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Читать книгу: «Lord of the Lies - Ein schaurig schöner Liebesroman», страница 2

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Kapitel 2

Beaumont Park, London

Der Beaumont Park, in dem der Ball stattfinden würde, lag am Südufer der Themse und hatte seine Tore gewöhnlich für jedermann geöffnet. Man reiste entweder per Boot oder Kutsche an und konnte gegen einen geringen Obolus die gepflegte Gartenanlage genießen. Der Vergnügungspark bot lange Alleen, die zum Flanieren einluden. Kleine Tempel, verborgene Bänke und Lauben verführten die Besucher zum Verweilen in verschwiegenen Winkeln. In verschiedenen Pavillons, die mit erlesenen Möbeln und Gemälden ausgestattet waren, konnte man Mahlzeiten einnehmen, Konzerten lauschen oder tanzen. Sogar für die Gentlemen gab es separate Räume, die die Möglichkeit zu einem Kartenspiel boten. Ein künstlich angelegter See, der in eine herrliche Wiesenlandschaft eingebettet war, gab den Besuchern die Gelegenheit für ein Picknick oder eine Gondelfahrt. Das Ungewöhnliche und die Hauptattraktion des Parks waren jedoch, dass Männer und Frauen aller Altersklassen und Gesellschaftsschichten sich hier in der Öffentlichkeit treffen konnten, ohne die strengen Regeln der Konvention zu verletzen.

An jenem Abend allerdings hatte der Marquess Shutterfield den gesamten Park gemietet, der nun lediglich für die geladenen Gäste des Balls zugänglich war, welcher zu Ehren seiner jüngsten Tochter am See stattfinden sollte. Als Arden Millard Grand Duke of Lyndoncastle die Gärten betrat, hatte sich bereits der größte Teil des Londoner Adels zu dem Ereignis der Saison schon eingefunden. Der dunkle Nachthimmel war wolkenfrei und zeigte sein funkelndes Firmament. Fackeln beleuchteten die Wege und Pfade, die sich hinter den Hügeln und Bäumen verloren. Die warme Sommerluft betörte durch den süßen Duft der üppigen Rosen und der blühenden Clematis, die sich um die griechischen Säulen und Statuen rankten. Ein großes weißes Zelt, in dem musiziert und getanzt wurde, war vor dem See aufgebaut worden, auf dem unzählige Lichter schwammen. Die mitreißenden Klänge einer Sinfonie und das leise Stimmengewirr der Gäste erfüllten den Park mit der fröhlichen Leichtigkeit des Lebens, was dem jungen Grand Duke zuwider war.

Missmutiger als sonst näherte sich der braunhaarige Mann dem Zelt, um seinem Gastgeber die Aufwartung zu machen. Es war seine Pflicht als Familienoberhaupt der Lyndons, den Einladungen des Adels zu folgen und den Festen, wenigstens für eine Weile, beizuwohnen. Denn man pflegte untereinander auch geschäftliche Verbindungen, die keinen Schaden nehmen sollten. Selbst wenn sein Bruder nachher auftauchen würde, sobald er verschwunden war, musste er den Marquess Shutterfield begrüßen. Der Grand Duke hasste es, sich zwischen den kichernden Debütantinnen hindurchquälen zu müssen, die von ihren Müttern begleitet wurden, welche fast noch schlimmer waren in ihrem ständigen Drängen und Suchen nach einem Ehemann für ihre Töchter. Arden war sich bewusst, dass er sich früher oder später um eine Ehefrau bemühen müsste, um einen Erben zu zeugen, damit die Linie Lyndons fortgeführt wurde. Mit seinen siebenundzwanzig Jahren hatte er für diese Suche allerdings noch genügend Zeit, vorerst galt es wichtigere Dinge zu erledigen.

