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1.2. Zum wirtschaftlichen und politischen Kontext sozialstaatlicher Expansion nach 1945

Abgesehen von den beträchtlichen wirtschaftlichen und sozialen Problemen in den unmittelbaren Nachkriegsjahren erfolgte der Ausbau des Sozialstaates in einem gleichermaßen begünstigenden ökonomischen wie auch politischen Umfeld. Die österreichische Wirtschaft wuchs seit den 1950er Jahren rasch und bis in die 1970er Jahre hinein stetig, die Reallöhne und die Pro-Kopf-Einkommen sind kräftig gestiegen (Tabelle 1.1.).

Tabelle 1.1. Einkommens- und Produktivitätsentwicklung (durchschnittliche Zuwachsraten in %)


1960–19701970–19801980–19901990–20001960–2000
5,13,42,12,03,1
4,93,41,21,02,7
–0,40,1–0,9–1,0–0,4
8,69,75,03,36,7
4,32,71,10,52,2
7,010,45,03,76,5
3,46,13,82,43,9

1 BIP real je Erwerbstätigen; OECD Economic Outlook Database.

2 Brutto-Pro-Kopf-Einkommen der Arbeitnehmer/Verbraucherpreisindex; Wifo Datenbank.

3 Reallohnwachstum minus Produktivitätswachstum; Jahresdurchschnitt; nicht um terms of trade bereinigt.

4 Löhne und Gehälter der Arbeitnehmer/innen, brutto; Wifo Datenbank; ESVG 1995.

5 Löhne und Gehälter pro Arbeitnehmer/in, netto, real; Wifo Datenbank; ESVG 1995.

6 Arbeiternettotariflohnindex verknüpft mit Tariflohnindex 1966; jeweils Dezember; Wifo Datenbank.

7 Verbraucherpreisindex, jährlich; Wifo Datenbank.

Das hohe Wirtschaftswachstum resultierte maßgeblich aus dem wirtschaftlichen Wiederaufbau. Einen wichtigen Beitrag dazu leistete die Verstaatlichte Industrie, die ihrerseits eine Folge des Zweiten Weltkrieges war. 1946 und 1947 wurden große Teile der Grund- und Schwerindustrie, fast der gesamte Kohle- und Metallbergbau, drei Banken, die Energieversorgungsunternehmen und die Donauschifffahrt in öffentliches Eigentum überführt. Durch die Verstaatlichung von ca. 70 Unternehmen entstand einer der größten öffentlichen Unternehmenssektoren in der westlichen Welt (siehe z.B. Butschek 2004, 113). Als ab Mitte der 1970er Jahre der Nachkriegsboom zu Ende ging, wurde dieser Sektor zu arbeitsmarktpolitischen Zwecken (labour hoarding) eingesetzt, was jedoch unter den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den 1980er Jahren zur massiven Krise der Verstaatlichten Industrie beitrug.

Wies die Arbeitsmarktsituation in den 1950er Jahren noch ein hohes Niveau der Erwerbslosigkeit auf – mit Raten von zum Teil weit über 5% (1950 bis 1956) (siehe Wirtschafts- und Sozialstatistisches Handbuch 1945– 1969, 276), so verfügte Österreich von Beginn der 1960er Jahre bis Beginn der 1980er Jahre über Vollbeschäftigung mit Erwerbslosenraten von weniger als 3%. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre sank die Erwerbslosigkeit sogar auf 2% bzw. darunter. Ungeachtet rückläufiger Beschäftigtenzahlen bei den selbständig Erwerbstätigen, insbesondere im Bereich der Landund Forstwirtschaft, stieg die Gesamtzahl der Beschäftigten in den 1950er Jahren leicht, sank in den 1960er Jahren und stieg erneut während der 1970er Jahre.

In dem gegenständlichen Zeitraum ist das so genannte „Normalarbeitsverhältnis“, das heißt ein vollzeitiges, kontinuierliches, arbeits- und sozialrechtlich erfasstes Beschäftigungsverhältnis, nicht nur die Norm am Erwerbsarbeitsmarkt, sondern auch der Referenzpunkt für sozialstaatliche Sicherung. Letzteres ist ablesbar am ASVG 1955, wonach zur Sicherung des Lebensstandards im Alter 45 Beitragsjahre erforderlich waren. Atypische Beschäftigungsformen spielten in Österreich lange Zeit keine Rolle. Erste Debatten über die Regelung von Teilzeit- und Leiharbeit sind für die 1970er Jahre konstatierbar.

