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Gelegentlich spielte der Vater aber auch am Klavier, das in unseren beengten Räumlichkeiten im Wohnzimmer Platz gefunden hatte. Dass er auch vor so schwierigen Stücken wie Beethovens Sonate »Die Wut über den verlorenen Groschen« nicht zurückschreckte, zeigt auch, dass er über ein ausgesprochenes musikalisches Talent verfügte.

Begegnung mit Friedensreich Hundertwasser

Offensichtlich verstand er auch insgesamt von Kunst einiges. Im Sommer 1955 wurde er zu einer Patientin gerufen, die am Bauernhof Jernej vulgo Keber in Vesielach ihren Urlaub verbrachte. Das war noch lange vor der Zeit, als »Urlaub am Bauernhof« modern wurde – der Keberhof bot einfache und billige Übernachtungsmöglichkeiten an. Die Patientin stellte sich als Frau Stowasser vor und sie war nicht allein, mit ihr war auch der Sohn Friedrich gekommen. Ein wenig fiel er meinem Vater durch seine Kleidung auf – er trug ein auffällig groß-kariertes Hemd und seine Füße steckten in Sandalen. Aber das wirklich Besondere an ihm war das Bild, das er gerade malte: Es zeigte die sechsjährige Tochter des Hauses, Annemarie, die im Bett lag und von einer dicken Daunendecke gewärmt wurde. Nach mehrmaligen Visiten schloss mein Vater dann mit Frau Stowasser einen Handel: Sie brauchte ihn für die Konsultationen nicht zu bezahlen, wenn ihr Sohn seinen Sohn, also mich, malen würde.

Und so kam Friedrich Stowasser zu uns nach Hause. Ich musste mich in den Ohrensessel setzen, ruhig verhalten immer wenn ich aufstehen wollte, forderte mich Hundertwasser streng auf: »Bleib schön sitzen!« und er machte erst einmal eine Skizze, dann füllte er das Bild mit Wasserfarben aus: roter, kurzärmliger Pullover, blaue kurze Hose, im Gesicht ein paar Sommersprossen – die Ähnlichkeit mit mir war frappierend. Dann hing das Bild »Pepsi, der Sohn von Dr. Freund«, gezeichnet mit »Hundertwasser«, jahrelang in unserem Wohnzimmer. Auch die Übersiedlung in das neu gebaute Haus gegenüber der Schule machte es mit. Als ich dann in den Achtzigerjahren einmal im Sommer aus New York, wo ich für einige Jahre Beschäftigung gefunden hatte, nach St. Kanzian zurückkam, fiel mir gleich der leere Platz an der Wand auf. »Wo ist der Hundertwasser?«, fragte ich meine Mutter, einigermaßen entsetzt. »Ach, weißt du,« druckste sie herum, »ich, äh, ich musste, ich hab’ es ins Dorotheum getragen, ich wusste nicht, wie ich sonst die Rechnungen bezahlen sollte.« – »Du hast deinen Sohn verkauft?« Ich konnte es kaum glauben. »Ich hätte dir doch das Geld geborgt, wenn du mich gefragt hättest!« – »Ach, du hast mir schon öfter ausgeholfen, ich wollte dich nicht wieder anjammern …« Und so verschwand der »Hundertwasser« aus unserem Besitz.

Doch zum Glück nicht auf Dauer. Während meines Aufenthaltes in Washington als ORF-Korrespondent meldete sich eines Tages Joram Harel, der Manager Hundertwassers, telefonisch bei mir. Er habe eine Anfrage eines Notars aus Bayern, aus der er schließe, dass der das von ihm erworbene Bild »Pepsi, der Sohn von Dr. Freund« verkaufen wolle. Ob ich interessiert sei? Natürlich war ich. Und tatsächlich gelang es mir, das Bild in den Familienbesitz zurückzubekommen. Und wieder war das Glück auf meiner Seite. Genau zu jener Zeit, als ich den Anruf von Joram Harel bekam, wohnte bei uns in Bethesda, einem Vorort von Washington, die Tochter einer guten alten Freundin. Diese Freundin – Waltraud von Waldenfels – hatte ein wunderschönes Haus am Klopeiner See, wohnte aber in Oberbayern, ganz in der Nähe des Notars, der »meinen« Hundertwasser verkaufen wollte. Nach ein paar Telefonaten war es dann so weit: Sie holte das Bild beim Notar ab und bei ihrem nächsten Besuch in Kärnten brachte sie es mir vor die Haustür.

