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Die unsichtbare Rolle der Frauen im Familienkapitalismus

Die wenigen Frauen in unternehmerischen Spitzenpositionen sind Ausnahmen, die die Regel bestätigen (Tabelle 2). Die Verwaltungsrätinnen grosser Unternehmen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eint ein Merkmal: Sie waren alle mit der Familie verbunden, welche die Firma kontrollierte, sei dies als Ehefrau oder als Erbin. In der Tat wurde in dieser Zeit der grössere Teil der Konzerne noch von einer Familie kontrolliert (Kapitel 3). So ist beispielsweise 1910 Elise Hoffmann (1845–1913) im Verwaltungsrat des Basler Chemieunternehmens Roche. Sie sass dort an der Seite ihres Sohnes, Fritz Hoffmann (1868–1920), der das Geschäft 1896 mit seinem Vater gegründet hatte. Gemeinsam mit ihrem Mann Gustav Hasler, der das Unternehmen von seinem Vater geerbt hatte, sass 1937 die Engländerin Marie Hasler-Simpson im Verwaltungsrat der Hasler AG (Produktion von Telegrafen und Telefonen). Ein anderes Beispiel ist Frieda Gyr-Schlüter, die holländischer Abstammung war und 1957 gemeinsam mit ihrem Bruder Otto Hermann Schlüter (Verwaltungsratsdelegierter) im Verwaltungsrat von Landis & Gyr sass. Sie war die Witwe von Karl Heinrich Gyr, der die Firma bis zu seinem Tod 1946 geführt hatte. In einer selteneren Konstellation übernahm Else Selve-Wieland (1888–1971) Anfang der 1930er-Jahre die Führung der Metallfabrik Selve in Thun; dies nach dem Tod ihres Mannes Walther, der das Unternehmen selbst von seinem Vater Gustav Selve (1842–1908) geerbt hatte. Else Selve war eine der wenigen Frauen, die bis an die Spitze einer Grossunternehmung aufstieg. Auslöser war wohl, dass in der näheren Verwandtschaft keine geeigneten männlichen Nachfolger bereitstanden, als ihr Mann starb. Der Fall zeigt, dass – anders als in der Politik – es nicht die rechtlichen Rahmenbedingungen waren, die Frauen am Zugang zu Machtpositionen hinderten. Dennoch blieben ihnen die Türen zu den Entscheidungsorganen der Familienunternehmen meist verschlossen. So ging zwar 1904 die Firma Robert Schwarzenbach & Co. – damals eines der wichtigsten Seidenindustrieunternehmen der Welt – nach dem Tod von Robert Schwarzenbach auf seine Frau Mina und ihre fünf Kinder über. Doch obwohl Mina und ihre zwei Töchter Anteile an der Gesellschaft erbten, blieben sie im Unterschied zu den drei Söhnen «von der Geschäftsleitung ausdrücklich ausgeschlossen».13