»Großer Gott, Pearlene, da ist er«, flüsterte Reeva, die neben Pearlene am Rande der Tanzfläche stand. Aufgeregt wirbelte sie sich mit ihrem Fächer Luft zu und deutete mit einem Nicken durch die Menschenmenge auf einen dunkel gekleideten Mann. »Sieht Grand Duke Lyndon nicht unglaublich gut aus? Er ist so groß und kräftig gebaut. Und dann noch sein ernster, beinahe schon böser Blick, der mir jedes Mal eine Gänsehaut verursacht.«

Sie seufzte hingebungsvoll und Pearlene hob ihre Stielbrille an, um den Verursacher der Schwärmerei auszumachen. Aha, das war also der Grand Duke of Lyndoncastle, einer der Zwillinge von denen Reeva ihr so viel berichtet hatte. Er war wirklich ein stattlicher Mann und tatsächlich wirkten seine Gesichtszüge äußerst mürrisch, was seiner Attraktivität jedoch keinen Abbruch tat. Anscheinend gab er nichts auf die gängige Mode, denn sein schwarzer Rock, der sich um seine mächtigen Schultern schmiegte, war im Vergleich zu dem der übrigen Herren mit nur wenigen goldenen Ziernähten und Knöpfen versehen. Auch seine Kniehose, Strümpfe und Weste waren dunkel gehalten, außer seinem weißen Hemd, das durch ein feines Spitzenjabot hervorstach. Wie alle Männer trug er sein Haar zu einem Zopf im Nacken gebunden, verzichtete aber auf Puder und die seitlichen Locken. Glatt gekämmt mit einem Seitenscheitel wirkte seine gesamte Erscheinung streng und unnachgiebig, was seine aufrechte Körperhaltung ebenso vermittelte. Seine Augen mussten von einem kräftigen Blau sein, denn trotz der Entfernung konnte Pearlene ihre Farbe erkennen. Möglicherweise lag es jedoch auch an dem dunklen Teint, den der Grand Duke hatte, dass einem seine stechenden Augen sofort auffielen. Der grimmige Blick des Mannes flog über die Menge hinweg, als würde er etwas oder jemanden suchen. Er streifte sogar Reeva und sie … O Schreck, er hatte ihr ungebührliches Starren bemerkt, denn seine Augen fanden zurück zu ihr. Wie peinlich!

Hastig senkte Pearlene ihre Brille und wandte sich Reeva zu. Ihre Hitzewallung ignorierend fragte sie ihre Cousine: »Du behauptest, sein Bruder sieht genauso aus wie er? Woran kannst du dann erkennen, dass er der Grand Duke ist?«

Reeva schmunzelte. »Weil Bradford vollkommen anders ist. Eigentlich ist er, sozusagen, das Gegenteil von ihm, Arden. Bradford trägt immer helle Röcke und Westen. Außerdem lacht er immerzu und ist von seinen Freunden umgeben. Der Grand Duke, Arden, dagegen ist ein Eigenbrötler. Ich glaube, … ich habe ihn noch nie lachen gesehen. Aber das Wichtigste: Bradford ist ein charmanter Weiberheld, du musst dich vor ihm in Acht nehmen.« Sie beugte sich dichter zu Pearlene und murmelte ihr hinter dem Fächer zu: »Mutter erzählte, angeblich habe er in der letzten Saison mehrere Debütantinnen gepflückt.«

Entsetzt riss Pearlene die Lider auf. Ein Wüstling der schlimmsten Sorte war dieser Bradford Lyndon also? Um diesen Mann würde sie einen großen Bogen machen, falls er auf diesem Ball auftauchen würde.

Völlig in Gedanken hob Pearlene ihre Brille an, um wieder zu dem Grand Duke hinüberzuschauen, der sie, schockierender Weise, immer noch genauso beobachtete wie zuvor. Ohne eine erkennbare Regung starrte er ihr entgegen. Sofort blickte Pearlene zur Seite. Ihr Herz pochte ungestüm und ihre Wangen begannen zu glühen. Sah er sie an? Nein, sicher nicht, viel wahrscheinlicher war doch, dass er sich für Reeva interessierte.

»Ist der Grand Duke auch ein Schürzenjäger? Ich meine, hat er dich schon mal um einen Tanz gebeten?«, wollte Pearlene wissen und bemerkte, wie sich ihr Magen zusammenzog, was sie verwirrte, denn es fühlte sich beinahe nach Angst an.