Ein gutes Jahrzehnt davor hatte ich »Friedensreich« zum letzten Mal getroffen. Als er 1985 den großen Gebäudekomplex in Wien eröffnete, den er entworfen und gebaut hatte, durfte ich ihn begleiten und Fotos von ihm schießen. Dass ich, oder genauer gesagt meine Mutter, zu diesem Zeitpunkt »meinen Hundertwasser« nicht mehr besaß, verriet ich ihm dabei aber nicht. 2008 wurde im KunstHaus Wien eine Ausstellung mit dem Thema »Der unbekannte Hundertwasser« gezeigt – mit Aquarellen und Ölbildern von Friedensreich Hundertwasser, die aus seiner Frühzeit als Maler stammten. Als Plakat hatte man ausgerechnet »Pepsi, den Sohn von Dr. Freund« ausgewählt, es machte in ganz Wien auf diese besondere Ausstellung aufmerksam.

Auf Visiten mit dem Vater

Zwischen der Hauptstraße, die zum Klopeiner See führt, und der Volksschule liegt der große Turnplatz. Von dort fällt am Gebäude ein riesiges Kunstwerk ins Auge, das zwei große, blonde Jungen in ihrer ganzen (die Jahreszahl »1941« über ihnen deutet es an) deutschen Schönheit zeigt: Der eine ist dabei, ein Modellflugzeug zu starten, der andere hockt neben ihm und hält einen Globus zwischen den Beinen. Daneben ist eine Schar von Buben und Mädchen abgebildet, die jeweils an einem Ende eines starken Seils ziehen. Die Schulkinder können sich dem Anblick nicht entziehen, weder wenn sie in der Früh zur Schule gehen noch wenn Turnen oder die längere Pause angesagt ist. Dann spielen sie draußen Fußball, springen weit oder hoch, oder laufen um die Wette. Die Sandkiste wird zum Weitspringen verwendet, am Nachmittag, nach Schulende, benützten sie hauptsächlich die Kleineren unter uns. Nur wenn dann einmal ein Größerer Platzansprüche stellte und mit Anlauf in den Sand sprang, auch wenn es dort von Kindern wuselte, konnte schon einmal ein Schlüsselbein draufgehen, wie das mir passierte. Sigi, einer der Söhne der Schulwartin, hatte sein ganzes Gewicht auf den Körper des Vierjährigen fallen lassen und schon knackste es in meiner rechten Schulter. Möglicherweise hatte er danach ein schlechtes Gewissen, denn einmal bot er sich an, mit mir zur Straße »Autos schauen« zu gehen. Das war damals faszinierend und mühselig zugleich, denn es gab nicht allzu viele davon. Wir saßen neben der Straße an einen Baum gelehnt und – langweilten uns. Ich weiß nicht, das wievielte Fahrzeug es war, irgendwann musste ich meine Langeweile durch eine gezielte Aktion durchbrechen: Ich nahm einen Stein und warf ihn auf ein vorbeifahrendes Auto. Das blieb nicht ohne Konsequenzen. Ein paar Tage danach trudelte bei meinem Vater ein Brief ein.

Sehr geehrter Herr Doktor!

Am Sonntag, den 22. ds. befand ich mich um etwa 15 Uhr 30 mit meinem Personenkraftwagen auf der Strecke zwischen Klopein und St. Kanzian. Auf der Stelle, wo der Weg von der Schule in die Hauptstraße einmündet, wurde mein Wagen von einem 5-jährigen Buben, der sich in Gemeinschaft eines älteren Buben dort aufhielt, mit einem Stein beworfen und auch getroffen. Ich hielt sofort an und wollte mir den Buben auch vornehmen, konnte dies aber nicht mehr erreichen, da der Bub sofort die Flucht ergriff. Der ältere Bub gestand mir unter Androhung, dass ich ihn zur Gendarmerie mitnehmen würde, dass es sich um Ihren Sohn handle. Ich melde Ihnen das nur, damit Sie auf Ihren Sohn einwirken und ihm die Tragweite dieser Handlung vor Augen führen können. Bei dem überaus großen Verkehr, speziell an Sonntagen, könnte sich ein Steinschlag (z. B. Windschutzscheibe) recht ungünstig auswirken.

