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Читать книгу: «Ille mihi», страница 2

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Kaum hatte sich der Onkel Zehren-Kummerfelde gesetzt, so erhob sich der Vetter Zehren-Kandau und bewillkommnete die Braut in der »Familie«. Dies Wort mußte sicher mit lauter großen Buchstaben geschrieben sein, so feierlich wurde es ausgesprochen. Und Ilse erfuhr, daß die Zehren viel älter landeingesessen seien als das Herrscherhaus, zu dessen Throne sie bei allen Gelegenheiten emporblickten; sie hörte, wie Thilo und Witold Zehren einst der Schrecken der Straßen gewesen waren, und die Reisenden des Mittelalters Gott mit Zähren um Schutz vor den Zehren angefleht hatten; sie hörte, daß alle Zehrensche Burgen und Güter im dreißigjährigen Kriege zerstört worden seien, und noch heute die Wüste Teufelstrift öde und verlassen an der Stelle läge, wo einst blühende Gehöfte gestanden, die die Kaiserlichen und Schweden niedergebrannt hatten. Das erste Haus, was nach jenen Schreckensjahren von dem einzig überlebenden Zehren, Kaspar Zehren, wieder aufgebaut worden war, hatte er dann »Weltsöden« genannt. Und Segen hatte auf diesem Hause gelegen, es war zum Stammsitz des seitdem weitverzweigten Geschlechts geworden, die jüngeren Linien Zehren-Kummerfelde, Zehren-Kandau, Zehren-Wansen waren aus ihm hervorgegangen. Ja wahrlich, Gottes Verheißung: Dein Same soll sein wie Sand am Meere, war an den Zehren in Erfüllung gegangen! – Sie alle hatten dann als Staatsbeamte und Militärs, vor allem aber als Landjunker, jene kernigen Eigenschaften besessen, von denen man wohl sagen darf, daß die Größe Preußens auf ihnen beruht, erklärte der Redner mit biederer Selbstgefälligkeit, und ihre Frauen hatten sämtlich auch noch zum guten alten Schlag gehört, wo die Frau in den Interessen des Mannes aufgeht und nichts eigenes mehr kennt; eine jede von ihnen hatte auch das Hab und Gut der Familie wacker gemehrt. – Als Schlußeffekt erwähnte dann Vetter Zehren-Kandau, daß ein Ahnherr eine vom Landesfürsten einst beabsichtigte Standeserhöhung abgelehnt habe, weil kein Menschgeborener einen Zehren zu erhöhen vermöchte.

Die Rede sollte eigentlich Ilse gelten, aber es war eine Eigentümlichkeit aller Zehren, daß sie stets auf die eigene Bedeutung zu sprechen kamen, und als der Kandausche Vetter sich setzte, hatte er so viel Rühmliches über »die Familie« gesagt, daß Papa, der nun aufstand und auf sie sprechen wollte, kaum Neues mehr hervorzuheben fand. So entstand denn ein allgemeines Hochrufen und Anstoßen auf das Brautpaar. Dabei fiel Ilses neuer Ring, der die Tendenz hatte herabzugleiten, von ihrem schlanken Finger nieder und rollte auf den Tisch. »Ich glaube, wir müssen ihn wirklich etwas enger machen lassen,« sagte sie zu Theophil, aber Frau von Zehren warf ein: »Trag ihn doch vorläufig auf dem Zeigefinger, denn in Weltsöden sollst du mir schon dicker werden, da rutscht er nicht mehr herunter; Zehrensche Eheringe halten fest.«

Nach dem Essen stand man noch etwas bei Kaffee und Zigarren herum, und es wurde die blöde Glücksstimmung zur Schau getragen, in der sich die Menschen bei Verlobungen nun einmal gefallen, als habe noch niemand je von unglücklich ablaufenden Ehen gehört. Über den Likörgläsern machten Onkel und Vettern mit geröteten Gesichtern allerhand täppische Späße und flüsterten in wohl vernehmlichen stimmen Theophil all die zarten Neckereien ins Ohr, die, nach ihrem ländlich derben Geschmack, der Gelegenheit zu entsprechen schienen. Während dem wurde Ilse von Tanten und Basen gemustert und beurteilt und bekam noch viel über Weltsöden und die Familie zu hören.

Aber es wurde bald aufgebrochen, denn eigentlich war man sich doch ganz fremd. Die des Stadtlärms ungewohnten Landdamen gähnten schon längst verstohlen vor sich hin und sehnten sich, schlafen zu gehen, während die Herren im Gegenteil nur darauf brannten, den Frack mit dem keuschen weißen Kreuze gegen unscheinbarere Tracht zu vertauschen, um dann den angebrochenen Abend in Berliner Lokalen möglichst fidel zu beschließen.

