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20. Kapitel

Überlingen, Bodensee, 5. Februar 1923

Johanna hämmerte an Raphaels Zimmertüre. »Raphael, bitte, mach doch die Tür auf!«

Der Junge antwortete nicht und es war nur lautes und verzweifeltes Schluchzen zu hören.

»Bitte, Raphael, lass uns darüber reden.«

Oh nein, dachte Johanna, als wieder keine Antwort kam, was soll ich nur tun?

»Raphael, ich möchte dir doch helfen!«, rief sie flehend.

Das Bett knarrte, und Johanna hörte, wie Raphael durch das Zimmer zur Tür ging. Der Schlüssel wurde herumgedreht und dann stand der Junge vor ihr.

Es schnitt Johanna ins Herz, als sie sein verzweifeltes kleines Gesicht sah. »Darf ich hereinkommen?«, fragte sie vorsichtig.

Raphael nickte schniefend und trat einen Schritt zurück.

Johanna ging ins Zimmer und ließ sich auf seinem zerwühlten Bett nieder.

»Komm«, sagte sie, »setz dich neben mich.«

Raphael folgte der Aufforderung. Er saß sehr aufrecht, fast steif, und war sichtlich um Fassung bemüht.

»Möchtest du mir davon erzählen?« Johanna achtete darauf, den Jungen nicht anzusehen oder zu berühren.

Raphael schwieg und starrte auf seine Fußspitzen. »Warum haben sie das getan?«, fragte er schließlich so leise, dass Johanna Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Ich gehöre doch dazu. Warum sind sie über mich hergefallen? Sie sind böse. Kennen sie denn die Franzosen überhaupt, dass sie so über sie schimpfen?«

In Johannas Kopf arbeitete es fieberhaft. Wie sollte sie es Raphael nur beibringen? Sie musste es ihm so sagen, dass er nicht das Gefühl bekam, es sei eine Schmach.

»Menschen, die so etwas tun, sind dumm«, sagte sie schließlich hilflos. »Die Franzosen sind nicht schlecht.«

»Das weiß ich«, sagte Raphael. »Aber in der Schule schimpfen alle auf sie.«

»Im Moment verstehen sich die Franzosen und die Deutschen nun mal nicht so gut«, erklärte Johanna ruhig. »Aber das macht weder sie noch uns zu schlechteren Menschen. Ich streite mich auch manchmal mit jemandem, ohne dass ich dadurch gleich zu einem Bösewicht werde.«

Raphael schwieg nachdenklich. »Stimmt«, sagte er dann. »Gestern habe ich mich auch mit Susanne gezankt. Aber Susanne ist nicht böse. Und ich auch nicht, oder?«

Johanna schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Nein, ganz bestimmt nicht.« Doch gleich darauf wurde sie wieder ernst und wartete auf die nächste Frage, die unvermeidlich kommen musste.

Da fragte Raphael auch schon. »Aber ich verstehe trotzdem nicht, warum sie mich ›Franzosenschwein‹ genannt haben. Irgendwie ist das seltsam. Erst die Einbrecher und jetzt das.«

Johanna sah ihn erschrocken an. Ahnte der Junge, dass mehr hinter dem Einbruch steckte?

»Ich meine, ich weiß, dass die Jungs blöd waren, als sie auf die Franzosen schimpften. Aber warum haben sie mich beschimpft?«

Johanna schluckte und holte dann tief Luft. »Es gibt da etwas, was du wissen solltest, Raphael«, begann sie vorsichtig.

*

Sophie lag hemmungslos schluchzend in ihrem Bett. Immer wieder murmelte sie zwischen den Schluchzern die Frage, die sie sich in den letzten Tagen so oft gestellt hatte. »Was soll ich nur tun? Oh Gott, was soll ich nur tun?«

»Ich glaube, das weißt du sehr gut selbst, Sophie«, sagte ihr Vater, der auf einem Stuhl neben dem Bett saß, ernst. »Du hast nicht viele Möglichkeiten.«

»Du meinst, ich soll Überlingen mit Raphael verlassen?«

»Ja«, erwiderte Friedrich schlicht. »Du bist für den Jungen verantwortlich.«

»Es ist ihm ja nichts geschehen«, murmelte Sophie in ihr Kissen.