Ich bin überzeugt, dass Ihr Junge nach entsprechender Belehrung solche Kunstwürfe in Zukunft unterlassen wird.

Ich empfehle mich mit vorzüglicher Hochachtung Erich Manner

Die Antwort folgte prompt:

Sehr geehrter Herr Manner!

Ich erhielt heute Ihr Schreiben vom 23. ds. Meine erste Reaktion bzw. Hoffnung war natürlich dahingehend, dass es sich um einen Irrtum handeln müsse.

Leider stellte sich schon bei kurzer Befragung heraus, dass es wirklich mein fünfjähriger Bub war, der einen Stein gegen Ihr Auto geworden hatte. Ich habe eine größere Strafaktion eingeleitet (u.a. Auto-Mitfahrverbot auf 14 Tage).

Im Übrigen danke ich Ihnen für Ihr in jeder Beziehung wirklich besonders nettes Schreiben und bitte, den Vorfall zum Anlass nehmen zu dürfen, Sie persönlich aufzusuchen; den Übeltäter werde ich zwecks persönlicher Entschuldigung mitbringen.

Ich bin mit vielem Dank und vorzüglicher Hochachtung Ihr Franz Freund

»Mitfahrverbot« war tatsächlich die schwerste Strafe, die mein Vater mir gegenüber aussprechen konnte. Ich liebte es, mit ihm unterwegs zu sein, vorne zu sitzen, beobachtete jeden Hand- oder Fußgriff, den er beim Autofahren machte, und hoffte insgeheim, möglichst bald selbst am Steuer sitzen zu dürfen. Schon ganz früh, ich war damals vielleicht sechs Jahre, hatte ich schon meine erste Erfahrung gemacht – ich durfte einen Steyr-Traktor lenken. Der Wank Rudi – damals nannten wir alle mit Nachnamen vor dem Vornamen – hatte einen solchen Traktor, er zeigte mir, wie man die Kupplung drückte (was für kurze und schwache Beine fast unmöglich war), den Gang einlegte und die Kupplung dann langsam schleifen ließ.

So stolz wie in dieser Position, noch dazu in Anwesenheit meiner zwei Schwestern, war ich kaum je zuvor und selten danach … Dass ich sie überhaupt mitnahm, verdankten sie meiner ausgesprochenen Gutmütigkeit. Als »Sandwich-Kind« war ich immer ihr Opfer, sie verstanden es hervorragend, mich so lange zu quälen, bis ich weinend zu den Eltern lief und dort Schutz suchte. Doch ich hatte auch immer das Privileg, mit dem Vater auf Visiten unterwegs zu sein – das hatte auch den Vorteil, dass mir währenddessen meine beiden Schwestern nichts antun konnten.