»Heiliger Theophil, du mußt mit!« riefen die Jüngeren.

»Kindings, das schickt sich doch nicht für einen Bräutigam!« warf Onkel Eiffel-Zehren ein.

»Ach was! Nicht wahr, er darf doch? Du gibst ihm Urlaub, Cousinchen?« wandten sich einige Vettern lärmend an Ilse. Und ein ganz junger sagte beruhigend mit verschwommenen weinseligen Äuglein: »wir werden schon auf ihn achtgeben.«

»Achtgeben? Das hat unser Theophil doch nicht nötig,« rief ein anderer.

Während die Gesellschaft noch also im Hotelflur stand, und Mäntel und Hüte aus der Garderobe gebracht wurden, trat von der Straße kommend ein großer, schlanker Mann durch die Drehtüre ein. Sobald er Theophil erblickte, kam er auf ihn zu, und sie begrüßten sich wie alte Bekannte.

»Also Sie sind wieder in Deutschland?« fragte Herr von Zehren, »ich vermutete Sie in Petersburg?«

»Ach nein, von dort bin ich längst fort,« antwortete der Fremde. »Zuletzt war ich in Japan und augenblicklich habe ich einige Wochen Urlaub. – Doch Sie selbst? was führt Sie nach Berlin? ich dachte, Sie lebten jetzt ganz auf Ihrem Gute?«

»Allerdings, seit dem Tode meines Bruders ist das ja meine erste Pflicht,« antwortete Zehren gemessen, »denn nichts kann auf dem Lande die Aufsicht des Herrn ersetzen. Aber ich habe mich verlobt, und meine Mutter hat gerade heute hier ein Familiendiner für uns gegeben. Sie müssen meine Braut kennen lernen,« und sich zu Ilse wendend, sagte er: »Erlaube mir, dir Baron von Walden vorzustellen.«

Der Fremde verbeugte sich tief vor Ilse, und als er sie dann anblickte, fuhr sie plötzlich zusammen. Beinahe erschrocken, wo hatte sie denn schon solche Augen gesehen? und woher kam ihr sein ganzes Wesen so bekannt vor? woran erinnerte er sie nur? – Wie ein verblaßtes, aus weiter Vergangenheit auftauchendes Bild sah sie da, während eines kurzen Augenblicks, das Gesicht des blauen Ritters ihrer frühesten Träume noch einmal vor sich – aber schon war es fern, fern, wie in dichtem Nebel zerflossen. – Glich Herr von Walden etwa jenem? – Seltsam! sie konnte sich jetzt auf die einst so wohlbekannten Züge nicht mehr genau besinnen – es war, als habe der Fremde sie da in dieser Sekunde aus ihrem Gedächtnis verwischt.

»Wer war denn das?« fragte sie, als er sich empfohlen hatte und starrte ihm nach wie einer rätselhaften Vision.

»Wolf von Walden?« sagte Herr von Zehren gleichgültig, »oh, den kenn ich schon lange. Er kam auf die Universität ein Semester ehe ich abging, und jetzt ist er in der Diplomatie.«

»Wolf von Walden,« wiederholte Ilse leise, als sei es eine geheimnisvolle Zauberformel, deren verborgenen Sinn sie hinter dem melodischen Klange suche, »Wolf von Walden – ich habe doch den Namen noch nie gehört.«

»Nein, wahrscheinlich nicht,« antwortete Herr von Zehren, »er stammt nämlich aus einer Familie Siebenbürger Sachsen und erst er ist als ganz junger Mensch nach Deutschland zurückgewandert.«

»Warum tat er das denn?« fragte Ilse, und es war ihr dabei, als zwänge sie fremder Wille zu fragen.

»Na, vermutlich, weil die Deutschen sich dort nicht sonderlich wohl fühlen,« erwiderte Herr von Zehren. »Und er ist jemand, der sich gern betätigen und hervortun möchte. Schon als Student hatte er allerhand hohe Ziele und Ideen, schwärmte für ein Großdeutschland und solche gute Dinge.«

»Oh, das finde ich schön,« sagte Ilse wie träumend, »jemand, der von weither zu seiner ursprünglichen Heimat zurückkehrt und nun etwas ganz Großes für sie leisten möchte.«

»Na ja,« antwortete Zehren gönnerhaft, »ist ja auch ganz nett – aber eigentlich haben wir in Deutschland Deutsche genug.«

»Morgen um acht Uhr holst du mich ab,« hatte Frau von Zehren nach dem Diner zu Ilse gesagt, »hier in der Stadt sind die Leute ja alle Langschläfer, da findet man früh die Läden leer und kann in Ruhe aussuchen.«

