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7. Kapitel

Überlingen, Bodensee, 20. Januar 1923

Die Wellen des Franzosenhasses schlugen hoch, nicht nur im Ruhrgebiet. Die Flaggen standen im ganzen Reich auf Halbmast, der Protest war lang schon zu einem nationalen Anliegen geworden.

Am 13. Januar hatte die Reichsregierung im Reichstag den passiven Widerstand verkündet. Alle Reparationsleistungen an Frankreich und Belgien wurden eingestellt, und die deutschen Behörden und Zechenbesitzer erhielten strikte Anweisung, den Besatzungsmächten jegliche Zusammenarbeit und Unterstützung zu verweigern. Die Folge: Die komplette Industrie lag brach. Wieder und wieder kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Franzosen und Deutschen. »Gestern sollen die Franzosen auch in Bochum eingerückt sein. Aber die haben’s ihnen gezeigt!«, verkündete Elsa Kleinschmitt beim wöchentlichen Nähkränzchen im Alten Schulhaus, während sie mit der ihr eigenen Vehemenz auf das zu bestickende Deckchen einstach, das auf ihren Knien lag. »Das haben die sich nicht gefallen lassen, die Bochumer. Sie haben gesungen: Siegreich wollen wir Frankreich schlagen. Jawohl!« Zufrieden biss sie ein Stück Faden ab, eine Geste, mit der sie das Gesagte zu bekräftigen pflegte. Doch es war weniger diese altbekannte Geste als vielmehr Elsas Aussage, die Johanna reizte.

»Ich finde dieses Siegeslied viel unbedeutender als die Tatsache, dass ein 17-jähriger Schüler ums Leben kam, als die Franzosen in die Menge schossen«, wendete sie ein.

»Ja«, ließ sich Johannas Mutter Helene vernehmen und fügte mit einem spitzen Blick auf ihre Schwester Sophie betont laut hinzu: »Und von Luise höre ich, dass sie in Essen einer jungen Frau die Haare abgeschnitten haben. Sie ist selbst schuld, mit zwei Franzosen soll sie im Kino gesehen worden sein.«

Sophie warf ihr einen bösen Blick zu, pfefferte ihr Nähzeug in den Korb und verließ das Zimmer. »Also Mutter, wirklich«, sagte Johanna gereizt. »Kaum bist du mal zu Besuch, machst du Ärger. Musste das sein?« Sie legte ihr Nähzeug ebenfalls in den Korb und folgte ihrer Tante.

Elsa hatte die Auseinandersetzung mit großem Interesse verfolgt. »Was war denn das?«, fragte sie voll lüsterner Neugierde.

Helene seufzte, als sie die Nadel in den brüchigen Stoff steckte. Sie genoss es, die Wissende zu sein, diejenige, die Neugier befriedigen durfte. Sie hielt keine Stickerei in der Hand, sondern änderte alte Kleidungsstücke. Daraus ein Kleid nach der neuesten Mode zu machen, war schier unmöglich. Man trug jetzt zweckmäßige Kleidung aus robusten und haltbaren Stoffen. Der Krieg hatte seinen Tribut gefordert, die Reparationszahlungen ließen, auch wenn sie jetzt auf Anweisung der Regierung eingestellt waren, nicht viel Raum für feines Material. Aber Helene dachte an die Kleider, die in ihren Modezeitschriften abgebildet waren, die die Frauen wenigstens träumen ließen, wenn die Realität sie ihnen schon aberkannte. Wunderbar bestickte Seidenroben in den herrlichsten Farben. Diamantcolliers und – wie mondän, wie verwerflich – tiefrot geschminkte Lippen. Dieserart würde sich Helene freilich nie herausputzen. Sie wusste schließlich, was sich gehörte.