Die demografische Entwicklung ist nach 1945 langfristig durch drei Trends gekennzeichnet: Erstens kam es zur Zunahme der österreichischen Bevölkerung insgesamt. Betrug diese in der Ersten Republik (1923) 6,5 Mio., 1951 6,9 Mio., so 1981 schon über 7,5 Mio. (siehe Faßmann 1997, 41). Zweitens ist die Entwicklung im gegenständlichen Zeitraum noch durch moderate Verschiebungen in den quantitativen Anteilen der Altersgruppen geprägt: Kamen im Jahr 1951 auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter (15–60 Jahre) ca. 37 Kinder und ca. 25 über 60-Jährige, so zeichnen sich in der Folgezeit gegensätzliche Trends bei diesen beiden Altersgruppen ab. Ein Jahrzehnt später fiel die Relation bei den Kindern auf 32, während sie bei den über 60-Jährigen auf 32 anstieg. Drittens ist langfristig eine steigende Lebenserwartung zu konstatieren. Lag diese 1949/51 für Männer bei der Geburt bei 61,9 Jahren, so 1980/82 bei 69,23. Bei Frauen betrug die Lebenserwartung 1949/51 erst 66,97 Jahre, dann 1980/82 bereits 76, 37 Jahre (Statistik Austria, Lebenserwartung für ausgewählte Altersjahre 1868/71 bis 2010/12 und 1951 bis 2018).

Die Sozialstaatsexpansion in den Nachkriegsjahrzehnten ist nicht nur auf dem Hintergrund günstiger ökonomischer Rahmenbedingungen zu sehen. Auch auf der politischen Ebene zeichnen sich im Vergleich mit der Ersten Republik merkbare Veränderungen ab. Nach der Wiedereinführung der rechtsstaatlich-parlamentarischen Demokratie im Jahr 1945 (auf Basis der Verfassung von 1929) waren die folgenden Jahrzehnte in politischer Hinsicht vor allem durch eine spezifische Konstellation auf Ebene der Regierung, der Parteien und der Verbände geprägt. In der Parteienlandschaft dominierte langjährig das Duopol von ÖVP und SPÖ (siehe z.B. Müller 2006) – mit einem hohen Konzentrationsgrad bei den Wahlen, mit einem im internationalen Vergleich ausnehmend hohen Organisa -tionsgrad (Mitglieder) und mit der Vorherrschaft in Parlament und Regierung. Das Ende der annähernd 20 Jahre andauernden Großen Koalition bis Mitte der 1960er Jahre bedeutete nicht, dass damit auch die Zusammenarbeit zwischen den Großparteien in der Zeit der Alleinregierungen (ÖVP: 1966–1970, SPÖ: 1970–1983) endete. Bei allen fortdauernden Unterschieden in den gesellschaftspolitischen Optionen und Strategien bestand in den Nachkriegsjahrzehnten eine weitgehende Übereinstimmung hinsichtlich der aktiven Rolle des Staates bei der Steuerung der ökonomischen und sozialen Entwicklung. Die Einbeziehung der selbständig Erwerbstätigen in die Sozialversicherung hat darüber hinaus zum Abbau traditioneller Frontstellungen gegen die Sozialpolitik à la Erste Republik beigetragen. Nicht zuletzt spielte die Sozialpolitik für die politische Legitimation der Parteien eine zunehmend größere Rolle. Sozialpolitik wurde zur Wahlpolitik.

