie senkte den Kopf, ließ sich ins Rauschen des Meeres fallen. Ihre Erziehung war klassisch verlaufen, ihre Entfremdung auch. Sie war in einer Klosterschule ausgebildet worden, deren Werte die Frau dem Mann zur Seite stellten. Als ihr Vater erfahren hatte, dass sie lieber Zeitschriften wie La Correa Feminista las und sich als Heranwachsende in pequenos grupos organisierte, kleinen Frauenzirkeln, die Foucault besprachen, gegen den Machismo ankämpften und über die reproduktive Union aus Mann und Frau diskutierten, war er ausgerastet. Als Zeichen, dass sie verrückt sei und nicht er, hatte der Patriarch seine Tochter in die Psychiatrie einweisen lassen, das Haus des Lachens genannt. Sehr schick für jene Zeit, dachte sie nun, wie im reichen Paris. Die Tage dort waren einander sehr ähnlich verlaufen: Die Flagge ehren, Frühsport treiben, die meisten Patienten hatten erst Elektroschocks erhalten, dann eine Therapie. Es hatte in der Kolonialvilla drei Pavillons gegeben, einen für die Aussätzigen, einen für die Armen und einen für die Reichen. Sie hatte sich dort mit Señor Trenecito angefreundet, dem Mann der Züglein. Er hatte gern behauptet, Eigentümer aller Eisenbahnen der Welt zu sein sowie einer Zugstrecke, die die Erde in Zukunft mit dem Mond verbinden würde. Sie hatte Sympathie mit der grauhaarigen Frau gehegt, die stundenlang mit ihrer Lupe Insekten beobachtete und beleidigt war, wenn jemand in ihren Raum eindrang. Ein halbes Jahr Psychiatrie hatte sie nicht von dem »feministischen Unsinn« heilen können, wie von ihrem Vater erhofft. An dem Tag, als sie wieder ihr Elternhaus betreten hatte, hatte sie in ihr Tagebuch notiert:

Was ist die Realität, wenn nicht eine unaufhörliche Parodie des Lebens, ein Maskenspiel, eine bis ins Unendliche vervielfältigte Darstellung unser selbst in der Familie, im Staat, in der Bildung, den Städten und ihren Gebäuden, in der Wissenschaft, der Sexualität, im Wort, der Wirtschaft und ihrem Fortschritt, ja selbst in all den verdrängten Fragmenten, die uns ausmachen?

Vertrete nichts und niemanden, außer den einen schönen Moment der Verrückten, die ihn gemacht haben.

Ihr Weg in die Kunst schien vorgezeichnet zu sein. Allerdings hatte sie in dieser Welt wenige Verrückte getroffen, die meisten Menschen, denen sie begegnet war, stellten sich als »Scheusale« heraus, als Handlanger der Lüge oder der eigenen Eitelkeit. Sie blickte auf den Strand, er hatte sich geleert. Vor ihr lag eine Hütte, mit einer Balustrade aus Holz und einem Dach aus Palmblättern. Der Wind hatte Sand auf die Stufen geweht. Damions athletische Statur sprang ihr ins Auge, seine breiten, definierten Schultern. Selten war sie einem so gut trainierten Mann in seinen Vierzigern begegnet. Er winkte sie herbei und empfing sie auf der Veranda, die Sonnenbrille auf, in Shorts, sein Hemd war aufgeknöpft.

»Bereit, das Kernteam kennenzulernen?«, rief er ihr zu und strich sich in der gut eingeübten Gestik eines vom Leben verwöhnten Sonnyboys eine tiefhängende Strähne aus dem Gesicht. »Wir haben Fisch zubereitet«, köderte er. Seine Laune stimmte sie milde.