Und so geschah es. Frau von Zehren hatte eine lange Liste all dessen aufgestellt, was in Weltsöden fehlte, und danach wurde nun Ilses Ausstattung zusammengesetzt. Dieses Ergänzungsverfahren war zwar praktisch und den Begriffen Zehrenscher Weltordnung wohl angemessen, aber für Ilse bot es wenig Befriedigung; sie konnte kein Interesse an all diesen vereinzelten Stücken gewinnen, die zu lauter ihr unbekannten Sachen passen sollten. Und während Frau von Zehren Heißwasserkannen und Linoleumteppiche für einige Fremdenzimmer bestellte, wo diese Dinge gerade schadhaft geworden sein sollten, schweiften Ilses Gedanken weit ab. was konnten das wohl für große Ziele sein, die für Deutschland zu erreichen waren? fragte sie sich sinnend. Und ihre Phantasie malte ihr abenteuerliche Entdeckungszüge in dunkle Erdteile aus und Verhandlungen mit wilden schwarzen Häuptlingen, worin diese, gegen einige Schnüre Glasperlen, weite Gebiete zur Besiedlung an blonde germanische Männer abtraten. – Über solche Bilder sah sie gar nicht die Emailwaschgeschirre, die Frau von Zehren für Dienstboten kaufte.

In einem Laden aber erwachte doch ihr Interesse. Da hatte man ihr weiße Möbel mit großblumigen Kretonnebezügen gezeigt, und sie rief: »So möchte ich mein eigenes Schlafzimmerchen haben!« Aber Frau von Zehren antwortete mit entschiedenem und alles weitere abschneidendem Tone: »Euer Schlafzimmer ist überhaupt fix und fertig. Es ist dasselbe, was mein seliger Mann und ich bewohnt haben, und wo auch mein Theophilchen geboren wurde. Die Einrichtung ist noch wie neu, Nußbaum mit hellbraunem Rips und Straminborten, die ich alle selbst zu meiner Aussteuer gestickt habe. Man war zu meiner Zeit fleißig mit der Nadel.«

Danach überließ Ilse alles ganz der Schwiegermutter, was diese selbstverständlich zu finden schien. Auch Theophil gab ja in allem seiner Mutter nach; er hatte sonst recht entschiedene Ansichten, wie Ilse allmählich erkannte, aber vor einer Einsprache der herrischen alten Dame wichen sie sofort. – Frau von Zehren verstand es eben meisterhaft, sich überall Geltung zu verschaffen; sogar die Berliner Ladenkommis flogen bei den Befehlen dieser Landedeldame mit der lauten Stimme, den langen flachen Hängebacken, listigen Äuglein und großen groben Händen, die so genau Leinwand auf Wert oder Unwert zu befühlen verstanden. – Als sie aber einmal in einem Laden nicht rasch genug bedient wurde, sah sie den Verkäufer durchbohrend an und sagte: »Guter Mann, sie scheinen nicht zu wissen, mit wem sie zu tun haben: Ich bin die Frau von Zehren auf Weltsöden.« – Und merkwürdigerweise wirkte es auf den verdutzten Jüngling, als habe sie gesagt: Ich bin der Polizeipräsident von Berlin.

Die mit Besorgungen angefüllten Berliner Tage glitten an Ilse vorüber wie der wirre Fiebertraum einer kranken Wirtschaftselevin. Allerhand ernsthafte, langweilige Dinge, Kupferkasserollen und Staubtücher, Spirituslampen und Bettvorleger, die alle seltsam bedrohliche Fratzen zu schneiden schienen, zogen da in feierlicher Polonaise vorüber. Sie wußten, das wichtigste für eine Ehe waren sie. Und Frau von Zehren erwies sich als unermüdlich in der Beschaffung dieser sicheren Grundlagen des neuen Hausstandes. Sie ließ Ilse dabei kaum zu Atem kommen, denn sie sagte: »Unnütz solle man nicht in den teueren Berliner Hotels herumhocken und nicht mehr als durchaus nötig gutes Geld vom Lande an die Städter verausgaben.«

Als Ilse dann wieder mit Papa zurück war in ihrem heimatlichen Städtchen, ging auch dort die Zeit schneller vorüber als je zuvor, und plötzlich war der Herbst und mit ihm der Hochzeitstag gekommen. – Ilse hatte einmal nach Weltsöden geschrieben, wie schön es doch sein würde, eine kleine Hochzeitsreise nach Italien zu machen, aber Theophil antwortete, daß er dazu leider keine Zeit haben werde, da er die Arbeiten in Wüste Teufelstrift selbst überwachen müsse. Frau von Zehren, der ihr Sohn offenbar Ilses Brief mitgeteilt hatte, schrieb ihrerseits: »Sie halte nichts vom faulen Herumlungern in welschem, katholischem Lande als Beginn eines norddeutschen Ehelebens – die Ehe sei kein Spaß, sondern die Übernahme ernster Pflichten gegen Land und Bevölkerung, man solle daher auch dort beginnen, wo man von rechtswegen hingehöre.«