Bei manchen Patienten ging ich mit hinein in die Küche, oft blieb ich aber auch im Auto und wartete. Einige der Krankenbesuche konnten lange dauern. Wenn er in Kühnsdorf von den Leitgeb-Damen zum Bridge-Spielen eingeladen wurde, saß ich oft mehr als eine Stunde im Auto. (Die Erinnerung trügt – eben finde ich eine Aufzeichnung im Notizbuch meines Vaters: »24. Februar 1964, abends 8.00 bis 10.30 Uhr bei Leitgebs.«) Ob mein Vater damals bei den Gesprächen vom grausamen Schicksal der Familie erfuhr, weiß ich heute nicht mehr. Der Ehemann von Trude Leitgeb, Valentin, war kurz nach Kriegsende von den Partisanen verschleppt und irgendwo auf der jugoslawischen Seite der Grenze umgebracht worden. Die Papierfabrik lag somit in ihren Händen, später übernahm ihr Sohn, ebenfalls Valentin, das große Unternehmen. Susi, dessen Schwester, lebte in Italien und kam gelegentlich zu Besuch nach Kühnsdorf. Ein paar Mal sind wir uns dabei begegnet. Ich bin mir heute nicht mehr sicher, was mir an ihr mehr imponierte: dass sie eine ausgesprochene Schönheit war oder dass sie einen der ganz seltenen, sportlichen Mercedes 190 SL mit offenem Dach fuhr – die Kombination war jedenfalls selbst für einen Acht- oder Neunjährigen umwerfend. Leider starb sie wenig später bei einem Autounfall mit genau diesem Wagen in ihrer italienischen Wahlheimat. Die nächste Generation der Leitgebs, Susis Bruder Valentin, seine Frau und die Tochter Burgi, übersiedelten in eine kleinere Villa am Nachbargrundstück, auch sie wurden von meinem Vater als Patienten behandelt, gelegentlich vertrieb ich mir dann die Zeit des Wartens mit Burgi im Spielzimmer.

Vor allem im Winter konnte die Warterei im Auto ungemütlich werden, oft fror ich so sehr, dass ich zum lieben Gott betete, mir den Vater möglichst bald wieder herauszuschicken. Wenn er dann endlich erschien, erschrak er bei meinem Anblick: »Ich habe total vergessen, dass du mit bist.« Doch trotz allem genoss ich das Mitfahren, unabhängig davon, wer auf der Liste stand – das alte Ehepaar Ogradnik in Pirk, die Bauernfamilie Jernej in Horzach II, die Eisenbahner Jahn in Tainach oder die Kröpl-Bauern in Edling, oft ging ich mit hinein, setzte mich meist in die Küche, wenn mein Vater die Patienten im Schlafzimmer behandelte, und unterhielt mich mit den Kindern, so es in der Familie gerade welche gab. Meine Lieblingspatienten waren die Kuchers in Tainach-Stein. Sie hatten über den Kinderbetten eine riesige Schienenanlage aufgebaut, mit Bahnhöfen, Tunnels, Brücken, Bahnübergängen, bei denen sich die Schranken senkten, wenn sich der Zug näherte. Besonders fasziniert war ich von dem Rauch, der aus dem Schlot der kleinen Dampflokomotiven strömte und auch besonders gut roch. Ich beobachtete die beiden Buben, wie sie immer wieder aus einem kleinen Fläschchen eine Flüssigkeit in den Schornstein der Lok träufelten. Das entsprechende Geräusch lieferten auch die echten Lokomotiven, die nur wenige Meter vom Haus entfernt vorbeidampften.

Viele der Patienten waren Kärntner Slowenen, die wenigsten bekannten sich jedoch offen dazu. Für meinen Vater schien das Thema doch ein Problem zu sein. Das stellte sich durch Unterlagen heraus, genauer durch ein weißes DIN-A4-Kuvert, das mit »Slovenenproblem« beschriftet war. Und darin waren mehrere Zeitungsartikel aus den Jahren 1959 und 1964 enthalten, also lange bevor die Volksgruppenproblematik so richtig in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt war.

Diese Artikel zeigen sehr aufschlussreich, in welchem Umfeld – auch was die Medien betrifft – die Kärntner Slowenen in den Jahren nach dem Staatsvertrag 1955 lebten. Die »Kleine Zeitung« berichtete am 18. März 1959 über die Auseinandersetzung um das neue Schulgesetz, das dem verpflichtenden zweisprachigen Unterricht in Südkärnten ein Ende bereitete: Die Reden, die am Dienstag in einer Protestversammlung der slowenischen Organisationen in der Arbeiterkammer gehalten wurden, waren gerade nicht dazu angetan, dem Ansehen Österreichs und dem Frieden zu dienen, heißt es gleich in den ersten Zeilen. Und weiter: Es fehlte nicht an handfesten Drohungen gegen die beiden Großparteien, denen sowohl die christlichen Slowenen als auch die linksradikalen vorwarfen, sie würden die Minderheit nur kennen, wenn es Wahlen gebe.