Sie ging an ihm vorbei, schnell fuhr ein dicht zusammengerücktes Bündel an Personen auseinander, Tische wurden verschoben, Stühle im Halbkreis arrangiert. Getuschel war hörbar, als Damion aus Fernandas Schatten hervortrat. Er hielt inne und versicherte sich der Blicke, die auf ihm ruhten. »Okay, machen wir es kurz.« Er zeigte auf eine junge Frau im Trägerhemd mit kurzgeschorenem, schwarzem Haar, spitzen Wangen und großen, grünen Augen, die sich lässig an der Tischkante anlehnte. »Sabina: in Tijuana aufgewachsen, in San Diego Kunstgeschichte studiert, in der texanischen Künstlerkolonie Marfa den Laden geschmissen.« Sabina nickte, lächelte leicht. Dann kam Damion auf Carlos zu sprechen, der still eingesunken an einem kleinen Tisch saß. »Indigene Wurzeln, großgeworden in Oaxaca, Studium der Kulturpolitik in London, enzyklopädisches Wissen über präkolumbianische Kunst.« Schließlich deutete er auf einen ehemaligen Elitesoldaten aus Guatemala, bevor er mit der Bemerkung schloss: »Ángel kennt den Dschungel wie seine Westentasche, sorgt für unser aller Sicherheit. Noch Fragen?«

An anderen Tagen wäre Fernanda näher auf die Biografien der Menschen eingegangen, die nun für sie arbeiten sollten. Heute fühlte sie sich entkräftet und hoffte, mit einem Lächeln alles zu sagen, wozu Worte nicht mehr imstande waren. Sie senkte den Kopf. »Wir haben eine lange Reise vor uns, wir sollten uns ausruhen«, gab sie dann beinahe tonlos von sich. Still zog sie an der Gruppe vorbei, ging auf ihr Zimmer und versuchte, ein wenig Schlaf zu finden. Es wollte ihr nicht gelingen. Als sie daraufhin ihren Koffer packte, schwirrten ihr lose Gedanken durch den Kopf. Es mag eine Zeit gegeben haben, dachte sie, in der ein Abstieg unter die Erde noch Geheimnisse hervorgebracht hat, kostbare Mineralien oder neue Mythen. Diese Zeit war unwiderruflich vorbei. Wo einst Schätze verborgen lagen, stinkt heute Müll. Auf der Oberfläche sah es nicht anders aus. Die Menschen hinterließen zu viele Spuren. Sie legte sich wieder aufs Bett, faltete ihre schlanken Hände über der Brust, schloss die Augen.

Vor zwei Jahrzehnten hatte sie eine Konferenz in Mexico City besucht. Dort hatte der Wissenschaftler Paul Crutzen zum ersten Mal die Ära des Anthropozäns ausgerufen. In Wahrheit, das spürte sie jetzt, war das Thanatozän angebrochen, das Erdzeitalter des Todes, des Absterbens. Niemand konnte zu einst vertrauten Orten, zur Vielfalt der Arten, zur Fülle des Lebens zurückkehren. Die Menschheit schrieb nur noch Verluste.

Auf der Veranda schwor unterdessen Damion sein Team auf die kommenden Wochen ein, im Halbschlaf hörte sie seine Worte. »Okay«, trommelte er los. »Ab heute gilt ein straffer Terminplan. Wir haben hier die besten Köpfe für unser Projekt zusammengestellt.« Stille. Die Brandung tönte herüber. Dann: »Mal sehen, ob der alte Kontinent Europa noch irgendwas zu bieten hat.«

35

IM MUSEUM am Rothenbaum in Hamburg zeichnete Viktor Sørless und führte den Kohlestift wie eine Sense. Ratsch – der Stift wirbelte hoch und ein Strich war vollendet. Viktor musterte seine Skizze und sah darauf feixende Gesichter mit langen Nasen und schräg stehenden, weit aufgerissenen Augen; ein Rausch an Linien und Kreisen. In den letzten Tagen hatte er tatsächlich wieder das Bedürfnis verspürt, zu zeichnen, doch allein das Halten des Stiftes, das Herumstochern in fremden Augen, Gesichtern und Körpern, kam ihm, inmitten der hiesigen Abendgesellschaft, übergriffig vor. Es störte wie ein Finger in der Wunde. Dennoch vermochte die aus seiner Hand stammende Schraffur sich wie ein Schleier über die ihn umgebende Wirklichkeit zu legen, was ihn tatsächlich beruhigte. Auch heute, in dieser mondänen Abendgesellschaft, in der er bislang die Abwesenheit von Gesellschaft war. Er war keinem Gespräch gefolgt, hatte nur kurz an dahinjagenden Lippen gehangen, sich aus dem Zentrum der tafelnden Gäste geschlichen, die sich immerzu selbst fotografierten; vielleicht, so dachte er nun bei sich, weil sie einen Mangel an Ewigkeit verspüren, zwischen all diesen Artefakten, die aus den Vitrinen heraus leise über die Zeit triumphierten. Er beobachtete, wie sich die Geladenen des Ephemeren Dinners erhoben – berauscht von der Rede des Kurators im faltenfreien Hemd, bestärkt von der Pracht des Saals, flankiert von überlebensgroßen Holzfiguren, die 1908 auf einer Südsee-Expedition »erworben« worden waren, deren eigentliche »Bedeutung« jedoch, so die angebrachte Texttafel, »nicht geklärt« war.

