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Europäische Ernährungskonzepte

Auch wenn die Zusammenarbeit von Schuler und Maggi nicht zum gewünschten Erfolg führte und sich Schuler in der Folge Milch und Käse als Volksnahrungsmittel zuwandte, so ist der Suppenwürfel dennoch in engem Zusammenhang mit einer wichtigen Reformbewegung zu sehen: der rationellen Volksernährung. Deren Bestrebungen sind vor dem Hintergrund einer Verwissenschaftlichung und Normierung der Ernährungsweise der Fabrikarbeiter zu sehen, die zum einen eine Leistungssteigerung des Industriesystems zum Ziel hatten, zum anderen aber auch das Konfliktpotenzial zwischen den sozialen Klassen und Schichten unter Kontrolle zu bringen versuchten. Träger dieses «Ernährungskonzepts» waren sowohl Sozialreformer als auch die bürgerliche Frauenbewegung.33 Wie Jakob Tanner festhält, handelte es sich dabei um «einen sinnstiftenden und zugleich frustrierenden Kampf von oben gegen ‹irrationale› Verhaltensweisen und gegen das Beharrungsvermögen von Gewohnheiten von unten».34

Gerade in Zusammenhang mit dem Aspekt der Leistungssteigerung kam der Eiweisslehre des deutschen Justus von Liebig (1803 bis 1873) eine Schlüsselrolle zu. Liebigs Forschung ist es zwar zu verdanken, dass wir bis heute die Nahrungsmittelgrundstoffe in Eiweiss, Fett und Kohlenhydrate einteilen, doch führten seine Erkenntnisse in der Folge auch zu einer Überbewertung der Eiweissstoffe und liessen Fleisch in Zusammenhang mit Muskelkraft zu einem «industriellen Supernahrungsmittel» avancieren.35 Dieses liess sich jedoch nur schwer mit dem Budget einer Arbeiterfamilie in Einklang bringen. Indes zeigte der Blick auf die nördlichen Nachbarn und ins Tierreich, dass auch pflanzliche Eiweisse ihren Zweck erfüllten. Als Beispiele herangezogen wurden etwa das deutsche Kornbrot und Pumpernickel sowie die Haferdiät der Pferde und die reine Pflanzenkost der Elefanten, wie bei Tanner zu lesen ist.36 Doch mit dieser Idee mochte man sich hierzulande nicht wirklich anfreunden. Zwar gelang es dem deutschen Mediziner, Physiologen und Hygieniker Max Rubner (1854–1932) mit seiner Forschungsarbeit zu Energiehaltung und Energieverlust, auch in der Schweiz die Bedeutung der Pflanzenkost zu rehabilitieren oder zumindest aufzuwerten, doch rein pflanzlich sollte die Volksernährung dennoch nicht werden.37 Einen Kompromiss, der sich im jungen Bundesstaat zugleich nationalistisch instrumentalisieren liess, bildeten daher die scheinbar urschweizerischen Produkte Milch und Käse: Sie waren preiswerter als Fleisch und gehörten dennoch zur Gruppe der viel gelobten tierischen Proteine.38

Die Grundlage für das Gedankengut der rationellen Volksernährung bildeten die veränderten, durch die Arbeitszeiten in den Fabriken bedingten Lebensweisen und Ernährungsgewohnheiten der Arbeiterklasse. Das Konzept der rationellen Volksernährung verstand sich dabei als eine auf rationalen, wissenschaftlichen Prinzipien aufgebaute «Verbesserung» der Situation der städtischen Unterschicht, wobei eine Maximierung des Outputs (Nährwert, Energie, Leistung) bei gleichzeitiger Minimierung des Inputs (Nahrungsmittelkosten, Zeitaufwand für Zubereitung) angestrebt wurde. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass sich im Verlauf der 1880er-Jahre das Verständnis von «rationell» durchaus auch veränderte, wie Tanner aufzeigt: «Als rationell wurde nun aus dieser hauswirtschaftlichen – und damit genuin ökonomischen – Sicht nicht mehr das Nahrungsmittel bezeichnet, das am meisten Vorteile auf sich vereinigte, sondern jenes, das mit einem Minimum an Einkommen ein Optimum an Nährstoffen gewährleistete.»39