Während der Zweiten Republik kam es zur Herausbildung eines weitläufigen Netzwerkes von Beziehungen zwischen den Interessenorganisationen sowie zwischen diesen und der Regierung – bekannt als „Sozialpartnerschaft“ bzw. „Austrokorporatismus“ (siehe Karlhofer/Tálos 1999; Tálos/Hinterseer 2019). Dieses Netzwerk bildete den Rahmen für Interessenakkordierung und zugleich für die international herausragende Form der Beteiligung der Interessenorganisationen an politischen Entscheidungsprozessen. Es fundierte auf dem erst für die Zweite Republik konstatierbaren Grundkonsens über gesamtwirtschaftliche Ziele: Wirtschaftsund Beschäftigungswachstum, Preis- und Währungsstabilität. In engem Zusammenhang damit stand der Konsens im Bereich der Sozialpolitik: Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung als Basis für die Sicherung und den Ausbau der Sozialpolitik. Diesem Selbstverständnis entsprachen Kompromissstrategien auf Ebene der Parteien und Interessenorganisationen, die in vielfach praktizierten politischen „Tauschakten“, vor allem im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik, ihren Niederschlag fanden. Interessenkonflikte und zum Teil heftige Auseinandersetzungen waren damit keineswegs ausgeschlossen. Es ging dabei allerdings lange Zeit nicht bzw. weniger um eine grundsätzliche Infragestellung der Ausrichtung des Sozialstaates überhaupt, als vielmehr um die konkrete Ausgestaltung arbeits- und sozialrechtlicher Regelungen, deren Entwicklungstempo, deren Reichweite und finanzielle Implikationen. Diesbezüglich differente Positionen zwischen Parteien und Interessenorganisationen verhinderten politische Lösungen nicht. Der sozialpolitische Entscheidungsprozess war weitaus durch Kompromisse, zum Teil durch Junktimierungen z. B. mit wirtschaftspolitischen Maßnahmen, und zeitliche Verschiebungen von Lösungen, zum kleineren Teil durch Alleingänge der jeweils allein regierenden Partei geprägt.

1.3. Das Profil des österreichischen Sozialstaates

Das allgemeine Profil des österreichischen Sozialstaates nach 1945 ist im Wesentlichen von fünf Bereichen bestimmt:

– die soziale Sicherung mit ihren beiden „Netzen“ Sozialversicherung und Sozialhilfe,

– die Regelungen der Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen (d.h. das Arbeitsrecht),

– die aktive Arbeitsmarktpolitik,

– der Komplex familienrelevanter Leistungen und

– die Versorgungssysteme.

In kompetenzrechtlicher Hinsicht gibt es eine Teilung zwischen Bund und Ländern. Ersterem kommt dabei traditionell allerdings ein merkbar größeres Gewicht zu – ablesbar an den Zuständigkeiten für die Kranken-, Unfall-, Arbeitslosen- und Pensionsversicherung, die Entschädigungssysteme sowie den überwiegenden Teil des Arbeitsrechts. Nur die Sozialhilfe fällt in die Kompetenz der Länder und Gemeinden. Der Bund hat diesbezüglich die Kompetenz zur Grundsatzgesetzgebung. Die familienrelevanten Leistungen werden in erster Linie vom Bund, daneben auch von den Ländern gewährleistet.

Die nähere Ausgestaltung des österreichischen Sozialstaates ist an folgenden Zielsetzungen und Prinzipien orientiert:

Zugang zum Leistungssystem sozialer Sicherung über Erwerbsarbeit und Ehe:

Die Einbindung in den Erwerbsarbeitsmarkt bzw. die Anbindung an eine Erwerbstätigkeit gilt seit den Anfängen im ausgehenden 19. Jahrhundert als zentrale Voraussetzung für den Zugang zu Leistungen der Sozialversicherung. Das damit angepeilte Ziel ist es, Erwerbstätige gegen die mit dem Eintreten sozialer Risiken und Lebenslagen wie Krankheit, Unfall, Alter und Arbeitslosigkeit verbundenen Konsequenzen, vor allem des Entfalls von Erwerbseinkommen, abzusichern. Durch die Anbindung an Erwerbsarbeit bleibt ein Teil der Bevölkerung von einer eigenständigen sozialen Sicherung ausgeschlossen: Frauen, die familiäre Arbeit leisten und nicht berufstätig sind, sind ebenso wie Kinder nur mittelbar als „Mitversicherte“ und „Hinterbliebene“ in die Sozialversicherung integriert. Dies bedeutet, dass der soziale Schutz nichterwerbstätiger Frauen sehr wesentlich von der Stabilität der Ehe abhing bzw. zum Teil heute noch immer abhängt. Zugleich sind andere Formen des Zusammenlebens im Hinblick auf die soziale Absicherung (z.B. in der Pensionsversicherung) mit der Ehe (noch) nicht insgesamt gleichgestellt. Nur in Teilbereichen sozialstaatlicher Leistungen (Familienbeihilfen, Gesundenuntersuchungen, Pflegegeld) wird die gesamte Wohnbevölkerung erfasst. Durch Möglichkeiten der freiwilligen Versicherung ist das System der Sozialversicherung teilweise für alle offen (de facto vor allem in der Krankenversicherung).