Studien zur Wirtschaftselite beschränken sich – sofern sie diese Frage nicht ganz einfach ignorieren – meistens darauf, das Fehlen von Frauen in den Entscheidungsorganen der Unternehmen zu konstatieren. Dennoch zeigen einige Forschungsarbeiten, dass die Ehefrauen der Firmenchefs in Familienunternehmen eine tragende Rolle spielten. Diese war aber informeller Natur und damit schwierig zu erfassen.14 Einerseits trugen die Frauen dazu bei, das Bild der gemeinwohlorientierten Bürgerlichkeit zu stärken, indem sie gesellschaftliche Netzwerke pflegten und entwickelten – zum Beispiel über die Organisation grosser Empfänge, Familienfeste und durch wohltätige Engagements. Andererseits offenbaren zahlreiche Studien, wie wichtig Frauen für die Allianzen zwischen den Unternehmerdynastien waren. Wie Philippe Sarasin am Beispiel der Basler Eliten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt,15 heirateten die Männer der einflussreichen Familien meistens Frauen ihres sozialen Rangs. Diese Strategie erlaubte es, das Familienvermögen zu erhalten oder zu vergrössern. Aber die Heirat hatte nicht nur eine wirtschaftliche Funktion; sie diente auch dazu, die soziale Kohäsion des Milieus zu bewahren. Ein bezeichnendes Beispiel einer solchen Heiratsstrategie war die 1896 zwischen Sidney W. Brown (1865–1941) und Jenny Sulzer geschlossene Ehe. Beide stammten aus einflussreichen Familien der Maschinenindustrie: Der Bräutigam war niemand anders als der Bruder des BBC-Gründers, die Braut gehörte der Familie Sulzer an, welche die gleichnamige Winterthurer Firma besass. Solche Heiratsallianzen verschwanden auch im 20. Jahrhundert nicht, ganz im Gegenteil. Wir nennen hier nur zwei Beispiele: 1923 heirateten Hans Hürlimann (1891–1974), der Generaldirektor der Brauerei Hürlimann, und Gertrud Anna Huber. Sie war die Tochter von Emil Huber, dem Generaldirektor der MFO und Pionier der Elektrifikation des Schweizer Eisenbahnnetzes. 1944 schlossen Louis von Planta (1917–2003) und Anne-Marie Ehinger den Ehebund. Er sollte später zum Präsidenten und Delegierten des Verwaltungsrats der Ciba-Geigy aufsteigen, sie war die Tochter von Mathias Ehinger, dem ehemaligen Präsidenten des Verwaltungsrats der Basler Privatbank Ehinger. Solche Heiratsbünde zwischen mächtigen Familien spielten eine entscheidende Rolle für die Reproduktion der herrschenden Klasse. Falls keine männlichen Erben vorhanden waren, ermöglichten sie es zudem oft, den familiären Charakter eines Unternehmens dadurch zu bewahren, dass man es einem Schwiegersohn übertrug. Meistens stammte dieser selbst aus einer einflussreichen Industriellen- oder Kaufmannsfamilie. Allerdings gab es auch Fälle, in denen eine Heirat den Aufstieg eines Schwiegersohns aus sozial bescheideneren Verhältnissen erlaubte, der den «Makel» seiner Herkunft mit seinen grossen Berufskompetenzen kompensierte. So vererbte sich die Landwirtschaftsmaschinenfirma Bucher während vier Generationen vom Vater auf den Sohn, bis zu Jean Bucher (1875–1961), dessen Nachkommenschaft aus fünf Töchtern bestand. Das Unternehmen ging deshalb auf Walter Hauser-Bucher (1904–1967) über. Hauser-Bucher war Bauernsohn, verfügte aber über einen Abschluss als Maschineningenieur der ETH Zürich. 1934 heiratete er eine der Töchter von Jean Bucher, übernahm die Firma und vererbte sie danach an seine Kinder weiter. Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts spielten Mütter und Ehefrauen deshalb eine wesentliche Rolle für die Weitergabe von Machtfunktionen und Besitz innerhalb von Familienunternehmen.

Die Wende der 1970er-Jahre

Staatsbürger sein, hiess in der Schweiz bis 1971, ein Mann zu sein. Der Ausschluss der Frauen vom aktiven und passiven Wahlrecht auf Bundesebene hatte aber Auswirkungen, die über den politischen Bereich hinausgingen.16

Bis Anfang der 1970er-Jahre konzentrierten sich die Forderungen der Frauenbewegung in erster Linie auf das Frauenstimmrecht. Dies führte dazu, dass sich die Entwicklung anderer Regulierungen, die die Geschlechterbeziehungen betrafen, etwa in der Sozialgesetzgebung, verzögerten.17 Insbesondere bei der Teilnahme am Arbeitsmarkt erhöhen diese Verzögerungen die Hindernisse für Frauen. Auch bei der Unterstützung der Mütter war die Schweizer Gesetzgebung besonders stark im Rückstand, die Mutterschaftsversicherung trat erst 2005 in Kraft – 60 Jahre, nachdem das entsprechende Prinzip in der Bundesverfassung verankert worden war.