Reeva kicherte. »Arden? Nein. Der kommt nicht mal in die Nähe von ledigen Frauen.« Plötzlich verstummte das Mädchen und warf einen Blick in die Richtung des Grand Duke. »Sag mal, schaut er etwa zu uns herüber? Ich falle gleich in Ohnmacht! Pearlene, er hat dich im Auge.«

Nervös strich sich Pearlene einzelne Haarsträhnen aus dem Gesicht, obwohl sie sie gar nicht störten. »Gewiss täuschst du dich, Reeva. Er schaut nur zufällig in unsere Richtung.«

Hatte ihre Cousine zuvor noch gestrahlt, so fiel nun ihr Gesicht in Enttäuschung zusammen. »Schade, anscheinend habe ich mich wirklich getäuscht. Arden geht nämlich.«

»Was?!« Erschrocken blickte Pearlene wieder durch ihre Brille. Sie konnte gerade noch Ardens braunen Haarschopf in der Menge verschwinden sehen und auf einmal schien ihr der Ball ein wenig reizloser geworden zu sein. Ein ähnliches Seufzen, wie das von Reeva, entwischte ihr, weshalb diese sie sacht mit ihrer Schulter anstupste.

»Er gefällt dir. Tja, Cousine, da bist du leider nicht allein. Aber warte, bis du seinen Bruder Bradford kennenlernst. Seit er vor einigen Wochen einen Unfall hatte, soll er mit seinen Freunden keine Matinee oder Soiree ausgelassen haben, um sich an die diesjährigen Debütantinnen heranzumachen.« Erneut flüsterte Reeva ihr vertraulich zu: »Er soll sogar diverse Affären mit Witwen unterhalten haben.«

»Er hatte einen Unfall? Himmel! Und dann noch zahllose Affären? Da kann man nur hoffen, dass die Hälfte dieser Gerüchte erfunden ist. Ansonsten müsste er ja ein fürchterlicher Kerl sein«, empörte sich Pearlene über die Ausführungen ihrer Cousine.

Diese schüttelte jedoch überrascht den Kopf. »Nein, das ist er eben nicht und genau deswegen glaube ich die Gerüchte auch. Na ja, zumindest das mit dem Unfall entspricht der Wahrheit. Vater hatte es Mutter und mir erzählt, als er an jenem Abend vom Herrenclub nach Hause kam. Bei einem Gig-Rennen durch den Park mit seinen Freunden hatte sich sein Wagen ausgekoppelt.«

»Grundgütiger!«, staunte Pearlene, woraufhin Reeva nickte.

»Ja, Bradford ist ein richtiger Draufgänger. Kein Wunder, dass er sich mit dem pflichtbewussten Arden überhaupt nicht versteht. Die zwei meiden sich wie Hund und Katze. Laut ihrer Dienerschaft sollen sie sich streiten, dass die Fetzen fliegen. Und seit Bradford keine Gelegenheit auslässt, um den ledigen Frauen nachzulaufen, soll es noch schlimmer sein. Arden ist stets darauf bedacht, den Ruf und das Ansehen seiner Familie reinzuhalten, während sein Bruder sich nicht einen Heller darum schert.«

Gerade als Pearlene Reeva noch weitere Fragen nach den Zwillingen stellen wollte, wurden sie von zwei jungen Gentlemen unterbrochen, die um einen Tanz baten.

Arden hatte gerade die Begrüßung seines Gastgebers hinter sich gebracht, als er sich im Zelt umschauen wollte, ob die Freunde seines Bruders schon angekommen waren. Er ließ seinen Blick über die Menge streifen. Es waren die altbekannten Gesichter der Älteren, denen er jedes Jahr begegnete, und die der Jungen, von denen er einige kannte, die ihren ersten Ball erlebten. Gerade den unschuldigen Jungfern wollte er keine besondere Aufmerksamkeit schenken, um keine falschen Vermutungen loszutreten, da man ihn auf solchen Bällen stets als guten Fang beobachtete. Aber als er das blonde Mädchen mitten im Pulk entdeckte, das als Einzige so etwas wie eine Halbmaske vor ihr Gesicht hielt, musste er nochmals genauer hinschauen. Einen Moment später begriff er, dass es keine Maske, sondern eine Brille war und dass sie ihn eingehend betrachtete. Im nächsten Moment wurde ihr klar, dass er sie dabei ertappt hatte. Allerdings konnte er sie weder verlegen kichern noch dreist auffordernd lächeln sehen, was die gewöhnlichen Reaktionen der Damen bei einem derartigen Blickkontakt waren. Die junge Frau senkte sofort ihre Gläser und wandte sich von ihm ab, als habe sie das Interesse an ihm verloren. Er hatte nur kurz ihr Gesicht gesehen, aber dennoch war ihm sofort ihr wundervoller Mund aufgefallen. Herrliche volle Lippen in ebenmäßiger Pracht.