»Wie bitte?«, fragte Friedrich mit unterdrückter Wut in der Stimme. Er sprang auf und ging aufgebracht im Zimmer auf und ab. »Was ist denn nur los mit dir? Das nennst du ›nichts geschehen‹? Wann wäre denn in deinen Augen ›etwas geschehen‹? Wenn er zusammengeschlagen im Krankenhaus läge?«

»Bitte, Vater«, schluchzte Sophie. »Du hast ja recht … Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.«

»Sophie«, sagte Friedrich eindringlich. »Du hast nicht nur die Verantwortung für Raphaels körperliches Wohlergehen, sondern auch für sein seelisches. Selbst wenn sie ihn nicht zusammenschlagen, so sind diese Erlebnisse für ihn schrecklich und werden ihn prägen. In diesen Minuten sagt Johanna ihm, dass sein Vater Franzose ist. Glaubst du denn, es ist einfach für ihn, zu erfahren, dass sie ihn aufgrund dessen so behandeln? Es könnte seine ganze Entwicklung beeinträchtigen.«

»Vater«, flehte Sophie. »Hör bitte auf. Ich weiß ja, ich weiß.«

»Was wirst du also tun?«, fragte Friedrich streng.

»Überlingen verlassen.« Sie sagte ihm nicht, dass sie keineswegs nach Konstanz gehen wollte, wie ihr Vater dachte, sondern ins Ruhrgebiet zu Luise.

Friedrich atmete tief durch. »Gut«, sagte er, ruhiger geworden.

»Ach, Vater, was meinst du, wie wird er es aufnehmen?«, fragte Sophie bang.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte der Schuldirektor auf seine bedächtige Art. »Aber du kannst sicher sein, dass Johanna ihr Möglichstes tun wird, um es ihm so zu sagen, dass er es als das auffasst, was es ist: nicht als Schande, sondern als ganz normale Tatsache. Die Zeit, in der wir leben, ist verrückt, nicht die Sache an sich.«

»Aber es ist so viel geschehen!«

»Es bleibt dir nichts anderes übrig, als abzuwarten.«

Sophie nickte. »Ich weiß, aber das ist gar nicht so einfach.«

21. Kapitel

München, Bayern, 5. Februar 1923

Die Tage vor Lisbeths Hochzeit waren angefüllt mit aufgeregtem Treiben. Und Marlene war mittendrin. Es musste letzte Hand an die Aussteuer gelegt werden – Lisbeths Mutter bestand darauf, jede einzelne Serviette mit den Initialen ihrer Tochter zu versehen. LB. Lisbeth Böttcher. Lisbeth selbst interessierte sich nur für ihr Brautkleid, drehte sich, wenn die Schneiderin kam, wie ein Pfau hin und her und fragte Marlene ein ums andere Mal, ob sie glaube, dass ihr Bräutigam Gefallen an ihr in dem Kleid finden würde, was Marlene jedes Mal mit einem halbherzigen »Aber natürlich, meine Liebe« bestätigte, um dann wieder in ihre Träume zu versinken. Träume von Andreas. Lisbeth in ihrer Aufregung merkte nicht, wie es um die Freundin stand. Sie bemerkte nicht einmal, dass Marlene verzweifelt versuchte herauszufinden, ob er auch zur Hochzeit kommen würde. Mit Fragen, die zu beiläufig gestellt waren, als dass sie wirklich harmlos hätten sein können. Und dann – Lisbeth saß gerade vor ihrem Schminktisch und bürstete ihre goldenen Haare wie jeden Abend mit 100 Strichen, weil ihre Mutter ihr in ihrer Kindheit beigebracht hatte, dass sie dann einen betörenden Glanz entfalteten – sagte sie wie nebenbei den ersehnten Satz: »Ach, übrigens, Andreas wird auch da sein.« Marlene hätte beinahe die Stickerei fallen lassen. Lisbeths Mutter hatte sie ihr aufgedrängt, man werde sonst vor der Hochzeit nicht fertig.

»Ich denke, es ist dir recht, wenn wir ihn neben dich setzen«, überlegte Lisbeth und sah dabei nicht Marlene durch den Spiegel an, sondern sich selbst verzückt in die erwartungsfroh strahlenden Augen. So übersah sie auch, dass Marlenes Blick bei ihren Worten freudig erregt zu leuchten begann. »Er ist zwar schon etwas alt, aber immerhin seid ihr verwandt. Oder, Lenchen, das ist dir doch recht?« Erst jetzt ließ sie die Bürste sinken und wandte sich um, um Marlene anzusehen.