Die Funktion, die bei der rationellen Volksernährung der – notabene jungen – Ernährungswissenschaft zukam, reichte weit über ein Erklärungs- oder Aufklärungsprinzip hinaus. Es ging bei dieser autoritär geführten Kampagne mitunter darum, die «gute» Wissenschaft beziehungsweise das «gute» Wissen den «schlechten» Gewohnheiten entgegenzustellen.40 Die Unterschicht, die sich in dieser Vorstellungswelt von ihren Gewohnheiten statt vom Wissen und Verstand lenken liess, wurde auf diese Weise durch die (gebildete) Ober- und Mittelschicht «entmündigt» und bedurfte der Erziehung und Belehrung. Diese durch «Wissen» geschaffene Diskrepanz zwischen den sozialen Schichten mag so dazu beigetragen haben, dass die Akzeptanz und Reichweite der verschiedenen Reformkonzepte oftmals sehr gering war. Wie im Fol genden noch gezeigt werden soll, gelang es letztlich erst dann, das Zielpublikum zu erreichen, als man begann, das Wissen um die Ernährung und ihre Bestandteile zu «demokratisieren» und in die Schulbildung zu integrieren. Trotz all diesen Bestrebungen blieben soziale Unterschiede in der Ernährung bestehen.

Neben der rationellen Volksernährung kommt am Ende des 19. Jahrhunderts eine weitere Bewegung auf, die eine Veränderung der Ernährungs- und Lebensweise propagierte: die Lebensreformbewegung. Sie entsteht in den 1880er-Jahren und gehört im deutschsprachigen Raum zu den bekanntesten und einflussreichsten Reformbewegungen. Zu ihren prominentesten Vertretern zählt auch der Erfinder des Müeslis, Maximilian O. Bircher-Benner (1867–1939).41 Die Lebensreformbewegung war in erster Linie eine Gesundheitsbewegung, die die Reform des Lebensstils und die Rückkehr zu einer natürlichen Lebensweise propagierte. Neben körperlicher Bewegung, Kaltwasserbaden und natürlichen Therapien gehörte auch die Ernährung zu den zentralen Programmpunkten. Je nach Ausrichtung umfasste sie einen reduzierten Fleischkonsum oder sogar den Verzicht auf Fleisch sowie den Verzehr von rohem und gekochtem Gemüse und allgemeiner Pflanzenkost, wie Nüssen, Obst und Beeren.

Trotz Fleischverzicht und Rohkost ist diese Ernährungsreformbewegung nicht mit der sogenannten Rohkostbewegung und dem Vegetarismus gleichzusetzen. Die Lebensreform unterschied sich gemäss Detlef Briesen insofern vom Vegetarismus, als sie den Ernährungsstil und den Fleischverzicht als ein Element der gesundheitlichen Prävention betrachtete und weniger als eine Lebensphilosophie mit ethisch-moralischen Überlegungen. Zudem ist sie, wie angesprochen, als Reaktion auf die entstehende urbane Industriegesellschaft zu sehen, in der sich die Menschen von ihrer natürlichen Lebensweise entfremdeten.42 Obwohl die Ernährungsreformbewegung bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert entstand und bald schon zu einer Massenbewegung avancierte, erfuhr sie ihre grössten Erfolge erst, nachdem mit der Entdeckung der Vitamine um 1910 das bis dahin geltende Eiweissdogma widerlegt wurde und langsam an Bedeutung verlor.