Die Ausdehnung des «allgemeinen» Stimmrechts auf die Frauen 1971 stellte die Weichen für ihren künftigen Zugang zu Machtpositionen in der Gesellschaft. Denn selbst wenn diese Verfassungsänderung keine direkte Wirkung auf den wirtschaftlichen Bereich hatte, begünstigte der Eintritt der Frauen in die Politik doch eine gewisse Öffnung in den Unternehmen. So veränderte sich die Präsenz von Frauen in den 110 grössten Unternehmen ab den 1980er-Jahren deutlich: Zum einen waren sie zahlreicher vertreten. Auch wenn dieser zahlenmässige Anstieg von einem bescheidenen Niveau ausging (fünf Frauen im Jahr 1957), so sind die 20 weiblichen Verwaltungsrätinnen und Direktorinnen 1980 für die Schweiz beachtenswert. Zweitens veränderte sich ihr Profil: Zwar waren einige dieser Frauen immer noch Firmenerbinnen – so sass beispielsweise die 1926 geborene Hortense Anda-Bührle im Verwaltungsrat von Oerlikon-Bührle. Die Mehrheit der Frauen jedoch gelangte an die Spitze von Unternehmen, die sich nicht in Familienbesitz befanden. Häufig hatten sich diese Verwaltungsrätinnen des neuen Typs in der politischen Arena einen Namen als Frauenrechtlerinnen gemacht und sich für einen (bürgerlichen) Feminismus engagiert.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts öffnete sich die Welt der Grossunternehmen langsam auch für Frauen. Diese Öffnung war allerdings stark vom Fortwirken gewisser Geschlechterstereotypen geprägt: Von den 20 1980 erfassten Frauen waren 13 im «weiblich» konnotierten, dem (Haushalts-)Konsum verbundenen Sektor der Grossverteiler tätig. Allein dem Verwaltungsrat der Migros gehörten fünf Frauen an. Die Migros war damit das einzige Unternehmen, dessen Strategieorgan mehr als ein weibliches Mitglied hatte. Die übrigen Frauen verteilten sich auf die Verwaltungsräte von Coop, Grand Passage, Innovation, Jelmoli und andere im Detailhandel tätige Unternehmen. Gänzlich fehlten in den berücksichtigten Stichjahren Frauen übrigens in den Branchen Versicherungen, Lebensmittel, Bau, Energie, Uhren und Transport.

Eine Kombination von Faktoren führte dazu, dass Frauen bis in die 1980er-Jahre von Machtpositionen in Schweizer Grossunternehmen ausgegrenzt wurden: die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, das Kooptationssystem und die Bedeutung der Militärkarriere. In eigentümlicher Weise begünstigte der Familienkapitalismus – in dieser Ära die vorherrschende Logik der Corporate Governance – in den Grossfirmen zugleich den Aus- und den Einschluss der Frauen. Einerseits bevorteilte ein patriarchalisches System die männlichen Familienmitglieder in den Familienbetrieben. Umgekehrt stammten die wenigen Verwaltungsrätinnen vor 1970 ausschliesslich aus den Besitzerfamilien. Das Frauenstimm- und Wahlrecht war ein wichtiger Wendepunkt. Seine Einführung 1971 brach das Monopol der Männer auf Führungspositionen in der Wirtschaft und ermöglichte es einer Handvoll Pionierinnen, die gläserne Decke zu durchbrechen. Trotzdem blieb in der Wirtschaft der Widerstand gegen eine Feminisierung der Machtpositionen stärker und hartnäckiger als in der Politik. Tatsächlich verlief das Vorrücken von Frauen in Führungspositionen der Grossbetriebe ab den 1970er-Jahren deutlich langsamer als im Parlament (Kapitel 9).