»Ja«, erwiderte die, hastig lächelnd. »Ja, natürlich ist es mir recht.«

Sie sahen sich in der Kirche wieder. Zwar saßen sie nicht nebeneinander, er saß auf der einen Seite der Kirchenbänke und sie auf der anderen, aber immer wieder kreuzten sich ihre Blicke, immer wieder sah Marlene dann als Erste weg, und er, er lächelte wissend. Und zufrieden. Nach der Kirche drängte er sich in der Reihe der Gratulanten neben sie. »Ich höre, du bist meine Tischdame, Marlene«, sagte er und berührte wie zufällig ihre Hand. Ihr Herz raste. »Ich freue mich wirklich sehr«, raunte er. »Wie ich neulich schon sagte: Du bist zu einer richtigen Schönheit herangewachsen.«

Die Worte, die sie hätte antworten mögen, lagen quer in ihrem Hals, sie brachte nur ein Krächzen hervor. So lächelte sie lediglich und nickte und war ungemein dankbar, als Nächste mit dem Gratulieren dran zu sein, sodass er nicht mehr auf eine Antwort warten konnte. Doch während sie ihrer Freundin und deren frischgebackenem Ehegatten gratulierte, war sie mit all ihren Sinnen bei ihm.

22. Kapitel

Überlingen, Bodensee, 5. Februar 1923

Sie suchten Raphael überall. Im Stall, an seinen Lieblingsplätzen im Garten und natürlich auch im Haus. Er war nicht zu finden.

»Warum habe ich ihn nur alleine gelassen?«, jammerte Johanna. »Ich habe doch gemerkt, dass er völlig verstört war. Ich hätte bei ihm bleiben müssen.«

»Er wollte alleine sein«, sagte Sebastian beruhigend. »Und er ist alt genug, dass man diesen Wunsch respektieren muss. Das war schon ganz richtig, Johanna.«

»Aber er ist nicht alt genug, um um diese Zeit draußen herumzulaufen«, sagte Johanna nervös. »Vor allem nicht nach all dem, was geschehen ist. Fällt dir noch ein Ort ein, wo er sein könnte?«

Sebastian dachte angestrengt nach. »Den Schuppen durchsucht Sophie, obwohl sie eigentlich noch im Bett bleiben sollte. Aber ich glaube nicht, dass er dort ist.«

Plötzlich hatte Johanna einen Geistesblitz. »Ich weiß, wo er ist!«, stieß sie hervor und packte Sebastian am Arm.

Sebastian sah sie fragend an. »Wo?«

»Er hat mir neulich eine Stelle am See gezeigt, in Richtung Goldbach. Dort sitzt er gerne.«

»Das wäre eine Möglichkeit!«, rief Sebastian erleichtert. »Lass uns gleich nachsehen.« Er ließ Johanna nicht los, als er durch den dunklen Garten rannte. »Sebastian«, keuchte Johanna, »einer von uns muss bei Susanne und Robert bleiben. Großvater ist doch in der Schule, um mit Raphaels Lehrer zu sprechen.«

»Du hast recht.« Sebastian strich sich das dunkle Haar aus der Stirn. »Aber da ich Raphaels Lieblingsstelle nicht kenne und du unmöglich allein durch die Nacht laufen kannst …«

Aber Johanna hörte ihn schon nicht mehr. Ehe ihr Gatte sie aufhalten konnte, war sie zum Gartentor hinaus.

Sebastian blickte ihr hilflos hinterher und überlegte, ob er ihr nachlaufen sollte. Dann aber hörte er im Haus Susanne weinen und ging hinein.

Johanna ist schon mit ganz anderen Situationen fertig geworden, sagte er sich, sie wird auch diese meistern.

Im Haus traf er auf eine völlig hysterische Sophie, die damit beschäftigt war, die einzelnen Schränke nach ihrem Sohn zu durchsuchen.