Als Verbindung von rationeller Volksernährung und Ernährungsreformbewegung könnte die auf den bereits erwähnten deutschen Wissenschaftler Max Rubner zurückgehende gemischte Kost angesehen werden.43 Kurz vor seinem Tod (1932) veröffentlichte er eine Schrift,44 in der er zur «Rückkehr zur gemischten Kost» aufrief und sich gegen die einseitigen Lehren der unterschiedlichsten «Ernährungssekten»45 aussprach. Den Reformversuchen der «Kleiebewegung», «Proteinphobisten», Vegetarier, «Nährsalzsekten», «Fletscher-» und Rohkostbewegung wirft er vor, dass sie auf Missverständnissen oder ethischen Grundsätzen fussten, und manche gar gesundheitlichen Schaden oder wirtschaftliche Nachteile brächten. Auch bei der Vitaminlehre, die zwar noch keine Sekte hervorgebracht habe, mahnt er zur Zurückhaltung: «Im Volksglauben weiter Kreise sind die Vitamine zu Substanzen geworden, die allein über Leben und Gesundheit entscheiden.»46 Im Wesentlichen ist Rubners gemischte Kost eine auf Vernunft und Genuss basierende Symbiose aus der wissenschaftlichen Ernährungslehre und den Prinzipien verschiedener Ernährungsreformen. Bei seinen Ratschlägen und Ideen verliert insbesondere die Eiweisslehre zugunsten eines ausgewogenen Mischverhältnisses von Proteinen, Fetten, Kohlenhydraten, Vitaminen, Mineralstoffen und Ballaststoffen an Bedeutung. Er sieht die Ernährung nicht mehr bloss rationell, sondern ruft dazu auf, die Gewohnheiten dem persönlichen Geschmack und Lebensstil anzupassen: «Wozu hat uns Gott so viele gute Sachen gegeben, wenn wir uns ihrer nicht bedienen sollen?», fragt er und fügt an: «In dem ‹Klub der Allesesser› sollen solche durch die Ernährungsfanatiker Eingeschüchterte wieder den Mut finden, sich zu nehmen, was ihnen schmeckt, während gleichzeitig aufklärende Vorträge über Ernährungswissenschaft ihnen die Furcht vor den etwaigen Folgen ihrer ‹Übertretungen› nehmen sollen.»47 Das Entscheidende dabei war die «gesunde Mischung».

Die Entstehung eigenständiger Ernährungskonzepte in den USA

Der Blick über den Atlantik zeigt, dass auch hier die Forschung von Justus von Liebig zunächst auf sehr grosse Resonanz stiess. Die Ernährung der meisten Amerikaner war seit je stark auf Fleisch-, besonders auf Schweinefleischkonsum ausgerichtet. Während in Europa der Verzicht auf Fleisch aus unterschiedlichen Gründen erfolgte und etwas zugespitzt formuliert bis auf Pythagoras von Samos (570–510) zurückverfolgt werden kann,48 so galten Fleisch und besonders die guten Stücke davon in den USA als Statussymbol. Dies führte dazu, dass bis in die Unterschichten verhältnismässig viel Geld für Fleisch ausgegeben wurde. Eine Ausnahme bildeten religiöse Strömungen mit puritanisch-asketischer Lebensweise wie die Adventisten, die auf Initiative von Ellen G. White (1827–1915) jenes Kurhaus gründeten, das kurze Zeit später zu John Harvey Kelloggs (1852–1943) «Sanitarium» werde sollte.49

Liebigs Eiweisslehre war denn auch ein wichtiges Element der damals einflussreichsten amerikanischen Ernährungsreformbewegung, der «Neuen Ernährung» (New Nutrition). Sie entstand wie verschiedene andere Reformbewegungen (Hygienereform, Frauenemanzipation, Bildungsreformen, Alkoholprohibition) nach dem Sezessionskrieg, als sich die USA rapide zu industrialisieren begannen. Sie war die erste von drei Reformströmungen, die die amerikanischen Ernährungsgewohnheiten bis in die 1960er-Jahre hinein entscheidend prägten und die Grundlagen für die Entwicklung einer modernen, industrialisierten Massenkost darstellten. Die Neue Ernährung, die zwischen 1880 und 1915 anzusiedeln ist und anfänglich noch eng mit vier federführenden Persönlichkeiten und deren Überzeugung und Engagement verbunden war, bevor sie sich allmählich zu einer «amerikanischen» Lehre entwickelte, wurde mit der Entdeckung der Vitamine durch die Neuere Ernährung (1915–1930) abgelöst. Diese zeichnet sich durch eine straffe Verbindung von Nahrungsmittelindustrie, Ernährungswissenschaftlern und Werbefachleuten aus, die, unterstützt durch Medien, Schulen, Behörden und Kirchen, eine preiswerte, gesunde und standardisierte Massenernährung bezweckten. Entscheidende Triebkraft und grösster Nutzniesser war dabei die Industrie. Damit markiert die Neuere Ernährung den Beginn der modernen Massenernährung, wobei sie sich – wie der Name schon andeutet – direkt aus der Neuen Ernährung heraus entwickelte. Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und im Zusammenhang mit der Grossen Depression entstand daraus schliesslich die moderne Ernährung (1930–1960), die die Massenproduktion und den Massenkonsum mit einer verwissenschaftlichten Ernährungs- und Präventionslehre verknüpfte und unter anderem ein flächendeckendes Diätfieber auslöste. In dieser Phase bildete sich auch jene Esskultur heraus, die sich durch Standardisierung und Vereinheitlichung auszeichnete und sich in Convenience food und Ready to eat meals niederschlug.50