Helene verachtete diese neue Frau – sie fand sie ungehörig. Aber gleichzeitig und ganz heimlich träumte sie davon, auch einmal so verrucht zu sein. Und vor allem: sich so etwas leisten zu können, so wie früher. Bevor ihnen der Krieg alles genommen hatte. Bevor diese schreckliche Inflation eingesetzt und das Wenige, was ihnen noch geblieben war, auch noch zerstört hatte. Justus, ihr Gatte, verdiente zwar im Vergleich zu anderen Männern nicht schlecht mit seiner Textilfabrik – und vor allem war er nicht arbeitslos wie so viele andere –, aber zu großem Wohlstand reichte es keineswegs. Im Gegenteil. Wenn er Geld nach Hause brachte, musste das Mädchen sofort einkaufen gehen, denn wenig später war die Mark schon wieder so weit entwertet, dass sie nichts mehr dafür bekamen. Und davon, so wie früher, in seiner Firma schöne Stoffe und Kleider zu produzieren, war Justus auch weit entfernt.

»Ich muss schon sagen, meine Liebe«, riss Elsa Kleinschmitt sie aus ihren Träumereien, »dass ich es sehr genieße, wieder einmal mit Ihnen beisammensitzen zu können. Es ist fast wie damals im Krieg!« Sie schnaubte leicht und wagte dann einen neuen Vorstoß: »Wenn ich auch anmerken muss, dass ich das abrupte Verschwinden Ihrer Tochter und Ihrer Schwester äußerst befremdlich und unhöflich finde.«

Helene errötete leicht, die offen bekundete Zuneigung Elsa Kleinschmitts machte sie verlegen. Zugleich genoss sie das Spiel, das sie miteinander spielten. Sie wusste, wie sehr Elsa auf eine Erklärung brannte, und Elsa wusste wiederum, dass sie, Helene, darauf brannte, ihr alles zu erzählen. Dass man sich jedoch zuvor noch umkreisen und umschmeicheln musste, gehörte zum guten Ton. Übertrieben konzentriert wandte Helene sich der Arbeit in ihren Händen zu. »Nun ja«, begann sie schließlich. »Ich muss zugeben, dass mir das Zusammensein mit Ihnen und den anderen Damen auch sehr fehlt. Das Leben in Konstanz ist doch oft recht einsam. Und die Kriegsjahre, die wir miteinander hier in Überlingen verbracht haben, haben uns einfach aneinandergeschmiedet. Finden Sie nicht?«

Elsa Kleinschmitt legte ihre Handarbeit zur Seite und musterte Helene bedauernd über den Rand ihrer Brille hinweg. »Sie sollten öfter nach Überlingen kommen«, schlug sie vor. »Wir könnten uns regelmäßig zum Nähen treffen. Jetzt, wo wir die Franzosen im Ruhrgebiet haben, wird es wohl auf längere Sicht nichts werden mit neuen Kleidern. Das Elend wird nur noch größer, glauben Sie mir.«

»Ich weiß nicht, ob ich mich noch trauen kann, hierherzukommen«, lenkte Helene das Gespräch nun endlich geschickt auf das Thema, das sie schon die ganze Zeit über hatte anschneiden wollen. Sie musste einfach darüber sprechen.

Elsa war auch sofort hellwach: »Was meinen Sie?« Ihre Augen leuchteten sensationslüstern.

»Ich sollte ja eigentlich nicht darüber sprechen«, zierte sich Helene.

Elsa beugte sich vor. »Meine Liebe«, raunte sie. »Sie wissen, dass Sie sich mir jederzeit anvertrauen können.«

Helene seufzte. »Es wird mich erleichtern. Ich kann diese Last nicht mehr alleine tragen.« Sie legte die Hand mit einer übertriebenen Geste an ihr Herz.

Elsa zitterte vor Spannung.

»Da ist diese Sache mit meiner Schwester und diesem Franzosen.« Helene presste die Worte hervor.

Elsas Nasenflügel begannen zu beben. Sophie und ein Franzose! Das war ja die Höhe!