Verwundert stellte Arden fest, dass sein Körper ihm auf unverständliche Weise deutlich machte, dass ihm die Blondine gefiel. Ja, je länger er sie musterte, desto eindeutiger wurde es, dass sie ihm außerordentlich gefiel. Vom seidig glänzenden Haar über ihr bezauberndes Gesicht, der schlanken Figur mit den kleinen und doch vollen Brüsten bis hin zu ihrer zurückhaltenden Art, all das zusammen löste ein Ziehen in seinen Lenden aus und den Wunsch, sie besitzen zu wollen. Sie war keine von den naiven, jungen Gören, sondern erweckte den Eindruck einer keuschen, bescheidenen Frau. Schmerzlich fiel ihm ein, dass Bradford, wenn er anwesend wäre, sofort Jagd auf sie machen würde. Und eins war so sicher wie das Amen in der Kirche: Sein Bruder würde heute Abend noch auftauchen und dann wäre die Kleine nicht mehr sicher vor ihm.

Nach einem letzten intensiven Blick auf die junge Frau, der von ihr nicht unbemerkt blieb und ihr sogleich die Röte ins Gesicht steigen ließ, machte sich Arden auf den Weg zu seiner Kutsche.

Kapitel 3

Nach dem Tanz luden die Gentlemen Pearlene und Reeva auf ein Glas Punsch ein, das sie ein Stück abseits der Tanzfläche in Ruhe trinken konnten. Mittlerweile war das Zelt dicht bevölkert und die vier stellten sich an einen der hohen Tische, die reihum platziert waren. Während Pearlene an ihrem Getränk nippte, gesellte sich eine Freundin von Reeva zu ihnen, die ebenfalls von ihrem jungen Cousin begleitet wurde. Loraine Sparkle war ein hübsches, rothaariges Mädchen und ihre niedlichen Sommersprossen passten wunderbar zu ihrer aufgeweckten Art. Reeva stellte die beiden Pearlene vor und Loraine verwickelte sie sogleich in eine Unterhaltung.

»Ist der Ball nicht fantastisch? Es ist mein erster und dann auch noch gleich im Beaumont Park. O Himmel, ich bin so aufgeregt.«

Pearlene lächelte milde, denn man sah der jungen Frau die Aufgeregtheit an, da sie keine Sekunde stillstehen konnte.

»Das kann ich sehr gut verstehen, denn mir geht es ebenso. Ich war bisher nur ganz selten in London.«

Loraines Cousin meinte daraufhin zu Pearlene: »Haben Sie schon gehört, dass es später noch ein Feuerwerk über dem See geben soll?«

Doch bevor Pearlene antworten konnte, meldeten sich ihre Begleiter zu Wort.

»Ja, Shutterfield erwähnte es meinem Vater gegenüber.«

»Der Marquess hat, weiß Gott, keine Kosten gescheut, um den Abend in einen Erfolg zu verwandeln.«

Indessen die Herren sich weiterunterhielten und dabei um die Gunst der Damen wetteiferten, welche kichernd darauf eingingen, kam sich Pearlene daneben fehl am Platz vor. Sie kannte nur einige der Namen, die aufgezählt wurden, und war von den Prahlereien der jungen Männer wenig angetan, die sich in protziger Selbstdarstellung übten, mit dem Ansehen und Vermögen ihrer Familien. Pearlenes Aufmerksamkeit wanderte deswegen zu einem Gespräch von drei Frauen, die ganz in ihrer Nähe auf einem der unzähligen Diwane saßen und die Leute beobachteten. Die älteste der Damen, eine beleibte Matrone, beugte sich über ihre Nachbarin hinweg, die in der Mitte ihren Platz hatte, zu der Jüngeren am anderen Ende des Sofas.