Briesen zeigt anhand dieser drei Reformbewegungen auf, wie aus den ursprünglich europäischen Ernährungslehren und -paradigmen die modernen amerikanischen Essgewohnheiten entstanden und am Ende ihren Weg (zurück) nach Europa und danach in die ganze Welt fanden.51 Der Autor geht dabei von der These aus, dass sich nach 1900 «der Schwerpunkt des Wandels, welcher die europäische Esskultur betraf, zunehmend in die USA [verlagerte]».52 Die Gründe dafür sieht er in der Bedeutungszunahme der amerikanischen Wissenschaft und Forschung gegenüber der europäischen, in der Entstehung eigenständiger Reformbewegungen in den USA und schliesslich – ganz zentral – in den rapiden Veränderungen der Alltagskost durch die Industrialisierung in den USA. Im Zusammenspiel dieser drei Entwicklungen sei dann eben jene Ernährungsweise entstanden, die nach dem Zweiten Weltkrieg auch als «internationaler Ernährungsstil» bezeichnet worden sei.53 Kaum Eingang findet bei Briesen dagegen die amerikanische Ausprägung der Lebensreform, die in John Harvey Kellogg ihren prominentesten Vertreter findet. Das mag vor allem daran liegen, dass sich der Vegetarier Kellogg ausserhalb beziehungsweise am Rand der von Briesen diskutierten Gesundheits- und Reformströmungen bewegt. Während sich in Europa die Lebensreform schnell zu einer Massenbewegung entwickelte, erreichte die Lebensreform in den USA im Rahmen der Abstinenz-, Vegetarismus- und Naturheilkundebewegung zwar beachtliche Verbreitung, doch nicht im gleichen Ausmass wie im deutschsprachigen Raum. Dennoch bleibt unbestritten, welch entscheidende Rolle die von den Gebrüdern Kellogg erfundenen Cornflakes bei der Entstehung der modernen amerikanischen Essgewohnheiten und überhaupt bei der Herausbildung der Nahrungsmittelindustrie gespielt hatten. Es ist daher unverzichtbar, zum Schluss dieses Kapitels wenigstens ansatzweise auf die Erfindung von Cornflakes und ihren Wandel von der Diätspeise zum modernen Frühstück in Form eines industriell produzierten Convenience food einzugehen.

Vom Eiweissdogma zur «Vitamania»

Während also in Europa und besonders im deutschsprachigen Raum die Lebensreformbewegung ihren Anlauf nahm, entstand in den USA eine Ernährungsreformbewegung, die auf der Liebig’schen Eiweisslehre basierte und ähnlich wie die rationelle Volksernährung das Ziel verfolgte, die Ernährung der Bevölkerung zu verbessern. Überhaupt weist die Neue Ernährung eine grosse Ähnlichkeit mit der rationellen Volksernährung auf. Beide basierten auf einem rationellen, ökonomischen Grundsatz, nach dem mit möglichst kleinem (finanziellem) Aufwand möglichst viel (an Nährstoffen) herausgeholt werden soll, wobei in beiden Fällen ein «Top-Down-Prinzip» verfolgt wurde.54