Ernste Pflichten. Ja, ja, die wollte Ilse ja auch übernehmen, waren es denn nicht gerade die, die sie zuerst angelockt hatten? Ja – ja – aber – sie war doch vielleicht schon etwas weniger pflichtenthusiastisch als damals bei der Verlobung – und es blieb doch recht schade, daß die Reise nach Italien aufgegeben werden mußte.

Von ihrem Hochzeitstag erinnerte sie sich wenig. Wenn sie später daran zurück dachte, war es mehr ein theoretisches Rekonstruieren, wie es alles gewesen sein mußte. Die vielen Zehren und Saßmacken, die geschäftige Aufregung von Greinchen, der längs des gutmütigen Bulldoggengesichts beständig Tränen herabsickerten, die Feierlichkeit des alten Friedrich. Die Trauung hatte in der Stadtkirche auf dem Marktplatz stattgefunden. Theophils neun lange und eckige Nichten hatten mit allzu hohen Stirnen und straff zurückgekämmtem weißblonden Haar als Brautjungfern hinter ihr gestanden; die eine hatte gerade ein Gerstenkorn und die andere eine entzündete Oberlippe. Dann mußte wohl das Dejeuner gekommen sein mit den Reden und dem Vorlesen der von allerhand Ilsen meist unbekannten Menschen gesandten stereotypen Glückwunschtelegramme. – All das war unpersönlich und konnte bei vielen anderen Hochzeiten genau ebenso gewesen sein.

Nur an einen Augenblick erinnerte Ilse sich später als an ihr eigenstes Erlebnis. Als sie schon ihr Reisekleid angehabt hatte, blieb sie noch einmal am Fenster des Eckzimmers stehen und schaute hinüber zu dem großen Garten; die alten Bäume rauschten im Herbstwind, und die Rehe hatten sich eng aneinander gedrängt, unter ihrem Schutzdach vor dem beginnenden Regen geborgen. Papa war hereingekommen, um ungestört von ihr Abschied zu nehmen und da, ganz plötzlich, hatte sie sich ihm in die Arme geworfen, wie noch nie im Leben, mit einer sinnlosen, rasenden Angst im Herzen, die wie ein Ertrinken war. Sie hatte kein Wort herauszubringen vermocht, so sehr schüttelte sie ein krampfartiges Weinen. Und Papa hatte auch die Fassung verloren. Er klopfte sie unablässig auf die Schulter und sagte in einem fort: »Es ist ja gar nicht so schlimm, es ist ja gar nicht so schlimm.« Und bei diesen immer wiederholten Worten mußte Ilse, ebenso unvermittelt wie sie geweint, nun auf einmal lachen – denn gerade so und mit demselben Tonfall hatte ihr Papa einst zugeredet, wie sie als Kind krank gewesen und die Arznei nicht hatte nehmen wollen: »Sie schmeckt gar nicht so bitter, sie ist wirklich nicht so bitter.«

In diesem Augenblick hatte Frau von Zehren ins Zimmer geschaut und ungeduldig gemahnt: »Ilse, Ilse, es ist die höchste Zeit, der Wagen wartet.« Als sie aber das tränenüberströmte Gesicht ihrer Schwiegertochter erblickt, hatte sie sie mit kräftig zugreifenden Händen bei den Schultern gepackt und gerufen: »Ich glaub gar, du weinst? Du gehst doch in dein Glück! So einen Mann wie mein Theophilchen kriegt wahrhaftig nicht jedes Mädchen!« »Sie müssen das Kind entschuldigen,« hatte Papa sanft geantwortet.