»Sie wollen doch nicht etwa sagen …«

Helene schluckte. Jetzt, da sie es ausgesprochen hatte, hätte sie ihre Worte am liebsten zurückgenommen. Aber nun war es zu spät. »Diese Geschichte liegt lange zurück«, sagte sie rasch. »Vor dem Krieg war Sophie doch verlobt, erinnern Sie sich?«

»Natürlich«, erwiderte Elsa, »mit dem Vater von Raphael, der dann im Krieg gefallen ist.«

»Dieser Mann«, verkündete Helene und genoss es nun doch, mit der Neuigkeit herauszurücken, »ist ein Franzose. Und soweit wir wissen, ist er im Krieg nicht gefallen, sondern er lebt.«

»Nein!«, Elsa Kleinschmitt schlug sich die Hand vor den Mund und machte große Augen. »Das ist ja unglaublich!«

»Nicht wahr?«, jammerte Helene. »Sie verstehen doch sicher, dass ich über diese Sache einfach sprechen musste. Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie sehr mich die Angelegenheit belastet hat.«

Elsa sah sie in einer Mischung aus Mitgefühl und Sensationslust an. Nicht auszudenken, wenn das herauskäme! Sie beugte sich vor und legte ihre Hand auf die der anderen. »Sie haben mein tiefstes Mitgefühl«, erklärte sie. Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Ich finde es äußerst egoistisch von Ihrer Schwester, dass sie keinerlei Rücksicht genommen hat. Sie hätte sich doch denken können, was sie ihrem Umfeld damit antut.«

»Danke«, seufzte Helene. Dann sah sie Elsa ängstlich an. »Ich kann mich doch auf Ihre Diskretion verlassen?«

»Aber meine Liebe!«, versicherte Elsa empört. »Natürlich! Sie kennen mich doch!«

Deswegen frage ich mich ja, ob es ein Fehler war, mich Ihnen anzuvertrauen, dachte Helene. Ihre Befürchtungen waren nicht ganz unberechtigt. Sie sollte noch bitter bereuen, dass sie Sophies Geheimnis ausgeplaudert hatte.

8. Kapitel

Überlingen, Bodensee, 20. Januar 1923

Johanna ging wie ein gefangener Tiger in ihrem Zimmer auf und ab, während sie sich mit der Hand unermüdlich über ihren dicken Bauch strich.

»Wenn du nur endlich geboren werden würdest«, flüsterte sie dem Kind in ihrem Leib zu. »Vielleicht wäre dann diese schreckliche Unruhe weg.« Aber sie wusste: Es lag nicht nur an ihrer Schwangerschaft, dass sie so unzufrieden war. Ich bin noch so jung, dachte sie manchmal wütend, und dennoch scheint mein Leben schon vorbei zu sein. Ich sitze als Frau Pastor hier in dieser Stadt, in der sich nie etwas ändert. Und Sebastian hat über seiner Arbeit als Pfarrer völlig vergessen, dass es mich gibt.

Beinahe freute sie sich, dass die Franzosen im Ruhrgebiet einmarschiert waren, auch wenn sie diesen Gedanken natürlich nie zugegeben hätte. Aber es bot zumindest etwas Abwechslung in der Eintönigkeit ihres Lebens.

Ein nagendes Hungergefühl riss sie aus ihren Gedanken. Sie presste die Hand auf den Bauch und dachte an das Kind. Ob es ihren Hunger spürte? Ob es darunter litt? Immer dieser Hunger! Sie war es so leid!

Wenn nur Amalia, ihre Großmutter, noch leben würde! Die hätte schon gewusst, was zu tun wäre. Amalia hatte immer einen Rat gehabt. Sie hätte notfalls die Gärten des Alten Schulhauses umgegraben und Gemüse angebaut. Sie hätte Hühner angeschafft, auch wenn diese noch so schwer zu bekommen waren, und sie hätte dafür gesorgt, dass niemand hungern musste.