Äquivalenzprinzip und Lebensstandardsicherung:

Mit der Erwerbsarbeitsorientierung korreliert das Prinzip der Äquivalenzrelation zwischen der Höhe sowie Dauer der Beitragsleistung und der Höhe der Sozialleistungen. Dieses Prinzip dominiert bei Geldleistungen in der Krankenversicherung, beim Arbeitslosengeld und der Notstandshilfe sowie bei Alterspensionen. Deren bestimmendes Ziel ist die materielle Statussicherung. Die Sozialversicherung als dominante Form sozialstaatlicher materieller Absicherung reproduziert dabei die Einkommensungleichheiten (siehe z. B. Wetzel 2003) und die unterschiedliche Dauer der Arbeitsbiografien von Erwerbstätigen – und damit insbesondere die geschlechterdifferierende ökonomische und soziale Ungleichheit. Die durchschnittlich ungleichen Versorgungsniveaus von Männern und Frauen sind Beispiel dafür. Ausgenommen hiervon sind im Wesentlichen nur Sachleistungen (z.B. medizinische Versorgung), die Familienbeihilfen sowie (seit 1993) das Pflegegeld. Daneben wurde auch das Karenzgeld, obwohl es sich dabei eigentlich um eine Versicherungsleistung handelte, pauschal ausgezahlt. Ungleiche Niveaus der finanziellen Sozialleistungen resultieren über die Einkommensungleichheit hinaus aus den für verschiedene Gruppen lange Zeit bestehenden unterschiedlichen Regelungen (siehe Steiner/Wörister 1990). Im Unterschied zu den skandinavischen Ländernhatte die Idee einer materiellen Grundsicherung in Form von Mindeststandards (Grundpension, Mindestleistungen, feste Grundbeträge) in Österreich für die Gestaltung der Sozialversicherung auch nach 1945 wenig Gewicht. Statussicherung zielte in der Pensionsversicherung auf Lebensstandardsicherung. Darüber hinaus gibt es innerhalb dieser ansatzweise eine Grundsicherung, die so genannte Ausgleichszulage, mit welcher sehr niedrige Pensionen, d.h. also bei Notlage, auf einen gewissen Richtsatz angehoben werden.

Berufsgruppenspezifische Fragmentierung:

Seit ihren Anfängen in der Monarchie variiert die soziale Sicherung nach Berufsgruppen. Dies war bzw. ist ablesbar an eigenen Sozialschutzsystemen und arbeitsrechtlichen Normierungen für Angestellte und Arbeiter (mit Sonderregelungen für den Bergbau), Landwirte, Selbständige und den öffentlichen Dienst. Damit gingen unterschiedliche Sozialleistungen, Schutzrechte und Finanzierungsmodi einher. Diese berufsgruppenbezogenen Unterschiede sind zwar im Laufe der Zeit verringert, aber nicht gänzlich eingeebnet worden.

Subsidiarität staatlicher Hilfe:

Staatliche Hilfeleistung im Falle individueller Notlage – organisiert im Rahmen der Fürsorge- bzw. Sozialhilfepolitik (siehe Pfeil 2000; Dimmel 2003) – sollte nur dann in Anspruch genommen werden können, wenn es für die Hilfesuchenden keine anderen Möglichkeiten der Sicherung des Unterhalts gibt. Anders gesagt: Sozialhilfe ist nachrangig gegenüber dem Einsatz der eigenen Arbeitskraft, eigenen oder familiären materiellen Ressourcen sowie bestehenden gesetzlichen Leistungsansprüchen. Die Berücksichtigung familiärer Ressourcen, hier vor allem des Partnereinkommens, führte unter anderem dazu, dass insbesondere Frauen – etwa bei Arbeitslosigkeit, Invalidität und im Alter – in hohem Ausmaß auf den Unterhalt durch den Partner angewiesen sind.

Schutz der Lohnabhängigen im Arbeits- und Produktionsprozess:

Der traditionelle Schutzgedanke, der Schutz der unter kapitalistischen Produktions- und Arbeitsverhältnissen strukturell ökonomisch Schwächeren, ist im Lauf der Entwicklung der Sozialversicherung zunehmend von der Option staatlich geregelter Risikenvorsorge für alle Erwerbstätigen und ihre Familien überlagert worden. Dieser Schutzgedanke ist nach 1945 allerdings weiterhin eine der Grundlagen für die Regelung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen.

