Читать книгу: «WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN», страница 4

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»In letzter Zeit begegnen wir uns ja ziemlich oft, Schäringer«, sagte Dr. Dieter Mangold, als Schäringer und Baum zu ihm traten und auf die Leiche hinunterblickten.

Der Pathologe war mit seinen ein Meter fünfundachtzig fast so groß, aber nahezu zweimal so breit wie der schlanke Schäringer. Wie auch Krautmann hatte Dr. Mangold mit Haarausfall zu kämpfen. Um die kahle Stelle auf seinem Schädel zu verdecken, hatte er allerdings zu einem anderen Mittel als der Leiter der Spurensicherung gegriffen. Er trug ein Toupet, das seiner eigenen Haarfarbe, einem sehr dunklen Schwarzbraun, weitestgehend entsprach. Seit er den Haarersatz hatte, kursierte das hartnäckige Gerücht, es handelte sich in Wahrheit um das Haar einer Leiche, die eines Tages auf Mangolds Tisch im Sezierraum gelandet war und deren Haarfarbe zufällig seiner eigenen entsprochen hatte. Von seinem Haarersatz war an diesem Morgen allerdings nichts zu sehen, denn der Mediziner hatte einen dunkelbraunen, handgefertigten Borsalino-Hut aus Biber-Haar mit Ripsband aus schwarzer Seide auf dem Kopf. Außerdem trug er eine walnussbraune Trachtenjacke aus Ziegenleder von Meindl mit Stickereien am Stehkragen und Hirschhornknöpfen, eine dunkelbraune Cordhose von Hiltl und braune Schnürschuhe aus Veloursleder von Brunello Cucinelli.

»Wenigstens geht es hier nicht wieder um giftige Schlangen, oder?«, fragte Schäringer und spielte auf einen ihrer letzten gemeinsamen Fälle an, bei der es um einen toten Kapitän im Wald gegangen war, der am Biss einer gefährlichen Giftschlange aus Mittelamerika gestorben war. Schäringer mochte Schlangen nicht besonders, während Dr. Mangold das Thema so faszinierend gefunden hatte, dass er sich über Zusammensetzung und Wirkung der Gifte verschiedener Schlangenarten genauer informiert hatte.

Baum hatte damals seine eigenen schlechten Erfahrungen in Bezug auf Schlangen gesammelt, wovon die Narbe auf seinem Handrücken zeugte. Das Aufeinandertreffen mit der Kornnatter war zwar dank deren Harmlosigkeit glimpflich verlaufen, er redete aber immer noch nicht gern darüber. Auch jetzt verzog er nur das Gesicht und gab keinen Kommentar ab, als Schäringer von giftigen Schlangen sprach. Allerdings erinnerte er sich zweifellos an das Abenteuer und daran, wie er sich verhalten hatte, als er davon überzeugt gewesen war, am Biss einer Giftschlange sterben und das schreckliche Schicksal des toten Kapitäns im Wald teilen zu müssen.

»Nein, keine exotischen Giftschlangen dieses Mal«, bestätigte der Rechtsmediziner sowohl zu Schäringers als auch zu Baums Beruhigung und fügte hinzu: »Leider!«

»Sieht eher nach Selbstmord aus«, meinte Schäringer, um dem Arzt Informationen zu entlocken.

»Auf den ersten Blick und für den rechtsmedizinischen Laien sieht es tatsächlich so aus«, bestätigte Dr. Mangold. »Aber nicht nach einem genaueren zweiten Blick und für einen kompetenten Rechtsmediziner.«

»Dann ist es ja ein Glücksfall, dass wir Sie dabei haben«, sagte Baum. »Aber was bedeutet das nun im Klartext?«

»Sie heißen Busch und sind Schäringers Handlanger, nicht wahr?«

»Ich heiße nicht Busch. Wahrscheinlich verwechseln Sie mich mit dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten, auch wenn ich nicht weiß, wieso. Mein IQ ist nämlich mindestens dreimal so hoch.«

Der Pathologe sah Baum mit gerunzelter Stirn und hochgezogenen Augenbrauen verständnislos an.

»Das ist Lutz Baum, mein Kollege«, stellte Schäringer sowohl den Namen als auch Baums Stellung in ihrem Team richtig.

»Natürlich. Entschuldigen Sie. Aber wir sind uns noch nicht sehr oft begegnet, nicht wahr?«

»Nein.«

»Liegt vermutlich daran, dass Sie, wie ich gehört habe, kein Frühaufsteher sind, Baum.«

Baum zuckte mit den Schultern, sagte aber nichts. Stattdessen warf er einen Blick in den Kaffeebecher, den er noch immer in der Hand hielt, obwohl er ihn längst geleert hatte.