»Das hat doch keinen Sinn, Sophie«, erklärte Sebastian. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Raphael seit Stunden in einem der Schränke hockt.«

»Ich kann einfach nicht untätig herumsitzen«, schluchzte Sophie. »Und die wahrscheinlichen Möglichkeiten habe ich schon alle durch.«

»Johanna ist zum See runter, um ihn an seinem Lieblingsplatz zu suchen.«

Sophie starrte Sebastian an und schlug sich gegen die Stirn. »Der Felsen am See!«, rief sie erleichtert. »Warum bin ich darauf noch nicht gekommen?«

Sie machte sich von Sebastian los und rannte in Richtung Tür.

»Wo willst du hin?«, fragte er, obwohl er es genau wusste.

»Zum See, wohin denn sonst?«

»Sophie, du kannst nicht alleine dort hin. Nicht mitten in der Nacht.«

»Hast du Angst, dass einer der Überlinger mich überfällt?«, fragte Sophie spöttisch und ging eilig in den Garten hinaus. »Außerdem hast du deine Frau doch auch gehen lassen«, rief sie über die Schulter.

»Auf Johanna ist auch kein Anschlag verübt worden«, argumentierte Sebastian. »Denk daran, was neulich geschehen ist.«

»Umso gefährlicher ist es für Raphael, draußen herumzulaufen. Ich muss zu ihm.«

»Du kannst ihn nicht schützen und du hilfst ihm nicht, indem du dich selbst in Gefahr bringst. Wenn dir etwas zustieße, dann müsste er auch noch damit fertig werden.«

»Aber er ist ganz allein da draußen.«

»Er ist nicht allein. Johanna sucht nach ihm und die kann ihn im Moment besser schützen als du.«

»Ich werde trotzdem gehen«, sagte Sophie verzweifelt. »Ich muss.«

Sebastian stellte sich ihr in den Weg. »Ich lasse dich nicht gehen. Du solltest lieber hierbleiben und deine Sachen packen.«

Sophie starrte ihn wütend an. »Immer muss alles nach deinem Kopf gehen.«

»Sophie, was du vorhast, ist unvernünftig.«

»Es ist mir egal.« Sie stieß Sebastian zur Seite. »Ich mache, was ich will.«

Dann öffnete sie das Gartentor und trat auf die dunkle Straße hinaus.

23. Kapitel

München, Bayern, Februar 1923

Marlene hatte schreckliche Angst. Nachdem sie schon vorhin in seiner Gegenwart kein Wort herausbekommen hatte – wie sollte sie es dann schaffen, ihm eine gute Tischdame zu sein? Plötzlich verfluchte sie Lisbeth für ihre Idee, sie nebeneinander zu platzieren, und überlegte fieberhaft, ob es eine Möglichkeit gäbe, nicht neben ihm zu sitzen. Sie zog sogar in Erwägung, plötzliche Kopfschmerzen vorzutäuschen und sich zurückzuziehen – aber das konnte sie Lisbeth nicht antun, war sie doch eigens für ihre Hochzeit nach München gekommen und hatte die Tage der Vorbereitung in engster Vertrautheit mit ihr verbracht. Außerdem wollte sie ihm ja gar nicht ausweichen. Sie wollte neben ihm sitzen, seine Nähe spüren. Wenn sie sich nur nicht allzu sehr blamierte. Und so wissend, wie er sie immer anschaute, ahnte er, was in ihr vorging. Das war ihr peinlich. Vielleicht, dachte Marlene, sollte sie kühle Distanziertheit an den Tag legen. So tun, als beeindrucke sie seine Anwesenheit gar nicht. Sie war sich allerdings nicht sicher, ob ihr das gelingen würde.

Es gelang ihr. Und wie es ihr gelang. Nachdem die Suppe aufgetragen worden war und sie den ersten Löffel probiert hatte, beugte sie sich leicht zu ihm hinüber und schwärmte: »Ein himmlischer Genuss, findest du nicht?«

»In der Tat.« Andreas wandte sich ihr zu und sah ihr in die Augen. Dann wanderte sein Blick über ihr Gesicht, zu den zarten blonden Locken, die sich über den Ohren kräuselten, und dann, zu rasch, als dass es anzüglich hätte sein können, über ihr Dekolleté in dem hellblauen Seidenkleid mit dem Spitzenrand. »Ein himmlischer Genuss«, wiederholte er langsam, und Marlene spürte, wie ihr die mühsam errungene Selbstsicherheit bei diesen Worten entglitt. »Wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, Marlene: Du siehst absolut hinreißend aus. Das Blau deines Kleides greift genau die Farbe deiner Augen auf und macht sie noch ausdrucksvoller. Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe.«