»Countess Swanson, wie man hört, hegt Ihr doch regen Kontakt mit dem Magistrat Earl Desmond Berkley? Hat er etwas Neues erzählt, über den letzten Leichenfund?«

Die Countess Swanson wirkte verärgert und antwortete schnippisch: »Nicht ich hege Kontakt mit dem Magistrat Berkley, sondern mein Gemahl.«

Die Neugier der Matrone war allerdings dadurch nicht gestillt, weshalb sie nicht lockerließ. »Es heißt, Berkley würde bei Euch zu jeder Tageszeit ein- und ausgehen. Daher lag meine Vermutung nahe, dass Ihr uns etwas über die Mordfälle verraten könnt.«

Die andere Dame mischte sich nun ebenfalls ein. »Wie mir zugetragen wurde, wurde auch diese Tote mitten in der Wildnis gefunden, genau wie die anderen beiden Leichen. Ohne Kopf! Angeblich waren es alles Jungfrauen.«

Pearlene hörte die junge Countess in vertraulichem Ton sagen: »Zumindest waren sie dies, als man sie entführte, jedoch nicht mehr, als man sie tot auffand. Der Magistrat schwört, am liebsten würde er sein Amt abgeben und damit auch die Aufklärung der Morde einem anderen überlassen, so schrecklich seien die Opfer zugerichtet worden.«

Entsetzt schnappten die Älteren nach Luft und auch Pearlene erschrak über die Aussage, bei der man sich ausmalen konnte, was es zu bedeuten hatte.

Leise, dass es Pearlene fast nicht hörte, gestand die mittlere Dame auf der Bank: »Nicht einmal mein Mann wollte mir genauer erzählen, was er im Herrenclub aufgeschnappt hat, aber er meinte, es wären genügend Beweise an den nackten Körpern, die darauf hindeuteten, dass man die Jungfrauen vor ihre Enthauptung defloriert und ganz fürchterliche Dinge mit ihnen angestellt hätte.«

Die ältere Matrone nickte unheilvoll. »Ja, man munkelt so einiges. Glaubt der Magistrat, dass diese Morde mit den Funden der Kinderleichen zusammenhängen? Jenen wurden doch auch die Köpfe abgeschlagen.«

Countess Swanson schüttelte ihr Haupt. »Es sieht nicht danach aus, denn das ist das Einzige, was die Fälle gemein haben. Während die Opfer der Jungfrauenmorde immer Töchter aus gutem Hause sind, stammen die Kinder, deren Überreste man fand, aus der untersten Gesellschaftsschicht. Und vor allen Dingen …«

Nun musste Pearlene sich anstrengen, um die Countess zu verstehen, da sie immer leiser wurde.

»… waren unter diesen Opfern auch Jungen. Zum Teil sollen sogar Totgeburten und Ungeborene dabei gewesen sein. Die älteren Kinder hatte man angeblich noch vor ihrem Tode gequält.«

Pearlene wurde schlecht, als sie von den Grausamkeiten hörte, und stellte ihr Glas auf dem Tisch ab, denn vor Schreck wäre es ihr fast aus den Händen geglitten.

Von solchen entsetzlichen Vorgängen hatte sie noch nie gehört. Bestimmt hatten ihre Eltern sie absichtlich im Ungewissen darüber gelassen, was derzeit in London passierte, und darauf bestanden, dass sie nichts davon erfuhr. Jetzt verstand sie auch die eindringlichen Warnungen ihrer Tante und des Onkels, die sie Reeva und ihr noch in der Kutsche eingeschärft hatten, nie allein und immer in ihrer Sichtweite auf dem Fest zu bleiben. Den ganzen Abend hatten sie sich daran gehalten und selbst in diesem Moment unterhielten sich ihre älteren Verwandten in Rufweite, was ihr nun eine beruhigende Sicherheit verlieh.

»Ja«, nickte die Matrone. »Das stimmt, sogar die Fundorte der Leichen sind unterschiedlich. Die Kinder werden immer in einem Londoner Gewässer gefunden.«

Die mittlere Dame fächerte sich Luft zu. »Schrecklich, schrecklich. Man traut sich gar nicht mehr, seine Kinder aus dem Haus zu lassen.«

»Wohl wahr!«, gab ihr die Matrone Recht.

Countess Swanson nickte. »Das Schlimme ist, solange sie die beiden Mörder nicht gefasst haben, rechnen die Wachtmeister mit weiteren Leichen. Man vermutet, dass der Jungfrauenmörder alle paar Wochen nach einem neuen Opfer sucht.«

Pearlene schluckte bei dem Gedanken, dass der Mörder noch immer auf freiem Fuß war und demnächst womöglich ein weiteres Mädchen auf bestialische Weise sterben würde.