Pionierinnen in Machtpositionen
Annie Dutoit (1909–1999)

Weil ihre Eltern dagegen waren, musste Annie Dutoit sich ihr Jurastudium selbst finanzieren. Als Rechtsanwältin und Selfmadewoman trat sie 1972 in den Verwaltungsrat des Warenhauses Innovation ein und übernahm 1979 dessen Präsidium. Sie war damit die zweite der in Tabelle 2 (S. 35) aufgeführten Frauen, der es gelang, die gläserne Decke zu durchbrechen und ins Präsidium einer Grossfirma vorzustossen. Im Übrigen war Annie Dutoit Mitglied der Liberalen Partei und präsidierte 1968 als erste Frau den Gemeinderat von Lausanne.

Rosmarie Michel (*1931)

Rosmarie Michel übernahm 1956 die Leitung der 1869 in Zürich gegründeten Confiserie Schurter, ein Familienunternehmen, das bis anhin ihrer Mutter gehört hatte. Sie hatte also bereits ein Standbein in der Geschäftswelt, als sie in der Frauenbewegung aktiv wurde. Dort setzte sie sich für eine bessere Vertretung der Frauen in der Wirtschaft ein und gehörte von 1977 bis 1989 dem Vorstand der International Federation of Business and Professional Women an, die sie von 1983 bis 1985 präsidierte. Anfang der 1980er-Jahre war sie Mitglied des Verwaltungsrats der Merkur AG, einem Detailhändler, der über ein schweizweites Filialnetz Kaffee und Schokolade verkaufte.

Mary Paravicini-Vogel (1912–2002)

Mary Paravicini-Vogel besuchte als Tochter eines Kaufmanns eine Handelsschule und heiratete 1937 einen Rechtsanwalt. 1942 trat sie dem Landesring der Unabhängigen (LdU) bei und gründete 1957 den Schweizerischen Bund der Migros-Genossenschafterinnen. Auch sie war eine politisch engagierte Persönlichkeit, von 1946 bis 1956 Vorstandsmitglied der Vereinigung für Frauenstimmrecht Basel und Umgebung, sowie von 1947 bis 1957 Vorstandsmitglied des Schweizerischen Verbands für Frauenstimmrecht. Zudem leitete sie 1955 die eidgenössische Delegation am Weltkongress der Frauen in Ceylon (heute Sri Lanka). Zusätzlich zur Frauenbewegung war sie auch im Konsumentenschutz stark engagiert.

Kapitel 3
Die familiäre Herkunft als Schlüsselfaktor

«Die Fälle werden immer seltener, da man von einem alten, erfolgreichen Unternehmen sagen kann, dass die Nachkommen der Gründer nach weit über einem Jahrhundert noch immer an der Führung der Geschäfte beteiligt sind. Bei Gebrüder Sulzer ist dies das stabile Moment durch volle 125 Jahre hindurch geblieben; die Gesellschaftsformen im rechtlichen Sinne haben sich verändert, die Grundsätze der Führung jedoch blieben durch Generationen hindurch die gleichen.»18

Dieser Ausschnitt aus der 1959 erschienenen Festschrift zum 125. Jahrestag der Gründung der Firma Sulzer hebt die Bedeutung und Langlebigkeit von Familiendynastien an der Spitze von Schweizer Grossunternehmen hervor. Um die soziale Herkunft von Wirtschaftsführern zu verstehen, ist es notwendig, die Kontrollstrukturen der Unternehmen zu analysieren. Denn ob sich die Aktien eines Unternehmens im Besitz einer Familie befinden oder im Gegenteil breit gestreut sind, hat offensichtlich Auswirkungen auf das Profil des Führungspersonals.