Wer will es hier auch schon allzu genau wissen?, dachte er. Die Feier sollte schließlich Vergessen schenken. Die Gäste lachten, tanzten. Auf ihren Uhren verging eine sorglose Zeit. Von einigen Gesichtern glaubte er die Zufriedenheit ablesen zu können, die mit einer nicht gerade geringfügigen Spende zur Entfaltung von Kultur einherging, ganz unerheblich welcher Kultur im Übrigen, und ohne die Gefahr, dass irgendeine Weltsicht ins Wanken geraten oder etwa die Verdauung gestört würde. Eine Gruppe von Gästen versammelte sich im Schatten eines zeitgenössischen Künstlers, der gerade eben noch von jenem Kurator im faltenfreien Hemd als Person gepriesen worden war, die »wider alle Müdigkeit hintersinnige Mandalas malt, welche die Referenzhölle der Gegenwart thematisieren«.

Da stand er, Viktor, nun also, sein Notizbuch zur Seite gelegt, mitten in der Referenzhölle der Gegenwart, anteilslos an einen Ecktisch gelehnt, geduckt und mit eingezogenen Schultern, und wollte nur noch eins: verschwinden. Mit seinen fünfunddreißig Jahren hatte Viktor Sørless weder Geld noch Einfluss erlangt, geschweige denn das Gefühl erworben, dazuzugehören, und er fragte sich, warum gerade ihm eine Einladung zuteilgeworden und er obendrein dem leichtsinnigen Impuls gefolgt war, mal wieder unter Leute zu gehen – eine Wendung, die er verachtete.

Ich passe nicht ins Bild, dachte er. Ein Befund, den er weiteren Personen ausstellen mochte, die seine Aufmerksamkeit an diesem Abend erregt hatten, wie etwa ein Mann Mitte vierzig, der hochgewachsen war und aus der Menge ragte mit seinem aristokratisch aufrecht getragenen Kopf und knochigem Gesicht, das Viktor an den Wangen leicht eingefallen zu sein schien. Er trug schulterlanges, braunes Haar, besaß wache, hell funkelnde Augen. Während er auf irgendetwas herumkaute, zeigte sich in seinen Zügen eine gewisse Härte, vielleicht sogar ein ausgeprägter Zynismus, Viktor wollte das noch nicht für sich entscheiden; ein richtiges Lächeln jedenfalls würden diese Lippen nicht zustande bringen, dachte er, drückten sie doch eher eine Art Belustigung aus, eine Art Süffisanz dem Geschehen hier gegenüber, mit dem sich dieser Typ, so kontrolliert wie er dastand, ganz sicher nicht identifizierte. Seine Halssehnen wirkten straff gespannt. Der weiche Fall seiner Locken aber nahm ihm etwas von seiner Bedrohlichkeit, strahlte vielleicht sogar etwas Erotisches aus. Erstaunlich, dachte Viktor. Selten hatte ihn jemand durch seine pure Erscheinung derart eingeschüchtert, dieser Typ wirkte verwegen, unbeugsam, schien alles zu überblicken, aber nichts von sich selbst preiszugeben. Viktor trank einen Schluck Wein. Nahe am Fenster stand sein Freund Benedetto, gemeinsam mit einer Frau, auf die Benedetto schon den ganzen Abend über seine Aufmerksamkeit gerichtet hatte. Die beiden unterhielten sich. Viktor fiel das weich anmutende Gesicht der eher jung wirkenden Frau auf, deren tiefliegende Augen schwarz umzeichnet waren wie bei einem Vampir. Was nicht so recht zu ihrer sonnenverwöhnten Haut passen wollte, wie er fand. Und dann: Dieser Tick in der Schulter, der so wirkte, als wollte sie der Welt immer wieder einen Rempler verpassen. Benedetto trug ein kariertes Hemd, löcherige Jeans. Kurz, eine Garderobe, bei der alle Sorgfalt darauf verwendet wurde, sich von der Feierlichkeit des Abends abzusetzen. Mit einer Hand stützte er sich auf den Fenstersims, mit der anderen rauchte er eine Zigarette. Seine dunklen Locken fielen ihm über die Ohren; und diese Frau lächelte, mit jedem Wort, mit dem er sie scheinbar wie mit einem Lasso näher an sich heranzog.