Mit einem Mal schämte sich Johanna. Da klagte sie über Hunger und Langeweile und trauerte ihrer Großmutter nach, statt die Dinge selbst in die Hand zu nehmen! Sie hatte doch genau die gleichen Möglichkeiten wie Amalia! Und noch mehr, denn sie war viel jünger als ihre Großmutter es in den Kriegsjahren gewesen war.

Sie lächelte zufrieden und plötzlich voller Tatendrang. »Sobald du geboren bist«, flüsterte sie ihrem Kind zu, »werde ich mich an die Arbeit machen.«

9. Kapitel

Petrograd, Russland, 21. Januar 1923

Irina hatte den Bürgerkrieg überlebt. Äußerlich zumindest. Innerlich war sie beinah daran zerbrochen und heimatloser und haltloser als je zuvor. Sie hatte die Kriegsjahre auf dem Land verbracht, bei ihren Eltern, die Bauern waren. Und ihr Glaube an den von ihr einst so bewunderten Lenin war zutiefst erschüttert worden. Der Grund für den Umzug zu ihren Eltern waren die Hyperinflation und der damit einhergehende Hunger in der Großstadt gewesen – den Lenin zu verantworten hatte. Sein Plan war es gewesen, Geld als Zahlungsmittel quasi abzuschaffen – was jedoch nicht einfach per Dekret durchgesetzt werden konnte. Also ließ die Regierung Geld drucken, was bis zum Jahr 1922 zu einer Hyperinflation führte. Unternehmer wurden enteignet, ihr Vermögen verstaatlicht.

Es hatte lang gedauert, bis Irina begann, Lenins Methoden anzuzweifeln. Als glühende Bewunderin hinterfragte sie erst spät, ließ die Seiten, die ihr nicht gefielen, außer Acht, erhob das Positive zur Heldentat. Die Bildungspolitik zum Beispiel: Verpflichtete Lenin nicht Analphabeten, den Unterricht zu besuchen? Richtete er nicht Bibliotheken ein, um dem breiten Volk den Zugang zu Büchern zu ermöglichen? War es durch ihn nicht auch der ärmeren Bevölkerung möglich, Hochschulbildung zu erfahren? All das hob Irina hervor und wollte nicht sehen, dass Lenin den Roten Terror im Bürgerkrieg förderte und Konzentrationslager einrichten ließ. Sie wiederholte seine Worte, der Rote Terror sei nur eine Antwort auf den Weißen Terror der Gegner und der Terror sei ihnen durch die Interventionen der kapitalistischen Staaten aufgezwungen worden.

Doch irgendwann hatte Irina so sehr hungern müssen, dass sie zu ihren Eltern aufs Land floh. Und da lernte sie Lenin von einer ganz anderen Seite kennen. Plötzlich schämte sie sich vor ihren Eltern, die ihr Leben lang hart gearbeitet hatten, dafür, eine Bolschewikin zu sein. Denn die Bolschewiki verlangten von den Bauern, ihre Ernte billig an den Staat abzugeben. Irina wurde Zeugin der Wut ihrer Eltern, wurde Zeugin, als Lenins Truppen gegen den Widerstand der Bauern mit Waffengewalt vorgingen und zahlreiche Menschen starben. Sie wurde Zeugin der unendlichen Trauer in dem Dorf, in dem ihre Eltern lebten. Und sie dachte verwundert, dass das ja genau die gleiche Wut war wie die, die sich damals gegen den Zaren gerichtet hatte. Sie hatte gedacht, die Bolschewiki kämpften für Gerechtigkeit. Für Frieden, Land und Brot. Wie hatte sie sich doch getäuscht! Abend für Abend hörte sie sich die Wut ihres Vaters an, erlebte, wie er seine Anbauflächen verkleinerte, damit sie ihm weniger wegnehmen konnten. Doch die Regierung richtete Parteikomitees ein, die die Bauern zur Aussaat zwangen. Die Bauern tobten, revoltierten – und töteten ihre Peiniger. Nach dem Ende des Bürgerkriegs 1920 brach die Regierung den Widerstand: Sie erschoss die Konterrevolutionäre, rund 50.000 Bauern landeten in den Konzentrationslagern von Tambow, und die Rote Armee setzte Gasbomben ein, um die Aufständischen, die sich in den Sümpfen versteckt hielten, auszuräuchern. Irina hatte mit ihrer Mutter in diesen Sümpfen gesessen, ihren Vater hatte man schon vor langer Zeit ins Konzentrationslager verschleppt. Als die Mutter über Umwege die Nachricht erreichte, der Vater sei zu Tode gefoltert worden, starb sie wenige Monate später vor Kummer. Irina hielt ihre Hand, als sie den letzten Atemzug tat – und sie fühlte sich vollkommen leer, als sie ihrer Mutter sanft über das Gesicht strich und ihr für immer die Augen schloss. Ihre Eltern gehörten zu den unzähligen Opfern des Bürgerkrieges, die nicht erfasst wurden. Erfasst waren nur die rund 770.000 gefallenen Soldaten.