Dann hatte Ilse plötzlich mit Theophil im geschlossenen Wagen gesessen, und in dem stärker und stärker gegen die Scheiben klatschenden Regen war es die Breitestraße hinunter und zum Bahnhof gegangen. In dem Eisenbahnkupee, als der Zug aus der Halle gerollt war, und die Stadt mit der nächsten ihr noch wohlbekannten Waldumgebung verschwand, und die Gegend fremd, wie ein neues Leben, wurde, hatte das krampfartige Weinen Ilse noch einmal gepackt, stumm und unbeholfen saß Herr von Zehren ihr gegenüber, in dem großkarrierten Reisemantel und einer ebensolchen Mütze, die für seinen Kopf etwas zu weit war. Seine langen, ungelenken Beine sprangen über den Sitzplatz weit vor, so daß seine mageren Kniee ihr Kleid streiften. Er tat ihr plötzlich leid, so daß sie noch schluchzend sagte: »Du mußt mir nicht böse sein.« Und Theophil antwortete feierlich: »Ich achte deine Gefühle, liebes Kind; sie sind mir eine Bürgschaft für die Zukunft, denn eine anhängliche Tochter wird sicher auch eine pflichttreue Frau werden.« – Da schlug Ilses Weinen unvermittelt in Lachen über, und sie rief: »Oh Theophil, genau dasselbe hat ja der Pastor heute früh bei der Trauung gesagt.« – »Ja,« antwortete er gemessen, »es war eine gute Rede – und nun – da wir ja hier allein sind, gestattest du wohl, daß ich mir eine Zigarre anzünde, ich kam nach dem Dejeuner nicht mehr dazu, und sie fehlt mir nach dem Essen.«

Abends spät trafen sie in Berlin ein. Dort wollten sie die Nacht bleiben und am nächsten Morgen weiterreisen nach Weltsöden.

Und nun war der nächste Morgen gekommen, wie auch solche Morgen schließlich einmal kommen. – Sie standen unten im Bahnhof Friedrichstraße. Ihr Mann nahm die Billette und gab das Gepäck auf. Er hatte nicht viel Übung im Reisen und schien nervös und hastig. Dadurch dauerte es sehr lange. Sie wartete etwas abseits beim Handgepäck. Mit großen Augen, in denen ein neuer, erschreckter Ausdruck lag, starrte sie vor sich hin. Unaufhörlich fuhren Droschken vor. Koffer, die von dem noch immer niederströmenden Regen durchnäßt waren, wurden von draußen angeschleppt und dann am Gepäckschalter nach den verschiedensten Weltgegenden aufgegeben – arme, zerstoßene, in dem grauen Wetter kläglich aussehende Dinge, die willenlos hierhin, dorthin mußten, nach fremdem Geheiß. Ist man denn selbst etwas so sehr anderes? dachte Ilse.

»Guten Morgen, gnädigstes Fräulein!« tönte es da plötzlich an ihr Ohr.

Überrascht wandte sie sich um.

»Herr von Walden?« sagte sie erstaunt und empfand wieder bei seinem Anblick jenes unerklärliche Gefühl, als habe sie ihn schon lange gekannt und fände ihn wieder.

Er hatte die Zigarette, die er rauchte, fortgeworfen und war zu ihr getreten; sie fühlte, daß er sie forschend betrachtete.

»Welch reizendes Zusammentreffen,« sagte er, »aber kann ich Ihnen nicht vielleicht irgendwie behilflich sein?«

»Oh nein, ich danke Ihnen,« antwortete sie, »ich warte nur … auf … die Billetts. Aber,« setzte sie hastig hinzu, »was tun Sie hier? verreisen Sie?«

»Ja,« antwortete er, »mein Urlaub ist abgelaufen, und ich stehe gerade im Begriff, mich auf meinen neuen Posten zu begeben – nach Marokko.«

»Ach,« rief Ilse sehnsüchtig, »wie schön muß das sein, solche Reisen machen zu können.«

»Ich freu mich auch sehr darauf,« sagte er, »aber Sie selbst, gnädigstes Fräulein, reisen doch auch, was ist denn Ihr Ziel?«

»Wir … wir fahren … nach …«

In diesem Augenblick kam Theophil, erregt und geschäftig, vom Gepäckschalter zurück. »Na endlich ist das erledigt,« sagte er, »was hat man mit den Kerls für eine Schererei! Nun komm aber rasch hinauf, liebes Kind! Da hast du dein Billett, du mußt es oben vorzeigen – aber verlier es nur nicht.« Jetzt erst gewahrte er Walden, der neben Ilse stand und verwundert von ihr zu ihm schaute, »Was, sie sind da, Walden? Guten Tag! Guten Tag! Aber verzeihen Sie! Wir müssen schnell hinauf!«

»Ja, mit welchem Zuge reisen Sie denn?«

»Schnellzug nach Sandhagen.«

»An der Ostbahn? Oh, da haben Sie noch Zeit. Na, ich begleite Sie hinauf, mein Zug geht ein paar Minuten nach dem Ihrigen.«

Während Herr von Zehren mit langen Schritten voranstürmte, hatte Walden Ilses Handtäschchen genommen und schritt neben ihr die Treppe hinauf.

»Also Sie sind schon verheiratet?« sagte er, und in seiner Stimme war jetzt ein anderer Klang.

»Ja,« antwortete sie leise, »seit gestern.«

»Wie … seltsam … ist doch das Leben,« murmelte er vor sich hin, und dabei fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er irgend eine Vorstellung verscheuchen.