In der gleichen Ausgabe der »Kleinen Zeitung« erschien noch ein weiterer Artikel, der sich mit dem zahlenmäßigen Niedergang der slowenischen Volksgruppe in Kärnten befasste. In diesem umfassenden Bericht sind ein paar hochinteressante historische Angaben enthalten: So waren im Jahre1880 in Velden am Wörthersee 15,2 Prozent, in Maria Wörth 2,1 Prozent, in St. Kanzian gar nur 1 Prozent und in Eberndorf 8,8 Prozent – und jetzt kommt der Clou! – Deutsche gemeldet, bei der Volkszählung 1951 besaßen die beiden letztgenannten Gemeinden bereits deutsche Mehrheiten. (Man beachte, dass damals offenbar kein Unterschied zwischen »Deutschen« und »Deutschsprachigen« gemacht wurde … Übrigens: noch zwei Jahrzehnte später waren auch die restlichen zitierten Gemeinden ganz in der Hand der »Deutschen«.)

Der (ungenannte) Autor lieferte auch gleich eine Erklärung: Für ihn waren es wirtschaftliche Gründe, die auch in der geringen Geburtenzahl ihren Ausdruck finden, nicht zuletzt die Landflucht, die die letzten Ursachen für den Rückgang der slowenischen Volksgruppe sind.

Fünf Jahre später – wir sind jetzt im Jahr 1964 – fand sich in der Tageszeitung »Die Presse«, die mein Vater ebenfalls aufgehoben hatte, ein ausführlicher Bericht von Felix Gamillscheg über die Kärntner Slowenen. Darin hieß es zum Thema zahlenmäßige Stärke der Volksgruppe:

Was tut es wirklich, ob sich nun 15.000, 25.000 oder gar 50.000 Menschen zur Minderheit zählen und bei der Feststellung ihre Stimme abgeben? Muss Österreich nicht schon wegen des Gegenrechts, das es in Südtirol fordert, alles tun, um die Slowenen zufrieden zu stellen?

Dieser großzügige Ansatz, jetzt schon fast ein halbes Jahrhundert alt, sollte sich – um bei einem Terminus zu bleiben, der in der Volksgruppen-Problematik gebräuchlich war – noch viele Jahrzehnte als Minderheitenfeststellung erweisen.

* * *

Ähnliche längere Aufenthalte wie bei den Leitgebs gab es auch bei den Petraskos in Möchling. Diese Familie wohnte in einem alten Schloss, durch die Hofeinfahrt gelangte man in einen riesigen Innenhof mit einem kleinen Teich, links war der Stall, rechts das Wohngebäude. In der großen Küche duftete es immer nach köstlichen Kuchen oder Torten, von denen wir auch regelmäßig ein Stück abbekamen. Der Herr Petrasko war ein echter Gutsherr, stammte ursprünglich aus Rumänien und war – was mir auffiel – immer sehr elegant gekleidet. Seine Frau war bis zu ihrem Tod die häufigste Patientin des Hauses. Über eine Holzstiege gelangte man in den ersten Stock, wo sie im Schlafzimmer lag und dort von meinem Vater behandelt wurde. Unterdessen saß oder spielte ich mit den Jugendlichen im Hof, manchmal machten wir einfach nur so einen Halt bei den Petraskos, weil mein Vater die gediegene Atmosphäre auf diesem Gut besonders schätzte.

Die wenigsten Patienten hatten damals ein Telefon, was dazu führte, dass mein Vater oft nochmals in denselben Ort fahren musste, aus dem er gerade nach Hause gekommen war. So ließ er sich etwas einfallen: In Möchling, beim Gasthof Taschek, deponierte er eine weiße Fahne, die auf einer Stange montiert war. Wenn meine Mutter dort anrief, weil sie ihrem Mann etwas ausrichten wollte (etwa, dass in der Nähe noch ein anderer Patient zu besuchen war), steckte Frau Taschek die Fahne in den Baum. So ersparte es sich mein Vater, den Weg in den Ort zwei Mal zu machen. Und das, was beim Gasthaus Taschek funktionierte, wurde dann auch von einigen anderen, strategisch günstig gelegenen Häusern mit Telefonanschluss übernommen.