Es dauerte ein Jahr, bis Irina weinen konnte. Wie erstarrt ging sie nach Petrograd zurück, erzählte der Oberschwester in dem Krankenhaus, in dem sie vor ihrer Flucht aufs Land gearbeitet hatte, emotionslos, was geschehen war, ließ sich in ihre mitfühlende Umarmung ziehen und verharrte dort für Minuten. Danach nahm sie ihre Arbeit wieder auf.

Über zwei Jahre war das nun her, und langsam, ganz langsam regte sich in Irina wieder so etwas wie Leben. Immer öfter dachte sie an ihre deutschen Freunde. Johanna und Luise, denen sie damals im Krieg bei der Flucht aus Russland geholfen hatte. Und Karl, ebenfalls ein deutscher Flüchtling. Karl hatte sie wirklich geliebt. Sie hatte ihn verlassen, weil sie glaubte, in Russland gebraucht zu werden, ihrem Land, Lenin, etwas schuldig zu sein. Wie dumm war sie doch gewesen!

10. Kapitel

Überlingen, Bodensee, 23. Januar 1923

Sophie hatte Angst. Sie war mit Raphael alleine im Haus. Ihr Vater, der Schuldirektor, hielt sich noch in der Schule auf, Helene war wieder nach Konstanz gefahren, und Johanna und Sebastian hatten sie begleitet. Johanna wollte mit ihrer Mutter die Säuglingsausstattung ansehen, die sie nach der Geburt ihres Sohnes Robert im elterlichen Haus eingelagert hatte. Sophie nahm mit ihrem Sohn ein karges Abendmahl ein und schickte ihn dann ins Bett. Die ganze Zeit über wurde sie das Gefühl eines drohenden Unheils nicht los.

Bewegte sich dort im Garten nicht etwas? Waren da nicht Stimmen zu hören?

Sie ging unruhig im Haus auf und ab und knipste alle Lichter an, umklammerte das Notizbüchlein – in dem verzweifelten Versuch, die Angst zu vertreiben. Dann spähte sie vorsichtig durch die kleine Scheibe in der Haustür in den Garten hinaus. Unzählige Schatten schlichen dort herum, dessen war sie sich jetzt ganz sicher, und sie spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Ich stelle mich schon an wie Helene!, schalt sie sich. Was ist nur mit mir los?

Sie zwang sich, zurück ins Wohnzimmer zu gehen, und setzte sich aufs Sofa.

Als sie ein Geräusch an der Tür hörte, schreckte sie hoch. Aber es war nur ihr Sohn, der dort stand.