In den 1930er-Jahren entwickelten Adolf Berle und Gardiner Means am Beispiel der USA die These, dass der «Managerkapitalismus» den «Familienkapitalismus» – die seit der ersten industriellen Revolution dominante Form der Corporate Governance – abgelöst habe.19 Die zunehmende Grösse und der Modernisierungsdruck zwingen Unternehmen, so Berle und Means, ihr Aktienkapital externen Investoren zu öffnen, was zu einer breiteren Streuung der Aktien und damit zum Ende der Familienherrschaft führt. Eingeläutet wurde der Niedergang des Familienkapitalismus nach der These von Berle und Means dadurch, dass «professionelle Manager» in den Unternehmen die Macht übernahmen. Mit dieser Interpretation des Wandels vom Familien- zum Managerkapitalismus geht implizit die Hypothese einher, der Zugang zu Machtpositionen in der Wirtschaft sei demokratisiert worden: An die Stelle der Familienzugehörigkeit als entscheidendes Aufstiegskriterium sei das individuelle Leistungsvermögen getreten. Seit den 1970er-Jahren wird die Hypothese einer solchen «Managerrevolution» allerdings von vielen Forschenden zunehmend infrage gestellt, auch in der Schweiz. Mehrere Studien zeigen die Hartnäckigkeit, mit der sich die besitzenden Familien im 20. Jahrhundert in den wichtigsten Schweizer Unternehmen hielten, oft über mehrere Generationen.

Übervertretung des Grossbürgertums und der bürgerlichen Mittelklassen

Um die soziale Herkunft der Wirtschaftsführer zu «messen», stützen wir uns auf den Beruf des Vaters als wichtigsten Indikator. Auf dieser Grundlage ordnen wir die soziale Herkunft der Wirtschaftsführer vier Kategorien zu. Das Grossbürgertum umfasst die Eigentümer und Chefs der Grosskonzerne, die mächtigste Gruppe der Politiker – wie etwa Bundesräte – sowie einige Berufe in Spitzenpositionen der öffentlichen Hand (Bundesrichter und hochrangige Chefbeamte). Die bürgerlichen Mittelklassen umfassen Eigentümer und Leiter mittlerer Unternehmen, mittlere Kader und die unterschiedlichen freien Berufe wie Arzt, Anwalt, Pfarrer, Architekt, Ingenieur oder Lehrer. Zum Kleinbürgertum gehören die kleinen Selbstständigen, Handwerker und Bauern. Schliesslich fasst die Kategorie der Arbeiter und Angestellten Facharbeiter, unqualifizierte Arbeiter sowie Angestellte in subalternen Funktionen in der Privatwirtschaft oder im öffentlichen Dienst zusammen. Diese Kategorien sind natürlich nur Annäherungen an die soziale Realität, und ihre Anwendung unterliegt immer auch dem Ermessen der Forscherinnen und Forscher. Wann immer möglich wurden deshalb ergänzend dazu qualitative Informationen zur Familie berücksichtigt. Daten über die soziale Herkunft sind schwierig zu beschaffen, weil die Bestimmungen des Persönlichkeits- und Privatsphärenschutzes in der Schweiz ausserordentlich streng sind. Unsere Datenbasis ist deshalb nicht immer vollständig. Trotzdem bietet Tabelle 3 einen überschlagsmässigen Überblick zur sozialen Herkunft von Schweizer Konzernchefs. Wenig überraschend zeigt sich dabei ein starkes Übergewicht der höheren sozialen Kategorien, sprich des Grossbürgertums und der oberen Mittelklasse. Der Anteil der Unternehmensführer, die aus dem Grossbürgertum stammen, verharrt zwar auf einem hohen Niveau, nimmt aber gegen Ende des untersuchten Zeitraums deutlich ab, sodass 1980 die bürgerliche Mittelklasse das stärkste Kontingent stellt. Der Anteil von Wirtschaftsführern aus dem Kleinbürgertum oder dem Arbeiter- und Angestelltenmilieu bleibt über die ganze Periode sehr tief.

Tabelle 3

Soziale Herkunft der Spitzenmanager der 110 grössten Schweizer Unternehmen, 1910–1980 (in Prozenten)


1910(N=211) 1937(N=218) 1957(N=215) 1980(N=186)
Grossbürgertum 41,0 37,6 34,4 20,4
Bürgerliche Mittelklasse 27,1 36,7 29,8 31,7
Kleinbürgertum 5,2 7,3 7,0 6,5
Arbeiter und Angestellte 2,9 2,3 2,8 5,4
Keine Angabe 23,8 16,1 26,0 36,0
Total 100,0 100,0 100,0 100,0

Stichprobe: Generaldirektoren, Verwaltungsratspräsidenten und -delegierte.