Die Neue Ernährung entstand nach dem Sezessionskrieg, als die Industriestädte im Nordosten des Landes eine enorme Einwanderung – sowohl aus den südlichen Bundesstaaten als auch aus (Süd-)Europa – erfuhren. Ursprünglich war die Zielgruppe der Neuen Ernährung denn auch die Unterschicht in den Städten. Die Begründer der Neuen Ernährung waren Eduard Atkinson (1827–1905), Wilbur O. Atwater (1844–1907), Mary Hinman Abel (1850–1938) und Ellen S. Richards (1842–1911). Eduard Atkinson war ein typischer Selfmade-Geschäftsmann aus Boston und Mitglied der Demokratischen Partei. Er war davon überzeugt, dass man die Lage der Arbeiter nicht durch Erhöhung der Löhne, sondern durch eine gesunde und preiswerte Ernährung verbessern konnte. Aus diesem Grund nahm er Kontakt auf mit Wilbur Atwater, einem Chemiker der Wesleyan University in Connecticut, der zudem im Beirat des Massachusetts Institute of Technology (MIT) sass und nachgewiesen hatte, dass die Arbeiter viel mehr für ihre Nahrung ausgaben, als tatsächlich notwendig war. Mary Hinman Abel machte in einem Aufsatzwettbewerb auf sich aufmerksam, indem sie, basierend auf den neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Nahrungsbestandteile, forderte, dass sich die amerikanischen Hausfrauen ein Vorbild an den deutschen nehmen sollten, die statt teurem Fleisch preisgünstige Bohnen und billiges Fleisch verwendeten. Ellen Richards ihrerseits war eine bekannte Chemikerin und als erste Frau ans MIT berufen worden. Auch sie war davon überzeugt, dass man durch die Vermittlung der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Unterschicht Alternativen für gesundes, preiswertes und schmackhaftes Essen aufzeigen musste. Sie gehörte der Jury an, die Abel für ihren Aufsatz mit dem Lomb-Preis auszeichnete. Zwischen den beiden Frauen entstand eine jahrelange, intensive Zusammenarbeit, die durch Richards’ Beziehungen zu Atwater über das MIT zur Kooperation mit den beiden Männern führte.55 Bei ihren Überlegungen, die zur Neuen Ernährung führten, gingen sie von zwei Prämissen aus: 1. die amerikanische Unterschicht gibt rund die Hälfte ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus; 2. dieser Anteil ist deutlich höher, als es für eine ordentliche Ernährung nötig wäre. Dies wollten die vier Begründer ändern, und sie entwickelten eine Ernährungslehre, die sich stark an einem europäisch-deutschen Vorbild orientierte: Atwater, der mit den Arbeiten der deutschen Forscher rund um Liebig vertraut war, brachte die Vorstellung einer rationellen und auf die menschliche Physiologie ausgerichteten Ernährung ein, und Abel, die mit ihrem Mann, einem Pharmakologen, fünf Jahre in Deutschland und Österreich gelebt hatte, kannte die deutsche Küche und war überzeugt, dass sich die amerikanischen Hausfrauen ein Beispiel an ihr nehmen sollten. Zudem schienen ihr die deutschen «Volksküchen» nach Graf Rumford mit ihren preiswerten und nahrhaften Gerichten eine ideale Institution, um die Amerikaner mit der neuen Ernährungsweise bekannt zu machen.

Eine zentrale Stellung kam in Zusammenhang mit der sogenannten New England Kitchen dem von Atkinson im späten 19. Jahrhundert entwickelten Aladdin Oven zu. Weil sich die sparsame «Kochkiste» mit Bunsenbrenner-Prinzip jedoch nur langsam erhitzen liess, war ihre Verwendung eingeschränkt; doch sie eignete sich nahezu perfekt für die Zubereitung von Suppen und Eintöpfen. Gerichte also, die nicht nur typisch deutsch waren, sondern sich auch wunderbar mit Liebigs Vorschlag, statt teurem Fleisch billigeres und dafür grössere Stücke zu verwenden, vereinten. Allerdings fanden die Amerikaner wenig Gefallen an diesen ungewohnten Eintopfspeisen. Es habe sich bald gezeigt, dass diese unter wissenschaftlichen Aspekten und als Billigkost konzipierte Ernährung am Geschmack der Massen vorbeigezielt habe, fasst Briesen zusammen.56 Mehr noch: Statt der Unterschicht, die eine dringende Verbesserung ihrer Ernährung benötigte, begann sich die Mittelschicht für die Neue Ernährung zu interessieren. Deshalb setzte die Neue Ernährung von nun an auf die Mittelschicht, der sie gleichzeitig eine Vorbildrolle für die Unterschicht zuschrieb.