Als ich dann endlich mit den Füßen Brems- und Kupplungspedal erreichte, konnte ich das Fahrzeug in Bewegung setzen oder zumindest den Motor laufen lassen, womit es dann auch im Wageninneren gemütlicher wurde. »Vati, darf ich bitte umdrehen«, war so ab meinem neunten Lebensjahr ohnehin die hauptsächlich gebrauchte Redewendung im Dialog mit meinem Vater. Wenn er von den Visiten nach Hause kam, stellte er das Auto im Hof ab – mit der »Schnauze« nach vorne. Das bot mir die Gelegenheit, die ersten Fahrversuche direkt vor der Haustüre zu machen. Motor starten, Kupplung drücken, langsam auskuppeln und gleichzeitig Gas geben, dann ein paar Meter geradeaus, und rechtzeitig vor der Holzhütte (und der schon beschriebenen Senkgrube) stark am Lenkrad drehen und schon ging es wieder zurück zur ursprünglichen Ausgangsposition – und das Fahrzeug war jetzt wieder für meinen Vater wegfahrbereit. Mit rund elf Jahren hatte ich meine Fahrkünste so vervollständigt, dass ich mich auch auf eine echte Landstraße wagte. Wenn ich auf dem Zettel, in dem der Vater seine Visiten aufgeschrieben hatte, das Wort »Rakollach« sah, bat ich besonders inständig, mitfahren zu dürfen. Die Straße nach Rakollach hatte mich schon lange gelockt. Nach der Abzweigung von der Tainacher Hauptstraße in Richtung Rakollach kam es dann eines Tages – nach Einbruch der Dunkelheit, um nicht aufzufallen – zum ersehnten Fahrerwechsel. Mein Vater stieg aus, ich rutschte vom Beifahrersessel vors Lenkrad, er schob hinter mir die eigens erstandene geflochtene Rückenlehne hinein, damit die Beine die Pedale erreichten – und los ging’s. Die Straße wurde vorwiegend von Bauern im Ort mit dem Traktor frequentiert, die Chance, einem davon zu begegnen, war gering. Es gab ohnehin nur eine Fahrspur, die noch dazu in der Mitte mit Gras bewachsen war. Das erleichterte es mir, nicht links oder rechts in den Graben zu fahren. Dass ich schon mit jungen Jahren Auto fahren konnte, hatte sich bald herumgesprochen: Rudi Traar, der ein Gasthaus ganz in der Nähe der Schule gekauft hatte, dachte nicht zweimal darüber nach, mich mit seinem Mercedes 220 SE eine Runde drehen zu lassen. Einmal, da war ich ebenfalls noch nicht einmal 15, war ich auch mit dem VW 1300 vom Kummer Hansi ein paar Kilometer unterwegs. Ich kam zur Sitzung des Gemeinderates, fragte den Hansi, der ÖVP-Gemeinderat war, ob ich kurz das Auto ausborgen könnte, und ohne mit der Wimper zu zucken bekam ich den Fahrzeugschlüssel und fuhr – wie ich das am 23. Februar 1966 in meinem Taschenkalender notierte – über Srejach nach Schreckendorf, von dort nach Stein und wieder zurück zum Gemeindeamt. Mein großer Konkurrent war zugleich mein bester Freund, Jesse Herbert. Sobald er erfuhr, dass ich schon Auto fahren konnte, musste er es mir nachmachen. Doch ich war immer ein kritischer Beobachter. Zwei Tage vor meiner Ausfahrt mit dem Volkswagen vom Kummer Hansi hatte ich im Notizbuch notiert – vielleicht mit ein wenig Eifersucht: Mit Herbert nach Klagenfurt gefahren (er chauffiert). Unter dem Motto: A.) wird ja wohl B.) Übung macht den Meister – schalten, lenken, überholen. Herbert war ein halbes Jahr älter als ich. Sein Vater war Bürgermeister in St. Kanzian, er wurde 1972 im Kärntner »Ortstafelkrieg« eine nationale Berühmtheit. Davon wird später noch die Rede sein.