Versorgungsprinzip:

Unabhängig von eigener Beitragsleistung und Erwerbsarbeitszeiten kommt dieses ursprünglich auf Staatsbürger beschränkte Prinzip bei Schädigungen in Zusammenhang mit einer staatlich auferlegten Pflicht (z.B. Präsenzdienst, Impfpflicht bzw. Impfempfehlung) oder staatlichen Versagens (z.B. Verbrechensopfer, Opfer von Gewalt in Heimen) zur Anwendung. Es findet sich in den Kriegsopfergesetzen, dem Heeresentschädigungsgesetz, dem Verbrechensopfergesetz, dem Impfschadengesetz und zuletzt dem Heimopferrentengesetz aus 2017.

Während die drei ersten Zielvorstellungen und Gestaltungsprinzipien dominant die Sozialversicherung, das Subsidiaritätsprinzip die Sozialhilfe und das Schutzprinzip den Komplex arbeitsrechtlicher Regelungen fundieren, prägt das Versorgungsprinzip die Palette der einzelnen Entschädigungssysteme.

Mit diesem Profil an Zielsetzungen und Gestaltungsprinzipien zählt der österreichische Sozialstaat, vor allem dessen System der Sozialversicherung und der Familienpolitik, zu den konservativen Wohlfahrtsstaatsregimen (siehe Esping-Andersen 1990; Manow 2019): Die Leistungen sind in erster Linie an Erwerbsarbeit gebunden, sie sind berufsgruppenspezifisch organisiert und differenziert gestaltet. Sie dienen im Wesentlichen dem Statuserhalt bzw. der Kompensation des Erwerbseinkommens im Fall des Eintretens der Risiken Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und Alter.

Die Finanzierung der Leistungen des ASVG erfolgt überwiegend aus Beiträgen der Versicherten und ihrer Arbeitgeber, in der Pensionsversicherung seit der Zweiten Republik auch aus staatlichen Zuschüssen. Subsidiär zu den Leistungen der Sozialversicherung steht die Sozialhilfe. Die traditionelle Familienkonstellation mit ihrer geschlechterdifferierenden Arbeitsteilung spiegelt sich in der mittelbaren Einbindung von Familienmitgliedern in Teile des Systems sozialer Sicherung.

1.4. Ausgestaltung der Sozialpolitikbereiche
1.4.1. Sozialversicherung

Gesetzliche Normen

Die Sozialversicherung regelt die Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung. Der Sachverhalt, dass die Inklusion in sozialstaatliche Leistungssysteme entlang von Berufsgruppen erfolgte, spiegelt sich in den einschlägigen berufsgruppenspezifischen Gesetzen wider:

– das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz ist bezogen auf die Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung für Arbeiter/innen, Angestellte, freie Dienstnehmer/innen und Lehrlinge;

– das Beamten-Kranken- und Unfallversicherungsgesetz enthält Regelungen betreffend diese beiden Risiken und galt für Dienstnehmer/innen in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis;

– das Gewerbliche Sozialversicherungsgesetz regelte die Kranken- und Pensionsversicherung für selbständig Erwerbstätige und Neue Selbständige;

– das Sozialversicherungsgesetz der freiberuflich selbständig Erwerbstätigen war auf deren Pensionsversicherung bezogen;

– das Bauern-Sozialversicherungsgesetz normierte die Kranken-, Unfallund Pensionsversicherung der im land- und forstwirtschaftlichen Bereich Erwerbstätigen und

– das Notar-Versicherungsgesetz die Pensionsversicherung dieser Erwerbsgruppe.

Diese institutionelle Struktur wurde durch das Sozialversicherungsorganisationsgesetz aus 2018 geändert (siehe dazu unten 2.4.3.).

Die soziale Sicherung im Fall der Arbeitslosigkeit ist traditionell durch ein eigenes Gesetz geregelt und wird durch das AMS vollzogen.