Selbst wenn die Zugehörigkeit der Wirtschaftseliten zu den sozial gehobenen Schichten ins Auge fällt, gilt es, zwei Kategorien zu unterscheiden: «Familienunternehmer», die selbst Erben und Nachkommen von Gründerfamilien sind, und «professionelle Manager», die keine direkte Verbindung zu diesen Familien haben.

Der Einfluss der Familiendynastien

Bis in die 1980er-Jahre blieben die grossen Schweizer Konzerne vom starken Einfluss einiger weniger Familien geprägt. Carl Holliger und François Höpflinger versuchten in den 1970er-Jahren, ein Porträt dieser mächtigen Familien in der Schweiz zu zeichnen.20 Dabei lassen sich zuerst die «alten Geschlechter» unterscheiden, deren materieller Wohlstand auf vorindustrielle Zeiten zurückgeht. Sie unterteilen sich in eine Gruppe von Familien, die an der Industrialisierung im 19. Jahrhundert kaum beteiligt war, deren Nachkommen aber dennoch wichtige Stellen in den grössten Unternehmen bekleiden. In dieser Kategorie finden sich klingende Namen aus Basel (Iselin, Burckhardt, Staehelin und Merian), Genf (Turrettini), Zürich (von Schulthess, Stockar und Syz), Neuenburg (de Meuron und de Pury) und Bern (von Wattenwyl und Marcuard). Andere dieser «alten Geschlechter» wussten ihre Geschäfte zu diversifizieren und am Aufschwung der Wirtschaft im 20. Jahrhundert als Bankiers, Industrielle oder Händler teilzuhaben. In dieser Kategorie finden sich patrizische Geschlechter aus Basel (Hoffmann, La Roche, Vischer und Sarasin) und Genf (Pictet, Lombard und Naville) genauso wie Familien ähnlicher Herkunft aus anderen Regionen der Schweiz, etwa die Pestalozzi, von Muralt und Escher aus Zürich oder die de Coulon aus Neuenburg. Die Einflusssphäre dieser Dynastien blieb keineswegs auf die Wirtschaft beschränkt, sondern erstreckte sich auch auf politische, kulturelle und philanthropische Aktivitäten. Zudem kam es zu zahlreichen Eheschliessungen zwischen Mitgliedern dieser Familien (Kapitel 2).

Die zweite Kategorie bilden «Industriepioniere», denen es seit dem 19. Jahrhundert gelungen war, eigentliche Dynastien aufzubauen. Von sozial tieferer Herkunft als die Angehörigen der «alten Geschlechter» gründet der Reichtum dieser Familien in der ersten industriellen Revolution (insbesondere im Textil- und Textilnebengewerbe); dies gilt für die Familien Bühler, Rieter, Abegg, Bodmer, Schwarzenbach, Honegger, Bally, Sulzer, Volkart oder Reinhart. Weitere Familien erwarben ihr Vermögen im Zug der zweiten industriellen Revolution (Chemie, Maschinen- und Elektroindustrie etc.), beispielsweise die Schmidheiny, Huber, von Moos, Geigy, Sandoz, Schindler, Hürlimann und Boveri.

Eine dritte Kategorie formen schliesslich diejenigen Familien, die sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten und denen es ebenfalls gelang, regelrechte Familienimperien aufzubauen. Einige dieser neuen Patrons stammten aus sozial sehr bescheidenen Verhältnissen und können daher als Selfmademen betrachtet werden. Karl Schweri (1917–2001) ist hier ein gutes Beispiel. Der Sohn eines Metzgers und Landwirts gründete nach dem Krieg die Firma Plabag, die Kugelschreiber herstellte. Anfangs der 1950er-Jahre erwarb er die Aktien der Import- und Grosshandel AG, die er 1969 in die Denner AG umwandelte, wobei er gleichzeitig das Preiskartell für Markenartikel sprengte. Anfangs der 2000er-Jahre ging die Leitung der Gruppe an seinen Enkel Philippe Gaydoul über.