Die mittlere Dame gab zu bedenken: »Aber man fand die letzte Tote doch erst vor zwei Wochen, gewiss wird er so schnell nicht wieder zuschlagen.«

Die Countess kräuselte ihre Stirn. »Man fand sie vor zwei Wochen, aber ermordet wurde sie schon geraume Zeit zuvor.«

Je mehr Pearlene hörte, desto enger zog sich ihr Magen zusammen. Sie beschloss, die älteren Damen besser nicht mehr zu belauschen, als die Matrone plötzlich aufgeregt gluckste: »Na, da sind sie ja, wie erwartet. Die gefürchteten Lebemänner Londons. Ich danke dem Himmel, dass meine beiden Töchter schon längst unter der Haube sind und meine Enkeltöchter noch nicht im heiratsfähigen Alter. Wenn ich sie nicht wegen des wahnsinnigen Mörders einsperren würde, dann gewiss wegen ihnen. Allen voran wegen Bradford Lyndon.«

Bradford war hier?! Neugierig folgte Pearlenes Blick dem der älteren Dame, doch sie konnte lediglich die verschwommenen Umrisse mehrerer Personen auf der gegenüberliegenden Seite des Zeltes erkennen. Sofort begann sie, in ihrem Retikül nach der Schatulle ihrer Stielbrille zu suchen, welche sie vor dem Tanzen darin verstaut hatte. Reeva drückte derweil ihren Ellbogen und flüsterte ihr ins Ohr: »Sieh doch! Da ist der Bruder des Grand Duke. Hach, ich würde alles darum geben, wenn Bradford mich nur um einen Tanz bitten würde.«

Kaum hatte Pearlene das gute Stück gefunden, hielt sie es sich vor die Augen. Herr im Himmel, er sah wirklich auf den ersten Blick wie sein Bruder, Grand Duke Arden, aus. Die Statur, die Haarfarbe, selbst die Augen leuchteten in dem gleichen Blau. Lediglich die Kleidung und seine Frisur unterschieden sich von Ardens. Bradford entsprach dem typischen Bild eines Dandys. Auf dem neusten Stand der Mode gekleidet, in einem hellem Brokat-Rock und einer Damast-Kniehose, wirkte er durch und durch elegant und gepflegt. Er trug zwar ebenso den üblichen Herrenzopf, aber im Gegensatz zu seinem Bruder waren seine Haare nicht streng zurückgekämmt, sondern in legerer Weise zusammen gefasst. Die unordentlichen Wellen verliehen seinem Auftreten eine Spur von Verwegenheit, was ihn umso faszinierender machte.

Eine Gruppe von jungen Herren begleitete ihn, sie schienen alle seinem Alter und Charakter zu entsprechen. Man hörte sie miteinander laut lachen und schwatzen. Es war nicht zu übersehen, dass die Riege der Schwerenöter es genoss, im Mittelpunkt des Balles zu stehen. Jeder der Anwesenden beobachtete sie, auf die eine oder andere Weise. Die älteren Lords taten dies mit Kopfschütteln, deren Ehefrauen mit pikiertem Entsetzen und der Nachwuchs mit unverhohlener Bewunderung. Während die unerfahrenen Jünglinge so sein wollten wie sie, hofften die unschuldigen Jungfern, von ihnen beachtet oder gar erwählt zu werden.

Pearlene war mehr als eingeschüchtert von der offensichtlichen Arroganz, die Bradford und seine Freunde zur Schau stellten, und der Wirkung, die von ihnen auf die Menge ausging. Es war, als würde ein Stein auf eine ruhige Wasseroberfläche treffen und fortwährend kreisrunde Wellen schlagen, die immer größer wurden.

Reeva fächerte sich wild Kühlung zu. »Mutter sagte, dass jeder von ihnen der denkbar schlechteste Umgang für eine junge Lady sei, die ihr untadeliges Ansehen behalten wolle.« Nach einem Seufzen fuhr sie fort: »Und doch … wäre ich gewillt, mit Bradford zu tanzen.«

»Nein!«, keuchte Pearlene entsetzt und starrte zu Reeva. »Willst du dir die Chance auf einen angesehenen Ehemann denn völlig verderben? Kein anständiger Mann würde dich mehr in Erwägung ziehen, wenn du mit einem von diesen Schürzenjägern auf die Tanzfläche gehen würdest, bei dem zweifelhaften Ruf, der ihnen vorauseilt. Ausgeschlossen!«