Programme

Die Krankenversicherung umfasst Sach- und Geldleistungen: Zu ersteren zählen Leistungen wie die Anstaltspflege/Krankenhausbehandlung, die ärztliche Behandlung (mit einem zwischen den Berufsgruppen unterschiedlichen System von Selbstbehalten), Arzneien, Heilbehelfe und Hilfsmittel (z.B. Brillen, Rollstühle), Zahnbehandlung und Zahnersatz sowie Kuren. Kernpunkt der Geldleistung ist der Ersatz des krankheitsbedingten Entfalls des Erwerbseinkommens (durch Entgeltfortzahlung/Krankengeld) – mit lange Zeit zwischen Arbeitern und Angestellten variierender Dauer. Weitere Geldleistungen sind das Wochengeld für Mütter (acht Wochen vor und nach der Geburt) sowie der Bestattungskosten-Beitrag (im Fall der Bedürftigkeit der Hinterbliebenen). Gesetzgebung und Vollziehung im Gesundheitssystem obliegt dem Bund, die Ausführungsgesetzgebung ist Aufgabe der einzelnen Bundesländer (siehe Tálos/Wörister 1994, 142 ff.; Gottweis/Braumadl 2006, 759 ff.).

Die Unfallversicherung, deren Leistungen auf die Behandlung und Versorgung von Opfern eines Arbeitsunfalls oder einer Berufserkrankung ausgerichtet sind, gewährleistet ebenso Geldleistungen (Rente) wie Sachleistungen (Unfallheilbehandlung und Maßnahmen der Rehabilitation).

Die Arbeitslosenversicherung stellt die zentrale, nicht die einzige Versorgungsinstitution bei Vorliegen dieses Risikos dar. Der Bezug von Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe (als Anschlussleistung) ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Beim Arbeitslosengeld waren bis Ende der 1990er Jahre als Mindestanwartschaftszeit beim erstmaligen Bezug 52 Versicherungswochen in der Rahmenfrist von zwei Jahren, bei unter 25-Jährigen 26 Wochen innerhalb der letzten zwölf Monate vorgesehen. Dieses Erfordernis verringerte sich bei einer weiteren Inanspruchnahme. Die Dauer des Geldbezuges variierte je nach Versicherungszeit zwischen 20 bis 52 Wochen. Die Höhe des Arbeitslosengeldes erfuhr im gegenständlichen Zeitraum einige Veränderungen. Es betrug Ende der 1990er Jahre 58% des letzten Nettolohns. Für den Fall, dass das Arbeitslosengeld unter dem Sozialhilferichtsatz lag, wurde der Differenzbetrag von den Sozialhilfeträgern erstattet. Die Arbeitslosenversicherung kennt in Österreich keinen Mindeststandard, sehr wohl aber eine Anschlussleistung an das Arbeitslosengeld, die sog. Notstandshilfe. Diese ist bis heute an materielle Bedürftigkeit gebunden. Über das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe hinaus sind noch weitere Geldleistungen bei spezifischen Anlassfällen und Problemlagen vorgesehen. So gab es bei Teilnahme an Schulungsmaßnahmen der Arbeitsmarktverwaltung eine Beihilfe zur Deckung des Lebensunterhalts. Die Sonderunterstützung stellt eine Art Vorruhestandsleistung dar. Zu den einschlägigen Sozialleistungen zählen zudem die Sozialhilfe (Länder/Gemeinden) und familienpolitische Leistungen (Familienlastenausgleichsfonds).

Die Alterssicherung wird durch das System der Pensionsversicherung für annähernd alle Erwerbstätigen und das System der Beamtenversorgung gewährleistet. Dabei lassen sich verschiedene Formen unterscheiden: neben der normalen Alterspension gab es bis in die 2000er Jahre vorzeitige Alterspensionen nach verschiedenen Anlassfällen (wegen langer Versicherungsdauer, wegen Arbeitslosigkeit, wegen geminderter Arbeitsfähigkeit, die Gleitpension). Das Alterssicherungssystem weist – vor allem bedingt durch die Berufsgruppenorientierung – eine beträchtliche Differenzierung hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen und der Leistungsgestaltung auf. Die Erwerbsarbeitsorientierung und das Äquivalenzprinzip spiegeln sich im Niveau der Leistungen: Dieses bemisst sich nach Versicherungsdauer (Zeiten der Pflichtversicherung, der freiwilligen Versicherung, Ersatzzeiten wie die Zeit des Bezugs von Arbeitslosengeld, des Präsenzdienstes, der Kindererziehung) und den Erwerbseinkommen im Bemessungszeitraum, nicht zuletzt auch nach dem Pensionsantrittsalter. Die Entwicklung des Systems der Alterssicherung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beinhaltete neben diversen Leistungsverbesserungen auch wiederholte Änderungen betreffend Leistungsdauer und Festlegung des Bemessungszeitraums. So wurde beispielsweise letzterer von 60 Beitragsmonaten (bis 1984) auf 180 Monate (1987) bzw. auf die so genannten besten 15 Jahre (1993) erweitert. Das Maximum von 80% der Bemessungsgrundlage konnte in den 1990er Jahren nach 40 Versicherungsjahren und bei einem Pensionsantritt mit 60 Jahren (Frauen) bzw. 65 Jahren (Männer) erreicht werden. Die letzte „Reform“ vor Antritt der ÖVP-FPÖ-Regierung, die Pensionsreform aus 1997, brachte neuerliche Änderungen: so erste Ansätze einer Harmonisierung der Bemessungszeiträume zwischen Pensionsversicherung und Beamtenversorgung sowie die Kürzung der Leistungen bei Inanspruchnahme einer „Frühpension“ (bis maximal 10 Prozentpunkte). Einen einschneidenden Umbau des Pensionssystems realisierte die erste Schwarz-Blaue-Regierung in den Jahren 2003/04 (siehe näher dazu Obinger/Tálos 2006, 89 ff.; Wöss 2020; 2.4.1. i.d.B.).