»Oh«, Marlene errötete und beugte sich rasch über ihren Teller, um noch einen Löffel Suppe zu nehmen. Sie bemerkte, dass er sie immer noch ansah, und betete innerlich, dass sie den Löffel halbwegs elegant zum Mund führen und nicht kleckern würde. Es glückte ihr. Danach sah sie ihn wieder an. »Das ist sehr freundlich von dir.«

»Nein, Marlene.« Seine Stimme klang rau. »Das ist nicht freundlich, sondern sehr ernst gemeint.« Auf einmal wirkte er nervös, als er fragte: »Würdest du mir nachher den ersten Tanz schenken?«

Der Griff, mit dem er sie umschlang, war fest und bestimmt. Minuten zuvor hatte das Brautpaar seinen Eröffnungstanz gegeben, nun drängten die Tanzlustigen auf die Fläche. Nach all dem Hunger und der Entbehrung, die mit der Inflation einhergingen, gierten sie alle nach etwas Lebensfreude und Ablenkung. Es war eng, aber das gefiel Marlene. Sie spürte das Klopfen seines Herzens und es kam ihr so vor, als ob es besonders schnell schlüge. Während des Tanzes sprachen sie die ganze Zeit über kein Wort, sahen sich nur unverwandt in die Augen, wandten den Blick ab, sahen sich wieder an. Ein ewiges, nervenaufreibendes, aufregendes Spiel. Am Ende glühten Marlenes Wangen feuerrot. »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie und befreite sich hastig aus seinen Armen. Sie brauchte jetzt unbedingt eine Pause. »Ich will mich nur eben ein wenig frisch machen.« Er nickte und entließ sie aus seiner Umarmung.

Im Vorraum der Toilette angekommen, stützte sich Marlene keuchend auf dem großen Marmortisch ab, in den das Waschbecken eingelassen war, und blickte sich in die fiebrig glänzenden Augen. Wie gerne hätte sie die Hände unter kaltes Wasser gehalten und auf ihr Gesicht gepresst, aber sie fürchtete, dass sie damit ihre kunstvolle Aufmachung zerstören könnte. Spontan entschied sie, noch ein wenig in den Garten zu gehen. In der kalten Winterluft würde sie sicher wieder einen klaren Kopf bekommen. Sie verzichtete aber darauf, an der Garderobe ihren Mantel zu holen, sie wollte kein Aufsehen erregen. Und sie wollte ja auch wirklich nur ein paar Minuten draußen bleiben.

Marlene stieß die Terrassentür auf, die in den Garten führte, und trat hinaus ins Freie. Die kalte Winterluft schoss durch den seidenen Stoff ihres Kleides, es tat gleichermaßen gut und beinahe weh. Vom Himmel kam ein leichter, kaum wahrnehmbarer Nieselregen. Marlene hob das Gesicht und genoss das Gefühl, wie das kalte Wasser ihre immer noch glühende Haut sanft benetzte. Ein paar Schritte ging sie auf den Steinplatten durch den Garten und suchte dann Schutz unter einer Pergola, von der aus sich ein herrlicher Blick auf die Stadt bot.

»Marlene«, hörte sie plötzlich eine männliche Stimme, seine Stimme, hinter sich. »Marlene, dir wird doch kalt.«

Sie wirbelte herum und fast direkt in seine Arme. Ganz dicht stand er vor ihr, sie konnte die Wärme seines Körpers durch den dünnen Stoff ihres Kleides spüren. Er zog sein Jackett aus und legte es ihr um die Schultern. Den Kragen ließ er nicht los, sondern zog sie zu sich heran. »Unvernünftiges Mädchen«, murmelte er, bevor er die Augen schloss und seine Lippen die ihren berührten.

24. Kapitel

Überlingen, Bodensee, 5. Februar 1923

Johanna fand Raphael tatsächlich auf dem Felsen am See. Schon von Weitem konnte sie die zusammengekauerte Gestalt, die in Richtung Wasser starrte, schemenhaft ausmachen.