Benedetto, der Weltenbummler, dachte Viktor amüsiert. Tatsächlich war Benedetto Rissono ein belesener Schreiberling, der Reiseberichte verfasste, Duschvorhänge betextete und sich ein paar Scheine mit halbseidenen Geschichten dazuverdiente, bis er – so sein gern verkündeter Plan – einen »großen Coup« im Journalismus landen würde, etwa mit der Aufdeckung eines »politischen Skandals«, was mit dem Aufstieg in eine neue Gehaltsklasse einhergehen würde. Viktor hatte in seinem Leben weder Freundschaften geschlossen noch gesucht. Für den zwei Jahre jüngeren Benedetto hegte er indes Zuneigung. Es war schlicht die Lebensfreude und Leichtigkeit, mit welcher dieser Florentiner auf Männer ebenso zuging wie auf Frauen, die Viktor faszinierte. Seine Kunst bestand darin, keine Handlung als Kunst aussehen zu lassen. Sprezzatura – schoss es Viktor durch den Kopf. Diese Art von Lässigkeit, die daher rührte, dass das, was man tat oder sagte, anscheinend mühelos und fast ohne Nachdenken zustande kam, ohne sichtbare Anstrengung. Gefolgt von einem Leuchten in den Augen, das jedes Gegenüber als wichtigsten Menschen der Welt auszeichnete. Schon hob Benedetto sein Weinglas, hielt es gegen das Licht und schien das tiefdunkle Rot zu bewundern. Als Viktor diese Geste ihm wohlgesonnen spiegelte, lief sein Freund auf ihn zu, schnappte sich den Notizblock und betrachtete die Zeichnungen.

»Gut getroffen«, pfiff er anerkennend und blickte sich um. Er nahm einen kräftigen Schluck, als würde er das Glas trinken, nicht den Wein. »Diesmal habe ich sogar Kleider an.«

Viktor nickte. »Das ist richtig.«

»Und wer ist diese Gestalt hier, die mit den Tentakeln?«, fragte Benedetto.

Viktor blickte dunkel auf. »Siehst du die tanzende Frau da drüben? Und der Typ an ihrer Seite? Der sieht doch aus, naja, wie … wie ’ne Krake. Die ganze Zeit über betätschelt er sie aufdringlich, schlingt seine Arme um ihren Rücken, zieht ihr Gesicht an seins ran, aber er küsst sie einfach nicht, ich versteh’s nicht, der küsst sie einfach nicht.«

»Schau an, unser Romeo träumt in seinem Notizbuch.« Benedetto ließ sein samtenes, mediterranes Lachen hören. Er zündete sich eine Zigarette an, zog so intensiv an ihr, dass sie sich heiß und schnell verzehrte.

»Und wer ist die …?« Viktors Kopf wies zum Fenster.

»Ich stelle sie dir gern vor.«

»Schon gut. – Und deine Freundin?«

»Wir sind nicht mehr zusammen.«

»Neulich hast du mir von ihr noch vorgeschwärmt?«

Benedetto hob, gemeinsam mit beiden Armen, die Augenbrauen und ließ sie auch gemeinsam wieder fallen.

»Dein Herz ist ein Stundenhotel«, sagte Viktor kühl.