Und wieder fühlte sie, daß er sie einen Augenblick forschend betrachtete, als läse er in ihren Zügen etwas Neues, etwas, das gestern noch nicht darin gestanden.

Da senkte sie die Augen.

Als sie wieder aufblickte, waren sie oben in der großen Bahnhofshalle angelangt. Er schaute sie jetzt nicht mehr an, sondern sprach mit Theophil.

»Ein interessantes Land, Ihr neuer Posten!« hörte sie ihren Mann zu Walden sagen.

»Ja,« antwortete dieser, »und eines der letzten, wo noch nicht alles an andere vergeben ist – es wäre schön, wenn sich da etwas für Deutschland machen ließe.

»Na, na,« meinte Theophil, »machen Sie man dort vor allem keine Verwicklungen! Schwärmer wie Sie haben schon oft Feuer und Blut über die Welt gebracht, und das Fatale bei solchen Geschichten ist, daß wir Steuerzahler nachher dafür aufkommen müssen, und daß die sozialdemokratischen Stimmen dadurch anwachsen.«

»Ich gehe ja nur als bescheidener Sekretär hin,« erwiderte Walden lachend, »da werde ich schwerlich Gelegenheit haben, ein Muspili zu entfachen.«

»Na Gottlob!« sagte Theophil und setzte dann hinzu: »Und wenn Sie das nächstemal auf Urlaub kommen, so besuchen Sie uns doch in Weltsöden.«

»Es wäre schon möglich, daß ich mal in Ihre Gegend käme,« antwortete Walden, »mein früherer Chef, Helmstedt, ist doch wohl Ihr Nachbar?«

»Sogar mein allernächster. Aber er ist bisher immer nur kurz dagewesen – die Gräfin hat, fürchte ich, keinen rechten Sinn für unser norddeutsches Landleben – aber vielleicht sind sie jetzt nach seinem Rücktritt mehr in Frohhausen.«

Doch da donnerte der Zug auch schon dröhnend und dampfend in die Halle. Die Waggontüren flogen auf. Eilige Menschen stiegen aus den Wagen, noch eiligere klommen hinein. Hurtige Träger belegten Plätze mit Handgepäck.

Nun lehnte Ilse am offenen Fenster ihres Abteils. Walden stand mit abgenommenem Hute unten auf dem Bahnsteig.

»Also – gute Fahrt!« rief er hinauf.

»Ihnen auch – glückliche Reise,« antwortete sie von oben.

Dann ging es wie ein plötzliches Erschauern durch die lange Reihe großer schwerer Wagen. Der Zug setzte sich in Bewegung.

Ilse schaute noch einmal zurück, und da war ihr, als habe sich Waldens Gesicht in dieser Sekunde völlig verändert – woher kam das Mitleid, die Trauer, die Ungeduld, in die sie da blickte? Wozu machte er die paar raschen Schritte dem Zuge nach, als wolle er ihn anhalten? Was hatte das zu bedeuten?

Aber schon waren sie aus der Bahnhofshalle heraus, ehe sie recht wußte, ob sie das alles denn auch wirklich gesehen hatte.

»Seltsam,« sagte sie sinnend, »wie wir diesem Herrn von Walden begegnen! Zuerst gleich nach unserer Verlobung und jetzt wieder gleich nach unserer Hochzeit – hat es nicht etwas – etwas Schicksalhaftes?«

»Schicksal,« antwortete ihr Mann, »ist ein Wort, das man nicht gebrauchen sollte – wir haben Pflichterfüllung und Gottvertrauen.«

Dabei zog er aus der Tasche seines großkarrierten Mantels die Kreuzzeitung, schob sie Ilse hin und vertiefte sich dann selbst in eine Broschüre über die Maul- und Klauenseuche.

Ilse hatte sich in die entfernteste Wagenecke gesetzt, wo seine weit vorspringenden Kniee ihr Kleid nicht streifen konnten. Sie schloß die Augen.

Es war später Nachmittag, als der Zug in Station Sandhagen hielt. Aus den tief hängenden Wolken drieselte ein feiner kalter Regen herab auf das weite, sandige, ewig dürstende Land. Ganz flach dehnte es sich aus, nur stellenweise anschwellend zu einstmaliger Dünenbildung. Kümmerliche, nordischem Krummholz gleichende Kiefern wuchsen da kärglich, alle durch den stetig wehenden Ostwind wie in trauernder Sehnsucht gen Westen geneigt. Die Stadt selbst lag weiter landeinwärts, man sah ihre Umrisse mit dem einen mächtigen Trutzturm grau in grau am Horizonte verschwimmen.