»Raphael, was ist los?« Sie hoffte, dass er ihre Aufregung nicht bemerken, den hysterischen Klang ihrer Stimme nicht wahrnehmen würde. »Warum bist du nicht im Bett?«

»Ich konnte nicht schlafen, Mutter«, flüsterte Raphael schüchtern und schlang seine kleinen Hände fest ineinander, als wolle er sich selbst Halt geben. »Ich habe so ein komisches Gefühl … ich … ich fürchte mich.«

Sophie holte tief Luft. Ihr Sohn spürte es also auch. Oder waren es lediglich ihre eigene Angst und Unruhe, die sich auf den Jungen übertrugen?

Sie klopfte neben sich aufs Sofa. »Du musst dich nicht fürchten, mein Schatz«, sagte sie fest. »Komm her, setz dich zu mir.«

Raphael, erleichtert, dass sie ihn nicht mit scharfen Worten wieder ins Bett geschickt hatte, ging durchs Wohnzimmer und nahm neben seiner Mutter Platz.

Sophie legte ihre Arme um ihn und zog ihn an sich. Auch ihr war wohler dabei, nicht alleine zu sein.

»Es kommt dir nur komisch vor, dass all die anderen nicht da sind«, erklärte sie. »In einem Haus, in dem sonst immer so viele Menschen sind, ist es einem nun mal unheimlich, wenn man allein ist. Vor allem nachts.«

Raphael nickte und kuschelte sich tiefer in Sophies Arme. »Jetzt habe ich schon gar keine Angst mehr, Mutter«, sagte er glücklich. »Jetzt, wo ich bei dir bin.«

Wenig später war er eingeschlafen.

Aber Sophie konnte nicht schlafen. Die Angst hatte sie nach wie vor fest im Griff und sie lauschte mit angehaltenem Atem in die Stille.

Als der Stein durch die Fensterscheibe schlug, zuckte sie erschreckt zusammen. Raphael wachte auf und fing an zu schreien. »Was ist das, Mutter?«

Aber Sophie antwortete nicht mehr. Der Stein hatte sie direkt an der Schläfe getroffen.

11. Kapitel

München, Bayern, 23. Januar 1923

Marlene fühlte sich herrlich erwachsen. Es war das erste Mal, dass sie alleine, ohne die Eltern, verreiste. Aufgeregt spähte sie aus dem Zugfenster, draußen flog die Landschaft vorbei, wenig später fuhr der Zug in den Münchner Hauptbahnhof ein, wo Lisbeth, ihre vier Jahre ältere Freundin aus Kindertagen, sie schon erwartete. Lisbeth war vergangenes Jahr mit ihren Eltern nach München gezogen und wollte nun heiraten. Marlene reiste an, um bei den Hochzeitsvorbereitungen zu helfen, am Brautkleid mitzuarbeiten, und sie war furchtbar aufgeregt.

Am Münchner Bahnsteig flog sie in Lisbeths Arme.

»Wie schön, dass du da bist, Lenchen«, sagte Lisbeth zärtlich. »Ich habe dich so vermisst. Lass dich anschauen.« Sie löste sich aus der Umarmung und schob Marlene ein Stückchen von sich weg. Musterte das seidige blonde Haar der Freundin, das ihr in weichen Wellen auf die Schultern fiel, die rosigen Wangen. »Wie hübsch und erwachsen du geworden bist«, sagte sie.

»Du aber auch.« Marlene strahlte. Wegen des Kompliments, vor Freude, die Freundin wiederzusehen, und vor lauter Aufregung. »Wie schick du bist. Eine richtige Städterin. Und nun wirst du also heiraten. Ich kann es kaum glauben.«

»Ich auch nicht!«, lachte Lisbeth und hakte sie unter. »Aber nun komm. Wir haben es nicht weit bis nach Hause. Ist das alles, was du an Gepäck dabei hast?« Sie deutete auf den kleinen Koffer, der neben Marlene auf dem Bahnsteig stand.