»Entspann dich mal!«

Viktor blickte seinen Freund ernst an. Entspannen – diese Aufforderung war ihm lästig geworden. Er entschuldigte sich, denn er spürte, wie eine Flamme in ihm hochschlug. Er verließ den Saal, ging tiefer hinein in den Bauch des Weltkulturmuseums, durch die Kammern des sich mit Nachtgrau anfüllenden Gebäudes, bis er dessen Herzstück erreicht hatte: den Maskensaal. Der Raum war verschachtelt, von Zirpen- und Trommelgeräuschen beschallt. Er erinnerte sich, wie er als kleines Kind noch staunend diese Welt erkundet hatte. Auch jetzt wirkten die Masken wundersam auf ihn, hier wie Tiere, dort wie Gespenster. Doch je länger er sie anstarrte, desto mehr bedrückten sie ihn. Wer schaut hier eigentlich auf wen?, dachte er und fragte sich, worin der Sinn bestand, das Andersartige zu feiern, indem man es ausstellte. Eine aus Holz geschnitzte Maske leuchtete in der Aneinanderreihung der Objekte auf, ihr übermäßig großer, mit Haaren beklebter Kopf wies drei perfekt runde Löcher auf: zwei Augen und ein Mund. Viktor starrte auf den Mund. In dessen Dunkelheit hinein. Warum habe ich nie mit einem Mann geschlafen?, fragte er sich. So viel zum freien Willen, war sein nächster Gedanke, ein Gedanke, der ihm zeitlebens wichtig gewesen war. Er las die Überschriften auf dem Schild zu den Masken: Besuch der Geister.

Vor kurzem hatte er Benedetto gezeichnet, als dieser nachts in seinem Studio unangekündigt vorbeigeschaut hatte. Er wusste nicht, wie es dazu gekommen war. Plötzlich hatte Benedetto mitten im Raum gestanden und Opernmusik aufgelegt. Seine sonst gekonnte Führung des Kohlestiftes auf Papier – Benedettos Anblick hatte sie aus der Bahn gehoben, als er sein Hemd ausgezogen und über den Stuhl geworfen hatte. Viktor hatte dann auf das weiche Papier nur noch sanften Druck ausgeübt, mehr schraffiert als gezeichnet, am Ende aber waren die Linien harmonisch ausgefallen. Beim Abschied spürten sie gegenseitig ihren Atem. Eine für Viktor angenehme, aber nicht fassbare Nähe hatte in der Luft gelegen. Benedetto hatte sich mit der Hand über seine Hosennaht gestrichen, eine kurze, flüchtige, aber dennoch offensichtlich deutlich vollzogene Geste. Viktor hatte mit Unbehagen reagiert und es verborgen gehalten, anstatt es mit Benedetto zu erkunden.

»Welche Maske passt zu dir?«

Viktor schrak auf. Der hochgewachsene Mann aus der Abendgesellschaft stand im Halbschatten und deutete auf die Vitrine. »Welche Maske?«, fragte der Fremde erneut und trat in den fahlen Lichtkegel der Deckenlampe. Viktor sah das straff gespannte Trapez dieser Schultern. Von Nahem betrachtet war die Nase des Fremden ähnlich krumm wie seine eigene, eine grässliche Wunde zeichnete sich unter dem Auge ab, etwas mit seinem Ohr stimmte nicht. »Verrät die Maske nicht mehr über den Menschen als sein Gesicht?« Das war keine wirkliche Frage, eher eine Mitteilung, mit tiefer Stimme in den Raum geworfen. Der Fremde legte seine kräftige Hand auf Viktors Schulter. »Damion«, stellte er sich vor. Viktors Mundwinkel sprangen hin und her, mit Mühe hielt er Worte zurück, die aggressiv geklungen hätten. »Warum so einsam?«, fragte der Fremde.