Reevas Augen wurden immer runder und sie begann zu stammeln: »Er … er schaut zu uns. Allmächtiger! Er kommt auf uns zu.«

»Wer?!«, alarmiert hob Pearlene ihre Augengläser wieder an und glaubte sich einer Bewusstlosigkeit nahe, denn kein anderer als Bradford Lyndon schritt durch die Besucher, direkt auf sie zu, ohne sein Ziel aus den Augen zu lassen. Pearlene lief ein Schauer den Rücken hinab, denn sein Blick glich dem eines lauernden Raubtiers.

*

Der Mann bewegte sich unauffällig durch die Menschenmenge, in der er vollkommen unterging. Keiner der Gäste nahm ihn wahr.

Die Anweisungen im Brief seines Meisters waren eindeutig gewesen. Er wusste genau, welchem Mädchen er die Droge ins Getränk mischen musste, lediglich der richtige Zeitpunkt war abzuwarten. Er kannte ihren Namen und hatte sie im Auge, seit sie das Fest betreten hatte und sie mit ihrem Titel den Gästen vorgestellt worden war. Sie war älter als die bisherigen Jungfrauen, aber das war ihm persönlich gleich, denn alles, was der Meister befahl, hatte einen bestimmten Grund, selbst wenn ihm dieser nicht immer ersichtlich war. Für die Zeremonien verlangte es nach ganz besonderen Jungfrauen und diese suchte nun einmal der Meister aus.

Die blonde Frau stand an einem Tisch, sie hatte ihr Glas abgestellt. Er hatte Glück, dass dort, wo sie stand, ein dichtes Gedränge herrschte. Alle Blicke waren auf die Tanzfläche gerichtet. Wie aufgetragen gelang es ihm, die Droge in einer schnellen Bewegung heimlich in ihr Glas zu geben. Da man bei den Debütantinnen nie sicher war, ob sie das Glas bis zum letzten Zug leeren würden, war das Mittel hochkonzentriert. Auch wenn sie nur einen kleinen Schluck zu sich nähme, würde sie todmüde werden und sich nicht mehr auf den Beinen halten können. Sollte sie das Glas bis zur Neige austrinken, würde sie früher oder später völlig das Bewusstsein verlieren, dann bräuchte er zumindest das Tuch mit dem Äther nicht zu verwenden. Die jungen Dinger suchten meist einen abgelegenen Ort auf, sobald die Droge ihre Wirkung zeigte, um sich in der Öffentlichkeit nicht die Blöße einer Ohnmacht zu geben. Manche von ihnen hatten wohl Angst, ihnen würde unterstellt werden, sie vertrügen den ersten Alkohol nicht und hofften auf Besserung, wenn sie sich einen Moment ausruhen würden. Andere wiederum glaubten, ihr zu eng geschnürtes Mieder wäre die Ursache der übermächtigen Müdigkeit, die sie fälschlicherweise für eine herannahende Ohnmacht hielten. Sie wollten die Verschnürung dann immer in einem einsamen Versteck lockern. Selten war es bisher geschehen, dass die Mädchen sich rechtzeitig an ihre Eltern wandten und ihm entgangen waren. Gerade zweimal hatte er seinem Meister ein Scheitern mitteilen müssen. Allerdings glaubte er, allmählich zu beobachten, dass die Leichenfunde die Leute vorsichtiger handeln ließen. Kein Mädchen war mehr ohne Begleitung zu sehen, nicht mal für wenige Schritte. Falls das Feuerwerk nicht genug Ablenkung bot, musste er sich etwas einfallen lassen, um das Mädchen in einem unbeobachteten Moment erwischen zu können. Ein Augenblick würde reichen, denn der Park bot mit seinen Sträuchern und Bäumen, die in der Dunkelheit lagen, genügend Unterschlupfmöglichkeiten. Sie nachher in das Boot zu schleppen, das sie zu seiner Kutsche und schließlich in den Tempel bringen würde, wäre dann bloß noch eine Kleinigkeit. Dazu musste er zwar quer durch den Park, aber das würde er bewältigen. Er musste sich jetzt nur noch in Geduld üben. Alles würde wie immer nach Plan laufen, denn die Macht des Leibhaftigen war groß.

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