Einige Honoratioren waren von dort zur Station gekommen, um Herrn von Zehren zu beglückwünschen und als erste daheim erzählen zu können, wie die junge Weltsödensche Frau denn eigentlich ausschaue. Mit diesen stämmigen, vierschrötigen Herren mußte ein Glas geleert werden in dem kleinen Bahnhofsrestaurant, wo Töpfe mit verkümmerten Myrten am Fenster standen und auf der schokoladefarbenen Tapete, zwischen allerhand agrarischen Anzeigen, ein Öldruckbild der unglücklichen Königin Luise prangte, die einst in dieser Gegend auf ihrer Flucht gerastet haben sollte.

Jochem der Kutscher und Jürgen der Knecht, beide mit arg verregneten hochzeitlichen Sträußen im Knopfloch, verluden mittlerweile die Koffer zwischen Stroh auf dem Leiterwagen und breiteten eine Plane darüber; darauf fuhr Jürgen damit ab.

Als man dann endlich aus dem Bahnhofsgebäude heraustrat, sagte Herr von Zehren: »Aber Jochem, du hast ja den geschlossenen Wagen genommen?« »Ich dachte doch,« antwortete Jochem und kratzte sich hinterm Ohr, »von wegen die junge gnädige Frau, die doch aus der Stadt ist.« »Aber jetzt ist sie eine Landfrau, Jochem, und mit dem offenen Jagdwagen wären wir viel rascher vom Fleck gekommen.« – »Ja, zwei Stunden werden die Herrschaften bei den Wegen heute schon brauchen,« meinte der Stationsvorsteher, der Ilse in die schwere geschlossene Kutsche half. Dann stieg Theophil ein, Jochem knallte mit der Peitsche, an die er ebenfalls ein kläglich herabhängendes Sträußchen befestigt hatte, und das Gefährt setzte sich in Bewegung.

»Fatale Gewohnheit der Leute, dies Biertrinken,« knurrte Herr von Zehren nach einer Weile, »ich fürchte, die Kälte ist mir auf den Magen gefallen – aber weißt du, die Stadt Sandhagen wählt mit in unserem Kreise, und die Sozialdemokraten wühlen da schon gerade genug gegen uns – drum darf man‘s eben mit den paar guten Elementen nicht verderben.«

Nach einigen Minuten Fahrt hielt der Wagen, und durch die vordere Fensterscheibe gewahrte Ilse, wie Jochem oben auf dem Bock den Zylinder mit der Kokarde abnahm, ihn sorgfältig in eine Hutpappschachtel tat, die er hinter seinen Beinen wohl verborgen hielt und statt dessen eine Livreemütze aufsetzte. Dann ging es weiter.

Es dunkelte rasch. Ilse konnte bald nichts mehr von der Gegend unterscheiden. Sie fühlte nur, daß der Wagen die Chaussee verlassen hatte und dann auf tiefem Sandweg schwer und langsam weiter fuhr in die Finsternis hinein. An einigen besonders schwierigen Stellen hörte sie Jochem den Pferden ein ermunterndes »Man tau, man tau« zurufen – oder war das Papa, der zu ihr sagte: »Es ist nicht so schlimm, es ist nicht so schlimm« – sie wußte nicht mehr, was wirkliches Erleben, was träumendes Erinnern war. Aber sie mußte dann doch wohl eine Zeitlang fest geschlafen haben, denn plötzlich schreckte sie auf, konnte sich zuerst gar nicht recht besinnen, wo sie war und hörte dann Herrn von Zehren sagen: »Gleich werden wir ankommen.«

Der Wagen war in einen weiten Hof eingebogen. Auf der einen Seite sah Ilse hoch oben an einem Gebäude ein Transparent, an dem das Wort »Willkommen« in dem immer heftiger wehenden Winde unruhig hin und her flackerte, noch einmal aufflammte und dann zu erlöschen schien.

»Das hat der Verwalter am Giebel des Wirtschaftsgebäudes angebracht,« erklärte Theophil, »drüben auf der anderen Seite wohnen wir.«

Nun hielten sie vor dem Herrenhause. Aus der weit geöffneten Tür fiel Lichtglanz hinaus ins Dunkel, viele Menschen standen da wartend. Und Theophil stellte vor: Der Verwalter Rumkehr und seine Frau, die Hofmeister der Vorwerke, der Förster. »Na Treumann,« unterbrach er sich, »Sie haben sich ja auch mittlerweile mit der Anne Dore verheiratet?«

»Zu Befehl, vor vier Tagen,« antwortete strammstehend der große junge Förster, von dessen gebräuntem Gesicht die blaßblonden Haare und Brauen und die blauen Augen beinahe weiß abstachen.