Ich fühlte mich beim Autofahren so überlegen, dass ich nicht nur die Gleichaltrigen (also die, die noch keinen Führerschein hatten) beurteilte. Auch als sich Felix Schwarz, der Lehrer und Nachbar vom Stockwerk über uns, im Jahr 1966 ein Auto anschaffte (Ford Cortina, burgunderrot) trug ich über seine Fahrkenntnisse nur kritische Worte in mein Notizbuch ein: Erste Probefahrt: schalten, anfahren geht noch nicht so. Und am nächsten Tag: Wieder gefahren: schalten vielleicht etwas besser.

Doch das Leben der Familie Freund in St. Kanzian begann ohne ein eigenes Fahrzeug. Aus den Eintragungen in den Taschenkalendern meines Vaters weiß ich, dass er zu Beginn seiner Tätigkeit als Landarzt viele Stunden zu Fuß zu Patienten unterwegs war. Danach kam ein Fahrrad als Transportmittel per Bahn aus Wien. Dann konnte ein Tag so aussehen wie etwa der 16. November 1951: In Glantschach bei Patient Volina vlg. Hermann (mit Rad Unternarrach, Rückersdorf, Müllern, Miklauzhof, Straße bis Glantschach, Gallizien, Möchling, Stein.) Im Winter stapfte er durch den Tiefschnee, um die weit abgelegenen Patienten zu versorgen.

Gelegentlich führte ihn auch Theodor Rieken mit den Söhnen Gerold und Jörg mit dem Pferdewagen von Ort zu Ort. Das war für meinen Vater in doppelter Hinsicht angenehm: Nicht nur, dass er nicht zu Fuß gehen musste, er hatte mit Herrn Rieken auch einen hoch-geistigen Gesprächspartner neben sich am Kutschbock. Herr Rieken war in den 1930er Jahren aus Deutschland nach Südkärnten gekommen und hatte dort einen jahrhundertealten Bauernhof übernommen. Als Cousin des deutschen Philosophen Karl Jaspers war er sehr belesen, er besaß – und damit unterschied er sich von den meisten Patienten – auch eine ansehnliche Bibliothek. Im Sommer war das Haus Rieken immer voll mit jungen Menschen, das Ehepaar hatte selbst vier Kinder, Almut, Gerold, Linde und Jörg. Als ich sechs oder sieben Jahre alt war, verbrachte ich auch ein paar Mal einen »Urlaub am Bauernhof«. Ich schlief über dem Hühnerstall in einer Kammer, in der im Wesentlichen nur ein Bett mit einer Strohmatratze stand. Um ins »Zimmer« zu kommen, musste man über eine selbstgebastelte Holzstiege nach oben klettern. Tageslicht fiel durch ein winziges Fenster, nicht größer als ein A4-Blatt, Elektrizität gab es keine, auch nicht im Wohngebäude. Dort standen in jedem Raum Petroleumlampen, die die Umgebung nur schwach erleuchteten. Die Toilette war hinten im Hof, ein sogenanntes »Plumpsklosett«: eine zirka ein Quadratmeter kleine Holzhütte, auf der Tür das obligate ausgeschnittene Herz, durch das man hineinschauen konnte, ob das Klo besetzt war. Drinnen saß man auf einem Brett mit einem kreisrunden Loch, das für mein Alter viel zu groß war. Ich fürchtete immer hineinzuplumpsen. (Daher auch der Name »Plumpsklosett«.) Der Gestank war unerträglich und kam von unten: eine Gemengelage von Zeitungspapier, Urin und Kacke. Die Zeitungen stammten natürlich nicht von den intellektuellen Benützern, sondern ersetzen das damals nicht vorhandene Toilettenpapier. Aber trotz allem machte es Spaß, nicht zuletzt, weil uns ein gewisser Klaus aus Graz mit seinem Fiat Topolino immer wieder zu Ausfahrten mitnahm, und ich auch damit schon meine ersten vorsichtigen Fahrversuche machte. Das fröhliche Treiben sollte jedoch im Jahr 1957 ein plötzliches Ende finden: Jörg Rieken, damals 16 Jahre alt, wurde auf der Wiese hinter dem Hof tot aufgefunden. Er hatte sich mit einem Jagdgewehr erschossen. Etwa zu dieser Zeit lernten meine Eltern über die Familie Rieken auch eine Hebamme aus dem benachbarten Eberndorf kennen. Else Zwick war Witwe (ihr Mann war im Zweiten Weltkrieg gefallen), hatte allein drei Kindern großgezogen. Alle drei studierten, Helmar war später ein anerkannter Architekt in Wien, Hartmut ein bekannter Lungenfacharzt und Helga war nach ihrer Heirat mit einem US-Soldaten in die Vereinigten Staaten gezogen. Sie hatte schon als Mittelschülerin ein Jahr in den USA verbracht, ihre Rückkehr nach Österreich wurde sogar in den »Unterkärntner Nachrichten« mit folgendem Text gewürdigt:

Zum Empfang hat sich Bürgermeister Schweinzer mit Herren des Vorstands eingefunden. Der Fünfgesang Eberndorf ließ es sich nicht nehmen, die Eberndorferin mit dem Lied »Ja grüß enk Gott« willkommen zu heißen. Bürgermeister Schweinzer überreichte hierauf der Heimkehrerin mit einem herzlichen Willkommensgruß einen Blumenstrauß. Der Obmann des Kulturausschusses, Oberlehrer Hafner, dankte dem Mädchen für die hervorragenden schulischen Leistungen in den Vereinigten Staaten. Wenn Helga Zwick, so führte er unter anderem aus, in Amerika im Mittelpunkt zahlreicher Ehrungen war, so fällt ein Teil dieses Glanzes auf Kärnten und ihre Heimatgemeinde Eberndorf. Die Gemeinde ist stolz, ein so begabtes und tüchtiges Mädchen zu beheimaten und wünscht Fräulein Zwick auch für die achte Klasse und das Abitur in Österreich viel Glück.

Der Besuch bei »Tante Else«, wie sie von uns Kindern bald genannt wurde, war stets ein erfreuliches Ereignis, nicht zuletzt, weil sie uns immer besonders köstliche Süßigkeiten auftischte.

Die Freundschaft, die unter meinem Vater begonnen hatte, setzte sich auch in der nächsten und übernächsten Generation fort. In den Achtzigerjahren brachte ich dem jungen Ehepaar Meral und Hartmut Zwick aus den USA ein drahtloses Telefon mit, etwas, das in Österreich von der staatlichen Post mit speziellen Funkwagen aufgespürt wurde. Auch wenn die Chance, erwischt zu werden, relativ gering war, die Zwicks hatten Pech: Eines Tages standen zwei Postbeamte vor der Tür und verlangten die Herausgabe des illegalen Telefons. Erst Jahre später konnte man diese praktischen Geräte auch legal in Österreich erwerben.

Als Hartmut 2011 viel zu früh verstarb, ersuchte mich die Familie, die Trauerrede für ihn zu halten.

* * *

Nach dem Pferdewagen und dem Fahrrad wurde für meinen Vater Ende 1954 ein gebraucht erstandenes Moped zusätzliches Fortbewegungsmittel. Somit war er erstmals nicht mehr auf Hilfe von anderen angewiesen. Nur bei wirklichem Schlechtwetter bestellte er sich gelegentlich auch ein Taxi, um zu den Patienten zu gelangen. Johann Peteln, genannt »Hohne« (»Peteln« ist slowenisch und heißt auf Deutsch Hahn) holte meinen Vater mit dem schwarzen Opel Olympia am Nachmittag ab und führte ihn (und nicht selten mit mir am Hintersitz) von Patient zu Patient. Er notierte penibel die Fahrtstrecke: 27. März 1956: St. Lorenzen, Grabelsdorf, Lanzendorf, Lauchenholz, Rückersdorf, Nageltschach, St. Veit, Stein, Möchling, Draubrücke, Untersammelsdorf, Kleinsee-Haus, St. Lorenzen – so konnten an einem Tag schon 66 Kilometer zustande kommen, die Herr Peteln auf einem Zettel in Schreibschrift notierte und dann abrechnete.

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