»Raphael«, sagte sie leise, als sie bei ihm angelangt war.

Der Junge hob langsam den Kopf. Er hatte Johanna bereits kommen hören.

»Warum bist du weggelaufen?«, fragte sie und kletterte vorsichtig den Felsen hinauf. Ihr deutlich gerundeter Bauch behinderte sie.

»Ich … ich konnte einfach alles nicht mehr ertragen. Ich wollte niemanden sehen«, stieß Raphael hervor.

»Das kann ich gut verstehen. Aber du weißt, dass du dich dessen, was ich dir gesagt habe, nicht zu schämen brauchst.« Johanna ließ sich neben ihm nieder.

Raphael schniefte. »Ich weiß. Und irgendwie finde ich das auch gar nicht so schlimm. Viel schlimmer finde ich, dass Mutter mich all die Jahre über angelogen hat.«

»Es fiel ihr nicht leicht, Raphael, das kannst du mir glauben. Wir haben oft darüber gesprochen.«

Raphael starrte sie an und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »Alle habt ihr mich angelogen. Alle. Ihr habt es alle die ganze Zeit über gewusst.« Er sprang auf und sah auf Johanna herab.

»Ich habe gedacht, du bist ehrlich zu mir«, sagte er wütend und kletterte vom Felsen herunter.

Johanna hatte Angst, dass Raphael wieder davonrennen könne. »Lass es dir bitte erklären«, bat sie leise.

»Was gibt es denn da noch zu erklären?«, fragte Raphael trotzig. »Ihr habt mich angelogen. Alle.«

»Ich verstehe deine Enttäuschung«, versicherte Johanna. »Aber bitte, gib mir eine Chance.«

Es beeindruckte Raphael, dass Johanna mit ihm wie mit einem Erwachsenen redete. Dass sie ihn um etwas bat und es ihm nicht einfach befahl, wie so viele andere das taten. Er wurde wie ein Erwachsener behandelt. Also würde er sich auch wie einer verhalten, beschloss der Junge. Andererseits wollte er Johanna seine Bereitwilligkeit nicht allzu deutlich zeigen.

»Gut«, erklärte er mürrisch. Er kletterte wieder auf den Felsen, aber nun drehte er Johanna den Rücken zu.

»Deine Mutter wollte es dir irgendwann sagen«, begann Johanna. »Sie wusste nur nicht so recht, wann. Eine Zeit lang hat sie sich überlegt, dich damit aufwachsen zu lassen. Sie hat dir ja auch eine ganze Weile lang Französischunterricht gegeben, erinnerst du dich?«

Raphael nickte ungeduldig. »Und warum hat sie es mir dann nicht gesagt?«

»Es wäre zu gefährlich gewesen. Wir hatten Krieg, und wenn du da plötzlich jemandem erzählt hättest, dass dein Vater Franzose ist, hätte dir das schlecht bekommen können.«

»Aber nach dem Krieg …«

»Auch nach dem Krieg waren die Leute nicht unbedingt gut auf die Franzosen zu sprechen. Deine Mutter hatte Angst, dass man dir das Leben schwer machen würde, wenn es jemand erführe.«

»Sie hätten es nicht erfahren müssen. Es hätte gereicht, wenn sie es mir gesagt hätte.«

»Du hättest es weitererzählt. Du warst ja noch klein. Man kann von einem vierjährigen Kind nicht erwarten, dass es über so eine Neuigkeit schweigt.«

»Und als ich größer wurde?«

»Als du größer wurdest, bekamst du mit, dass die Franzosen … sehr unbeliebt sind. Deine Mutter fürchtete, es würde dich zu sehr belasten.«

»Aber irgendwann musste sie es mir doch sagen. Mein Vater lebt! Das hätte sie doch nicht ewig geheim halten können.«

»Sie hoffte immer, dass sich die Situation entspannen würde. Einmal sprach sie davon, es dir zu sagen, wenn du acht Jahre alt bist. Aber dann kam die Ruhrbesetzung und die Lage verschärfte sich.«

»An meinem achten Geburtstag …«, sagte Raphael nachdenklich, »das wäre im Mai.«

»Ja«, antwortete Johanna. »Aber nun ist das Ruhrgebiet besetzt. Sie hätte es dir wohl auch im Mai nicht gesagt.«

»Und ihr anderen? Warum habt ihr es mir nicht gesagt?«

»Das ist allein ihre Sache.«

Raphael nickte. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Die ganze Stadt wusste es!«, klagte er. »Nur ich nicht.«

»Das stimmt nicht«, widersprach Johanna. »Wir wissen wirklich nicht, wie sie es erfahren haben. Nur die Familie wusste davon. Bis vor Kurzem.«

»Ich will hier nicht mehr sein. Nicht, nachdem sie mich so behandelt haben.« Raphaels Stimme zitterte.