Der Familienkapitalismus blieb aber nicht auf die Gründerdynastien allein beschränkt. Gelegentlich lösten neue Familien Gründerfamilien ab, die die Kontrolle über ihre Firmen verloren hatten. Solche «Neugründerfamilien» erwarben einen Aktienanteil, der es ihnen ermöglichte, die unternehmerische Kontrolle zu übernehmen und an ihre Nachkommen zu vererben. Zuweilen nisteten sie sich auch in Firmen ein, die ursprünglich keine Familienunternehmen gewesen waren.21 Ein Bespiel hierfür ist der Eintritt der Familie Dübi in die Firma Von Roll. Deren Gründerfamilie erlosch 1859 mit dem Tod von Franz von Roll, dem letzten männlichen Nachkommen. 1873 trat Johann Dübi (1850–1934) als Buchhalter in den Betrieb ein. In 20 Jahren stieg Dübi, ein Mann von bescheidener Herkunft, auf der Karriereleiter vom Buchhalter zum Generaldirektor auf und wurde später Verwaltungsratsmitglied. 1914 trat sein Sohn Ernst (1884–1947), ein an der ETH ausgebildeter Ingenieur, ebenfalls in das Unternehmen ein. Wie zuvor sein Vater avancierte er 1927 zum Generaldirektor, von 1935 bis 1947 war er Mitglied des Verwaltungsrats. Ernst Dübi war eine zentrale Figur im Schweizer Unternehmertum, der 1937 entscheidend an der Erarbeitung und Unterzeichnung des «Friedensabkommens» in der Maschinenindustrie beteiligt war. Diese Form des Familienkapitalismus ist schwieriger zu erkennen, weil der Name der neuen Familie sich oft vom Namen der übernommenen Firma unterscheidet und so gegen aussen unsichtbar bleibt. Dies ist mit ein Grund, wieso das Gewicht der Familien in den Grossunternehmen oft unterschätzt wird.

Über die Frage der hier identifizierten Kategorien von Familien hinaus ist die Vielfältigkeit der Formen, eine Firma zu kontrollieren, zu betonen: Sie kann auf die Kontrolle des Eigentums, sprich der Aktien, und auf eine Mitgliedschaft im Verwaltungsrat beschränkt bleiben oder sich auch auf die exekutiven Funktionen erstrecken. Am stärksten ist die Kontrolle, wenn Familien im Lauf der Generationen gleichzeitig das Unternehmen als Besitzer halten und die Leitungsfunktionen ausüben. Dies war der Fall bei Konzernen wie Sulzer, BBC, Bobst, Schindler, Holcim-Holderbank, Heberlein, Hero, Von Moos, Bally, Hürlimann, Lindt & Sprüngli sowie Landis & Gyr, aber auch bei mehreren Privatbanken wie Bär, Sarasin, Pictet und Lombard-Odier. In diesen Fällen stützte sich die Langlebigkeit der familiären Kontrolle auf eine konsequente Nachwuchsförderung. Die Nachkommen erwarben universitäre Bildungstitel und wurden dann schrittweise in die Unternehmensführung einbezogen.

In anderen Fällen beschränkte sich der Einfluss der Familie auf die Mitgliedschaft im Verwaltungsrat, weil die Nachkommen sich aus der operativen Führung zurückgezogen hatten. Dies war bei den Chemieunternehmungen Sandoz (Familie Sandoz und später Landolt) und Geigy (Familien Geigy und Angeheiratete), aber auch bei Firmen wie Saurer oder Escher Wyss der Fall. Seltener kam es vor, dass sich Familien auf eine einfache Beteiligung am Aktienkapital beschränkten und auf einen Verwaltungsratssitz verzichteten. Schliesslich unterschied sich das Ausmass der Familienmacht in den unterschiedlichen Wirtschaftszweigen. Während sie in den industriellen Branchen (namentlich Textil, Maschinen und Chemie) und bei den Privatbanken besonders stark war, spielte sie in den Grossbanken und Versicherungen kaum mehr eine Rolle.

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