Entscheidend bei der Verbreitung der Neuen Ernährung war, dass es den Vertretern gelang, ihr Konzept im Rahmen der Hauswirtschaftslehre in die Bildung der Amerikanerinnen zu integrieren. Mit der Gründung der American Home Economics Association schufen Abel und Richards eine Institution, mit deren Hilfe das wissenschaftlich untermauerte Ernährungskonzept systematisch in die College-Ausbildung eingebunden werden konnte. Auch im Schulunterricht sowie in Koch- und Hausfrauenkursen fasste die Neue Ernährung Fuss, sodass noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zahlreiche junge Frauen die chemischen Bestandteile der Nahrungsmittel kannten und ein fundiertes Wissen über Fette, Proteine, Kohlenhydrate und andere Bestandteile der Ernährung hatten, das sie für eine bewusste Ernährung einsetzen konnten. Die Idee, die Volksernährung über staatliche Kanäle wie Schulen und Hauswirtschaftsunterricht auf wissenschaftlicher Basis zu beeinflussen, war natürlich nichts Amerikanisches. Ähnliche Bestrebungen sind auch bei der bereits diskutierten rationellen Volksernährung zu finden. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) hatte hierfür eigens eine Kommission ins Leben gerufen, die Spezialkommission für Förderung von Koch- und Haushaltungskursen. Diese rief insbesondere dazu auf, die Arbeiterfrauen hinsichtlich einer preisgünstigen, aber dennoch guten und rationellen Ernährung auszubilden.57 Wie Tanner aufzeigt, kamen auch aus politischen Kreisen ähnliche Forderungen. Der Zürcher Nationalrat Johann Jakob Schäppi forderte etwa neben einem praktischen auch einen wissenschaftlich-theoretischen Haushalt- und Kochunterricht für die Frauen, damit diese lernten, wie sich der Kostenwert zum Nährwert der Nahrung verhalte und wie viel Nährstoffe der menschliche Körper benötige.58

In Zusammenhang mit der Neuen Ernährung entwickelte sich in den USA aber auch zum ersten Mal eine eigenständige, von Europa unabhängige Ernährungsforschung. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang das unter der Leitung von Atwater entwickelte Respirationskalorimeter, das im Bereich der Kalorienverbrauchsmessung einen grossen Fortschritt bedeutete. Mit diesem Gerät konnte aufgrund von Sauerstoffverbrauch und Kohlenstoffdioxidabgabewerten genau ermittelt werden, wie viel Energie die Versuchspersonen und -tiere aufnahmen und verbrauchten. Die Forschergruppe um Atwater untersuchte mit dem Respirationskalorimeter in über 300 Studien die Essgewohnheiten der unterschiedlichsten sozialen und ethnischen Gruppen im In- und Ausland und definierte hieraus gruppentypische Ernährungsmuster. Die aus den Untersuchungen gewonnen Erkenntnisse flossen wiederum in die Hauswirtschaftslehre ein.

Aus der Neuen Ernährung entwickelte sich in den darauffolgenden Jahrzehnten in den USA eine moderne, verwissenschaftlichte Massenkost, die kommerzialisiert und industrialisiert war, die aber auch den geltenden wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechend die Anforderungen an eine gesunde, effiziente, preisgünstige und hygienische Ernährungsweise erfüllte. Beeinflusst durch die Neue Ernährung, reduzierte sich damit die amerikanische Alltagskost der Mittelschicht nach 1900 auf das nach «wissenschaftlichen Kriterien Notwendige».59

In den Jahrzehnten nach 1900 erfuhr die Neue Ernährung eine gewichtige Wende. Die bis anhin zentrale Eiweisslehre von Justus von Liebig geriet ins Wanken, beziehungsweise sie verlor an Bedeutung. Entscheidende Triebkraft für diesen Paradigmenwechsel war in den USA zum einen Horace Fletcher (1849–1919), der seiner Kautheorie wegen auch den Übernamen The Great Masticator trug. Seine Theorie des «Filterorgans» in der Mundhöhle ist zwar zur Sparte der Pseudowissenschaften zu zählen, doch die daraus resultierende Empfehlung, Nahrungsmittel so lange zu kauen, bis sie geschmacklos sind, hatte eine wichtige Nebenwirkung: die Reduktion der Nahrungsmenge. Zusammen mit Russel H. Chittenden (1856–1943), einem Physiologen der Yale University, setzte sich Fletcher für kleinere Nahrungsmengen sowie für die Reduktion von tierischen Proteinen und Fetten zur Gesundheitsförderung ein. Die beiden hatten erkannt, dass nicht nur die Mangelernährung im Sinn von Unterernährung, sondern auch ein Übermass an Nahrung ungesund sein kann. Im deutschen Sprachraum nannte man Fletchers Kautheorie auch «Fletschern», von Fletcherizing. Grosse Bedeutung erlangte sie allerdings nicht.60