Die nickte verlegen. »Du weißt, wie das heutzutage ist, man hat ja nichts mehr. Und jetzt, wo die Franzosen das Ruhrgebiet besetzen …«

»Ja«, sagte Lisbeth zustimmend, »es sind harte Zeiten.« Sie kicherte: »Mein Hochzeitskleid nähen wir aus alten Gardinen.«

»Aber trägst du denn nicht das Hochzeitskleid deiner Mutter?«

Lisbeth schüttelte den Kopf. »Es ist irgendwie im Krieg verloren gegangen. Ich hätte es gern getragen.«

Sie nickte dem jungen Mann zu, der ein paar Meter abseits stand und der, obwohl er diskret zur Seite blickte, doch sehr genau wahrnahm, was die beiden jungen Damen taten und ob man ihn benötigte. Mit zwei Schritten war er bei ihnen.

»Wir können los, Franzl«, sagte Lisbeth hoheitsvoll und zog Marlene mit sich fort.

Der Bursche folgte mit den Koffern in einigen Metern Abstand.

Marlene war beeindruckt. »Ihr habt noch einen Burschen?«, staunte sie. »Wir mussten unseren schon lang entlassen. Wir haben nur noch zwei Dienstmädchen in Konstanz.«

Lisbeth zuckte die Achseln. »Vater meint immer, der Junge würde auf der Straße landen, wenn er nicht bei uns bliebe. Er ist uns so dankbar.«

Aber Marlene hörte ihr schon gar nicht mehr zu. Die Großstadt mit ihrem Charme hatte sie vollständig in ihren Bann gezogen. Staunend betrachtete sie die hohen Häuserfassaden, die breiten Straßen und die Automobile, die lärmend vorbeirasten. München kam Marlene vor wie ein riesiger Schlund – was einerseits furchtbar aufregend, andererseits aber auch ziemlich erschreckend war. Mit einem Mal fand sie es gar nicht mehr so erstrebenswert, erwachsen zu werden und alleine durch die Welt zu reisen. Marlene sehnte sich nach nichts mehr als nach der Sicherheit des heimischen Haushalts.

Lisbeth, die trotz ihrer Tendenz zur Oberflächlichkeit bemerkte, wie unwohl sich die Freundin fühlte, umfasste ihren Arm fester. »Es ist etwas beängstigend am Anfang, nicht?«, fragte sie. »Was glaubst du, wie es mir ging? Du weißt ja immerhin, dass du bald zurückkehren kannst. Als ich hier ankam, wusste ich, dass ich bleiben muss.«

»Ja«, sagte Marlene schuldbewusst. »Das ist natürlich ein viel härterer Einstieg.«

»Aber soll ich dir mal was sagen?«, lachte Lisbeth. »Man gewöhnt sich daran. Ich habe die Stadt richtig liebgewonnen. Und das nicht nur, weil ich den Mann meines Lebens hier gefunden habe.«

Ein Automobil fuhr dicht neben Marlene durch eine Pfütze und spritzte ihren Rocksaum nass. Sie schrie erschrocken auf und sprang zur Seite – aber es war zu spät. Der Rocksaum war voll braunem Wasser.

»Oh nein«, jammerte Marlene.

»Nicht schlimm«, versicherte Lisbeth. »Das kriegen wir wieder raus. Und ich verspreche dir: Auch du wirst München lieben.«

Marlene konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Freundin recht behalten sollte. Aber in diesen ersten Minuten nach ihrer Ankunft konnte sie auch noch nicht ahnen, wem sie in München begegnen würde, in welch dunkle Welten sie Einblick bekäme – und dass sie die unglaublichen Ereignisse vom 8. und 9. November hautnah miterleben sollte. An diesem Januartag wusste Marlene Gerstett aus Konstanz ja nicht einmal, dass es einen Mann gab, der Adolf Hitler hieß.

961,67 ₽
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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
402 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783839246641
Издатель:
Правообладатель:
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