Verwaltung durch Selbstverwaltung

Die Durchführung der Sozialversicherung oblag den zuständigen Versicherungsträgern. Deren Zahl betrug Ende der 1990er Jahre insgesamt 28, davon 19 Krankenkassen und 9 Versicherungsanstalten (Tabelle 1.2.). Den weitreichendsten Schritt zur Reduktion der traditionellen Palette von Sozialversicherungsinstitutionen brachte die Schwarz/Türkis-Blaue-Regierung im Jahr 2018.

Tabelle 1.2. Die österreichische Sozialversicherung


Die österreichische Sozialversicherung Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger
UnfallversicherungKrankenversicherungPensionsversicherung
9 GebietskrankenkassenPensions-Versicherungsanstalt der Arbeiter
Allgemeine Unfallversicherungsanstalt10 BetriebskrankenkassenPensions-Versicherungsanstalt der Angestellten
Versicherungsanstalt des österreichischen Bergbaues
Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft
Versicherungsanstalt der österreichischen Eisenbahnen
Sozialversicherungsanstalt der Bauern
Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter
Versicherungsanstalt des österreichischen Notariates

Quelle: Soziale Sicherheit 7/8 (1999), 597.

Als Dachverband fungierte der Hauptverband der Sozialversicherungsträger, dem die Wahrnehmung der allgemeinen Interessen der Sozialversicherung und die Vertretung dieser Träger in gemeinsamen Angelegenheiten zukam. Seit den Anfängen der Sozialversicherung im ausgehenden 19. Jahrhundert gilt in organisatorischer Hinsicht das Prinzip der Selbstverwaltung. Die Vertreter der Versicherten wurden im Unterschied zu Deutschland in Österreich nicht gewählt, sondern im Zeitraum von 1947 bis 1999 von den gesetzlichen Interessenvertretungen, den Kammern, entsandt – wobei traditionell in den meisten Organen die Zahl der Arbeitnehmervertreter/innen überwog. Am Beispiel des Hauptverbandes aufgezeigt: bis 1999 war die Vorstandskonferenz aus siebzehn Vertretern der Dienstnehmer und zehn der Dienstgeber, der Verbandsvorstand aus sechs bzw. vier, das Präsidium aus zwei bzw. einem Vertreter zusammengesetzt. Nur in der Kontrollversammlung gab es mit sieben Vertretern eine Mehrheit der Dienstgeber (gegenüber vier der Dienstnehmer).