Zum anderen wurden mit der Entdeckung der Vitamine sowie etwas später der Spurenelemente und Mineralien neue wichtige Bestandteile der Nahrung bekannt, die das Verständnis für eine ausgewogene Ernährung noch einmal grundlegend veränderten und dem Begriff «Mangel» eine ganz neue Dimension verliehen. «Mangel» bedeute nun nicht mehr nur «zu wenig», «Mangel» meinte nun das Fehlen bestimmter Substanzen. Die Vitaminforschung hatte gezeigt, dass auch der Mangel an bestimmten Substanzen eine Ursache für Krankheit sein konnte: Vitamin-A-Mangel wurde als Ursache für Sehschwäche erkannt, Vitamin-B-Mangel für die Krankheit Beriberi, fehlendes Vitamin C für Skorbut, zu wenig Vitamin D für Rachitis.61 Als ab den 1930er-Jahren die künstlich hergestellten Vitamine schliesslich erschwinglich wurden, resultierte daraus eine richtige Vitamin-Manie oder «Vitamania».62 Mit der bewussten Einnahme von Vitaminen wollte die amerikanische Mittel- und Oberschicht nicht nur ihre Gesundheit verbessern, sondern auch Krankheiten vorbeugen. Damit verschoben sich in der Ernährungsdebatte die Prinzipien in zweierlei Hinsicht von Wirtschaftlichkeit zu Gesundheit: zuerst, indem erkannt wurde, dass sich auch ein Übermass negativ auf die Gesundheit auswirken kann, und anschliessend bei einer Neudefinition von «Mangel-Ernährung», bei der nicht mehr das Zuwenig an sich, sondern mangelnde Ausgewogenheit eine Rolle spielt. Beide Erkenntnisse gingen mit einem Bedeutungsverlust des Eiweissdogmas einher und markieren so den Übergang von der Neuen zur Neueren Ernährung.

Bevor das Konzept der Neuen Ernährung jedoch seine Bedeutung ganz verlor, verlieh ihm der Ausbruch des Ersten Weltkriegs nochmals Aufwind. Grund dafür war erstens die Gründung der USFA, der US Food Administration, im Jahr 1917, mit der die Lehre der Neuen Ernährung ab Kriegseintritt staatlich gefördert wurde. Ziel war, die US-Bevölkerung sowohl zu einer kriegswirtschaftlich relevanten als auch zu einer gesunden Ernährung anzuhalten. Allerdings muss hier festgehalten werden, dass die USA nie ernsthaft Rationalisierungsmassnahmen umsetzen mussten, wie dies in Europa der Fall war. Die Bevölkerung war lediglich zur freiwilligen Einschränkung bei Weissmehl, Fleisch, Zucker und Butter aufgerufen.63

Der zweite Grund waren zwei Prämissen der Neuen Ernährung, die zur selben Zeit durch neue Forschungsarbeiten Aufwind bekamen. Die erste der beiden Prämissen behauptete, dass die Mehrheit der Arbeiterfamilien unterernährt sei. Die Behauptung beruhte auf den Berechnungen von Frank Underhill, einem Assistenzprofessor in Chittendens Labor, die auf den bereits überholten und viel zu hohen Standards von Atwater beruhten. Diese Feststellung, die bald auf die gesamte Bevölkerung übertragen wurde, löste zusammen mit einer kurzzeitigen Verknappung der Nahrungsmittelversorgung zu Beginn des Ersten Weltkriegs eine breite Angst vor Fehl- und Unterernährung aus und leitete in der Zwischenkriegszeit zur erwähnten Vitamania über. Die zweite Überzeugung der Neuen Ernährung, dass es bei einer gesunden Ernährung nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität des Essens ankomme, endete im Argument, dass die Fehl- und Unterernährung nicht primär auf die tiefen Löhne zurückzuführen sei, sondern auf mangelndes Ernährungswissen. Diese vor allem von bürgerlichen Kreisen vertretene Theorie fand nun zunehmend auch bei den Sozialarbeitern Anerkennung und führte zum eingangs erwähnten Begriffswechsel von under-fed zu malnourished. Gleichzeitig rückte in diesem Zusammenhang die Schulspeisung ins Zentrum der Bemühungen. Nach den Prinzipien der Neuen Ernährung sah man in ihr eine Chance, Gegensteuer zu den Auswirkungen der Mangelkost, die die Kinder zu Hause von ihren unwissenden Müttern erhielten, zu geben.64

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