»Unter Geistern ist man nicht einsam«, schnellte es aus Viktor heraus, ohne dass er das Gefühl hatte, Herr der Lage zu sein. »Aber ja, wir sollten zurück zu den andern.«

Sie liefen nebeneinander an den Ausstellungsobjekten vorbei, durchschritten diverse Kammern, sahen hier irgendwelche Vogelfedern, dort zu Schmuck oder Werkzeug bearbeitete Metalle. Eine Schautafel dokumentierte die Vermessung von Körpern indigener Gemeinschaften. Stirnbreite, Länge der Augen, Orbitalhöhe, Abstand der Brustwarzen, Umfang des Halses, des Leibes auf Nabelhöhe, der Oberarme, der Unterarme, der Waden, die Entfernung vom Tragun zur Nasenwurzel, die Entfernung vom Tragun zur Mitte der Oberlippe, die Entfernung vom Tragun zur Mitte der Unterlippe. Der Lärm der Abendgesellschaft tönte lauter an sie heran, wenige Schritte später waren sie wieder unter den gut gekleideten Gästen. Damion musterte die Bilder an den Wänden. »Und du? Sag bloß, du malst auch hintersinnige Mandalas?«

»Ich – «, Viktor fand keine geeignete Antwort, fragte schließlich stattdessen: »Du bist nicht von hier?«

»Scharf beobachtet.«

»Woher?«

»Chicago.«

»Der Chicago River. Ein seltsamer Fluss.«

»Warum seltsam, Kleiner?«

»Ach, nicht wichtig.« Viktor argumentierte nicht mehr so gern, er bestellte lieber Alkohol.

»Nein, erzähl schon, komm!«

»Also, na ja, anscheinend ergießt sich der Fluss in den Michigan-See. Aber in Wirklichkeit ergießt sich der Michigan-See in den Chicago River. Weil der derart verdreckt war, hat man vor über hundert Jahren kurzerhand einen Seitenarm in einen Industriekanal verwandelt, die Brühe umgeleitet und das Flussbett so tief ausgebaggert, dass der See nun in den Fluss zurückfließen muss. Eine Vergewaltigung der Natur.«

»Sachte, sachte!« Damion sprach leise und legte ihm erneut eine Hand auf die Schulter. »Der Fluss ist heute ein Juwel der Stadt. Ein wirkliches Juwel. Die Leute, sie schwimmen in ihm, er macht sie glücklich.«

»Strenggenommen … « Viktor hielt inne, das Interesse an der Unterhaltung versickerte in ihm. Einige Augenblicke standen die beiden voneinander abgewandt nebeneinander da. Damion griff sich einen Cocktail vom Tablett, das ein Kellner an ihm vorbeitrug. Er warf das Rührstäbchen weg und prostete der Frau mit den dunkel umschatteten Augen zu.

»Strenggenommen hast du sie eben schon angestarrt. Sie kommt aus Venezuela«, sagte Damion, eine nimmermüde Wachsamkeit im Blick. »Vater: Weinbauer aus Chile«, ergänzte er. »Sie heißt Irene.« Sein ausgestreckter Arm ermutigte die junge Frau, doch näherzutreten. »Darf ich vorstellen?« Der Klang in Damions Stimme verwandelte sich, wurde samtweich und verbindlich. »Wie war noch gleich dein Name?«, fragte er. Vier Augen blickten Viktor erwartungsvoll an.

»Viktor Sørless.«

»Irene ist Aktivistin. Sie setzt sich für Kinder ein, die in Gefängnissen aufgewachsen sind.«

»Freut mich.« Viktor streckte ihr seine Hand entgegen. Er lächelte. Sie lächelte zurück, die nervöse Unruhe in ihrer Schulter ließ seine Hand in der Luft allein schweben.

»Vicky hier, der ist auch talentiert. Was machst du noch mal genau?« Damion hob gespannt den Kopf.

Viktor stutzte. »Architekt.« Er ging also auf das Spiel ein.

»Ich bleibe ein paar Tage in der Stadt«, sagte Irene. Sie wirkte zutraulich. »Was kann ich mir anschauen?«

Viktor schüttelte den Kopf. »In der Stadt? Nichts. Nichts wirklich Interessantes.«

Sie blickte ihn irritiert an. Hastig klopfte er sich auf die Brust und tastete sein Sakko ab.

»Vielleicht habe ich hier etwas für dich. Warte … das Haus in den Dünen.« Seine Stimme überschlug sich. »Es befindet sich gerade im Bau, an der dänischen Küste, ein hübscher Ausflug dahin. Moment … hier … das sind meine Skizzen dazu.«

»Das Haus in den Dünen?«, äffte Damion ihn ironisch nach.

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9783966390347
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