»Wir hielten es auch für das Beste, wenn deine Mutter mit dir aus Überlingen fortgehen würde«, sagte Johanna sanft.

Raphael stiegen wieder die Tränen in die Augen. Er wollte von hier weg, doch auf der anderen Seite schmerzte ihn der Gedanke, das Haus seiner Kindheit verlassen zu müssen. Hier waren seine Freunde. Aber … hatte er denn noch Freunde? Er kam sich mutterseelenallein vor.

»Was sagst du dazu?«, drängte Johanna.

Raphael zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Irgendwie – auch wenn du mir das jetzt alles erklärt hast, bin ich immer noch böse auf Mutter. Auf euch andere nicht. Nur auf sie.«

»Du musst versuchen, sie zu verstehen.«

»Ich will nicht mit ihr zusammen sein«, sagte er heftig.

»Raphael, du musst lernen zu verzeihen. Sie wollte nur das Beste für dich.«

Der Junge schwieg. Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Was, wenn mein Vater so einer ist, der auf die Menschen schießt?«, fragte er bang. »Ich finde ja auch, dass es nette Franzosen gibt. Aber es gibt auch sehr böse, die Leute töten.«

»Das sind die Wenigsten«, beruhigte Johanna. »Und dein Vater ist bestimmt nicht so einer.«

»Woher weißt du das?«

»Weil deine Mutter meine beste Freundin ist und wir schon viel zusammen erlebt haben. Ich kenne sie. Sie hätte sich nicht mit einem bösen Menschen eingelassen.«

»Ja, das stimmt.« Doch Raphael war nur für einen Moment beruhigt. Dann sagte er: »Aber sie hat mich ja auch angelogen. Das hätte ich nie gedacht, dass sie das tun würde.«

In diesem Moment hörten sie Sophies laute rufende Stimme: »Raphael, Johanna? Wo seid ihr?«

Raphael zuckte zusammen. »Ich will sie nicht sehen«, zischte er.

»Raphael!«

Der Junge machte Anstalten, den Felsen hinunterzuklettern. Johanna hielt ihn fest. »Sei vernünftig.«

»Immer soll ich vernünftig sein«, schimpfte Raphael, plötzlich bockig.

Wenn Sophie doch nur verschwinden würde, dachte Johanna wütend. Wenn er jetzt davonläuft, ist das ihre Schuld. Aber Sophie hatte sie inzwischen erspäht und kam immer näher.

»Raphael, bitte, tu es für mich«, flehte Johanna.

Raphael, der inzwischen den Felsen schon fast ganz heruntergeklettert war, hielt inne und drehte sich um.

»Bitte«, wiederholte Johanna eindringlich.

Der Junge sah zu ihr auf. Er wollte ihr diese Bitte nicht abschlagen. Er konnte es nicht.

»Also gut.« Entschlossen kletterte er den Felsen wieder herauf.

Sie saßen dicht nebeneinander und sahen Sophie entgegen. Schließlich stand sie schwer atmend neben ihnen auf dem Felsen.

»Raphael«, sagte sie leise und streckte die Hand nach ihrem Sohn aus.

Doch er wandte sich heftig ab. »Komm, Johanna, wir gehen nach Hause.«

Sophie stand mit hängenden Armen da und die Tränen traten ihr in die Augen. Noch nie hatte er sie so zurückgewiesen.

Johanna drückte ihr aufmunternd die Hand, als sie an ihr vorbeiging. »Das wird schon wieder«, flüsterte sie. »Er muss erst mal damit fertig werden. Und jetzt komm, dass er uns nicht wieder davonläuft.«

Johanna und Sophie folgten Raphael durch die finstere Nacht nach Hause.

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
402 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783839246641
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Правообладатель:
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