»Und wo ist denn Ihre Frau?«

Eine junge rosige Frau, die mit strahlenden Augen zu dem Förster aufschaute, trat vor.

Wie glücklich sie aussieht! dachte Ilse, während Herr von Zehren weiter zu Treumann sprach: »Morgen komme ich raus und seh nach, wie weit Ihr in Teufelstrift seid.«

»Morgen schon?« entfuhr es dem erstaunten Förster.

»Gewiß,« antwortete Herr von Zehren feierlich und so laut, daß alle Umstehenden ihn hören mußten, »denn das Bewußtsein, eine Familie gegründet zu haben, muß uns erst recht mit neuem Arbeitseifer erfüllen.«

Und dann nannte er Ilse die noch übrigen, den Gärtner, seine Gehilfen, die Gartenweiber, den Schweizer, den Schäfer, die Mamsell, den Diener, die Mädchen.

Es waren beinahe lauter Leute aus der Gegend, die zum Teil schon lange auf dem Gute waren. Aus ihren meist wässerig blauen Augen schauten sie Ilse prüfend, aber ohne sonderliches Wohlwollen an: Sie war die neue Frau – ja – aber sie war vor allem eine Fremde, und vorläufig würde man sich ihr gegenüber abwartend verhalten. Unwillkürlich empfand das Ilse, und die wohlbekannten Gesichter der Leute daheim bei Greinchen stiegen in ihrer Erinnerung auf; sie hätte so gern ihr eigenes langgewohntes Mädchen von dort mitgenommen, aber Frau von Zehren hatte dagegen entschieden: »Fremde paßten nicht nach Weltsöden.«

Von den Menschen blickte nun Ilse zu den Dingen. An den Türen waren Girlanden aus Tannenreisern und Herbstlaub angebracht. Georginen saßen darin wie bunte regelmäßige Rosetten.

»Wie hübsch Sie alles geschmückt haben,« sagte Ilse freundlich.

»Ach wir hatten ja auch draußen so viel chinesische Laternen angebracht,« erzählte der Verwalter, »aber der Wind hat sie alle ausgelöscht – es wollte gar nicht recht festlich werden.«

»Auch die Georginen müßten viel schöner sein,« sagte der Gärtner, »aber sie sind mir zu sehr verregnet.«

»Ja,« warf die Mamsell ein und rümpfte die Nase, »sie riechen ganz säuerlich und lassen schon die Blätter fallen – wir werden die Girlanden bald wieder abnehmen müssen – auf alle Fälle, ehe die gnädige Frau Mutter zurückkommt, sie kann das nicht sehen, wenn irgendwo auch nur ein Stäubchen liegt.«

»Aber nun wollen wir zu Abend essen, Mamsell,« unterbrach sie Herr von Zehren, der die übrigen schon entlassen hatte, »ich möchte endlich was Warmes zu mir nehmen. Das kalte Bier von vorhin liegt mir immer noch auf dem Magen. Komm, liebes Kind!« Und damit führte er Ilse in das lange, niedrige, dunkel getäfelte Speisezimmer, in dem eine von Hirschgeweihen gehaltene Hängelampe den Eßtisch beschien. »Aber du hast ja falsch gedeckt, Peter,« wandte er sich sofort verweisend zum Diener, »hier oben an der Spitze ist doch der Platz meiner Mutter, der hat immer für sie frei zu bleiben; die gnädige Frau und ich werden rechts und links von ihr sitzen.“

Als Peter den Tisch umgedeckt hatte, sagte Theophil zu Ilse: „Es ist besser, daß das von Anfang an so gemacht wird, Mama kömmt ja in einer Woche hierher zurück.“

So saßen sie an jenem ersten Abend im Weltsödener Speisezimmer. Es gab da nahrhafte warme ländliche Gerichte, und Mamsell hatte rasch einen heißen Grog für Theophil gebraut. Der tat ihm wohl; er wurde sichtlich vergnügter, verlangte, daß Ilse auch davon koste, und einmal, als Peter gerade das Zimmer verlassen hatte, haschte er sogar über den Tisch nach ihrer Hand und drückte die dicken roten Lippen darauf, die wie ein Widerspruch in seinem mageren Gesichte standen. Ilse fuhr erschreckt zusammen, denn es war ihr gerade jetzt an diesem Tisch, der mit seinen Blumen und Früchten etwas beruhigend Behagliches hatte, zum erstenmal gelungen, all das aus ihrem Gedächtnis zu bannen, was sie den ganzen Tag wie ein unheimliches Gespenst hinter sich gefühlt hatte. – Sie schaute ihren Mann angstvoll an und gewahrte in seinen Augen den seltsamen Ausdruck wieder, den sie seit gestern abend kannte.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
30 августа 2016
Объем:
400 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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