Die Verwaltung wurde näherhin von folgenden Organen wahrgenommen: der Hauptversammlung (beim Hauptverband: Verbandskonferenz), dem Vorstand als geschäftsführendem Organ, der Kontrollversammlung sowie von Ausschüssen. Durch eine Reform der Organisationsstruktur mit der 52. ASVG-Novelle (in Kraft 1994) sollte dem Ziel einer verstärkten Versichertennähe Rechnung getragen werden – und zwar mit einer verbesserten Abgrenzung von Geschäftsführung und Kontrollorgan, mit einer deutlichen Verringerung der Zahl der Versicherungsvertreter in den Entscheidungsgremien (von 2701 auf 1017) und mit der Einbindung von Vertretern der Pensionisten und Menschen mit Behinderung (auf dem Weg von Beiräten). Der Hauptverband bestand nunmehr aus vier Organen: der Verbandskonferenz, dem Verbandsvorstand, dem Verbandspräsidium und der Kontrollversammlung. Auf Grund der dem Präsidium bzw. dem Präsidenten übertragenen Aufgaben wurde das Verbandspräsidium organisatorisch verselbständigt. Als Organe der einzelnen Sozialversicherungsträger fungierten die Generalversammlung, der Vorstand, die Kontrollversammlung und Ausschüsse. Einschneidende Veränderungen erfuhr diese Organisationsstruktur der Sozialversicherung unter beiden ÖVP-FPÖ-Regierungen.

Finanzierung

Die Finanzierung erfolgt aus verschiedenen Quellen: Die Aufwendungen der Sozialhilfe werden aus den steuerlichen Einnahmen der Länder und Gemeinden, die der aktiven Arbeitsmarktpolitik in erster Linie aus den Arbeitslosenversicherungsbeiträgen gedeckt. Die Finanzierung der familienpolitischen Leistungen erfolgt zum Großteil durch so genannte Dienstgeberbeiträge (als Prozentsatz der Lohnsumme), die Leistungen der Pensions- und Krankenversicherung in erster Linie durch Versichertenbeiträge, so genannte Arbeitnehmer- und Dienstgeberbeiträge. Seit der Einführung der Sozialversicherung im späten 19. Jahrhundert bildet die Lohnsumme die Basis für die Dienstgeberbeiträge. Es handelt sich dabei also um einen Lohnkostenbestandteil und nicht um eine zusätzliche Leistung der Unternehmen für die Beschäftigten. Der Bund trägt erst seit der Zweiten Republik maßgeblich zur Finanzierung der Pensionsversicherung bei. Es besteht diesbezüglich eine gesetzliche Verpflichtung.

Die Form der Finanzierung ist die des Umlageverfahrens: die laufenden Ausgaben einer Periode werden durch die laufenden Einnahmen aus derselben Periode gedeckt. Diese Einnahmen werden in erster Linie aus Beiträgen der Versicherten aufgebracht, die damit wieder Ansprüche auf eine zukünftige Altersversorgung erwerben. Die derart institutionalisierten Generationenverhältnisse werden meist mit dem Begriff „Generationenvertrag“ bezeichnet:

„Dieser fiktive Vertrag besteht darin, dass sich die erwerbstätige Generation zur Zahlung der Leistungen an die in Pension befindliche Generation verpflichtet unter der Annahme, dass sie selbst, wenn sie das Pensionsalter erreicht hat, von der dann erwerbstätigen Generation die Leistungen in gleicher Weise finanziert erhält …

Alle eingehenden Beiträge werden im Wesentlichen sofort wieder ausgegeben. Wie man sieht, kann dieses System nur funktionieren, wenn die erwerbstätige Generation in der Lage ist, die Pensionen für die Leistungsempfänger zu finanzieren. Offensichtlich ist diese Art der Finanzierung stark von der Altersstruktur der Bevölkerung abhängig …

Ändert sich die Altersstruktur in Richtung einer Überalterung der Bevölkerung, dann geht dies bei einer Finanzierung der Pensionsversicherung nach dem Umlageverfahren zu Lasten der Erwerbstätigen“ (Wolff 1989, 120).

Dieser „Generationenvertrag“ stellt einen Umverteilungszusammenhang zwischen dem überwiegenden Teil der erwerbstätigen und ehemals erwerbstätigen Personen dar. Gegenstand dieses Generationenverhältnisses (siehe Kaufmann 1997, 19 ff.) ist ein intergenerationaler Ausgleich. Ein intragenerationaler Ausgleich wird damit nicht bewirkt.

Der „Generationenvertrag“ fußt traditionell auf einem hohen Maß an Beschäftigung sowie auf der Akzeptanz der Bereitstellung der notwendigen finanziellen Ressourcen für die Sozialleistungen durch Beiträge der versicherten Erwerbstätigen und ihrer Arbeitgeber, zum kleineren Teil auch durch Zuschüsse aus dem staatlichen Budget. Die Sicherung des Generationenzusammenhalts ist damit an Bedingungen geknüpft, die in den Nachkriegsjahrzehnten weitgehend gegeben waren.

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9783706560863
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