»Aber egal. Freut mich trotzdem, Sie endlich einmal kennenzulernen, Baum. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Im Klartext bedeutet das, dass das ganze Szenario hier meiner Meinung nach nur so aussehen soll, wie sich ein Laie einen Suizid durch Erhängen vorstellt. In Wahrheit war es aber gar keiner.«

»Hat Ihre Vermutung etwas mit der Platzwunde am Kopf des Toten zu tun?«, fragte Schäringer und deutete auf die Leiche des jungen Mannes, die zwischen ihnen am Boden lag.

Der Tote mochte zu Lebzeiten durchaus gutaussehend gewesen sein, doch durch den Blutstau hatte sich das Gesicht blau verfärbt und sah aufgedunsen aus. Die aufgequollene, violette Zunge ragte aus dem offenen Mund. Die Augen standen weit offen und traten leicht hervor. Die Schlinge lag noch immer eng um den Hals des Toten, da sie erst in der Gerichtsmedizin vorsichtig entfernt werden würde. Sie hatte eine tiefe Furche ins Fleisch gegraben, die zum Nacken hin anstieg. Der ganze Hals hatte sich dunkel verfärbt und sah aus wie ein einziger großer Bluterguss. Am Kehlkopf waren zudem ein paar halbmondförmige Eindrücke zu sehen. Ansonsten war der Tote von durchschnittlicher Größe, eher schmächtig gebaut und hatte kurzes, mittelbraunes Haar. Er trug ausgewaschene, blaue Jeans, einen schwarzen Windbreaker von Carhartt, darunter ein hellgraues T-Shirt und grau-blaue Outdoorschuhe von KangaROOS.

»Die Platzwunde spielt bei der Ermittlung der Ursache des Todes zwar keine Rolle, da sie für diesen nicht mitursächlich war«, sagte Dr. Mangold. »Sie ist aber selbstverständlich in Ihre Überlegungen miteinzubeziehen, wenn es darum geht, diesen Fall als Suizid oder als Fremdtötung zu qualifizieren. Nach einer ersten, zugegebenermaßen nur oberflächlichen Untersuchung tendiere ich allerdings eindeutig zur zweiten Alternative.«

»Und worauf stützen Sie Ihren Verdacht nun genau, Dr. Mangold?«, fragte Baum.

»Wie gut ist eigentlich Ihr Latein, Baum?« Der Rechtsmediziner sprach durchweg alle Leute ausschließlich mit dem Nachnamen an.

Baum schüttelte den Kopf und runzelte gleichzeitig die Stirn, da er sich nicht sicher war, was die Frage in diesem Zusammenhang zu bedeuten hatte. »Ich kann überhaupt kein Latein. Ich habe mich damals stattdessen für Französisch entschieden. Wieso fragen Sie?«

Schäringer, der aufgrund zahlreicher Begegnungen mit dem Pathologen in den letzten Jahren wusste, dass dieser gern medizinische Fachausdrücke aus dem Lateinischen in seine oft an Vorträge erinnernden Erklärungen einfließen ließ, verfolgte den Wortwechsel amüsiert und unterdrückte ein Schmunzeln.

Dr. Mangold sah Baum mit tadelndem Gesichtsausdruck an und schüttelte den Kopf. »Dann kann ich Ihnen vermutlich auch nicht mehr helfen. Aber passen Sie trotzdem gut auf, dann lernen Sie heute vielleicht doch noch etwas Vernünftiges. Besser spät als nie, nicht wahr, Schäringer.«

»Sie sagen es, Dr. Mangold«, stimmte Schäringer ihm zu, womit er sich einen finsteren Blick seines jüngeren Kollegen einhandelte, der die Zustimmung vermutlich als Verrat betrachtete. Schäringer wollte damit aber nur erreichen, dass der Gerichtsmediziner endlich zur Sache kam. Schließlich hatten sie, wenn es sich in diesem Fall nicht um Selbstmord, sondern um Mord oder Totschlag handelte, heute noch eine Menge anderer Dinge zu erledigen. »Aber um zum Thema zurückzukommen. Womit können Sie Ihren Verdacht begründen, dass der Selbstmord hier nur inszeniert wurde und es in Wahrheit ein Fall von Fremdtötung ist?«

Dr. Mangold nickte. »Na gut, fangen wir eben erst einmal bei den Grundlagen an. Dieser junge Mann starb meiner Meinung nach ganz eindeutig durch Suffokation. Vermutlich wissen Sie nicht, was das bedeutet, da Sie bedauerlicherweise keinen Lateinunterricht hatten, Baum.«

Baum zuckte mit den Schultern.

»Tod durch Erstickung«, antwortete Schäringer an Baums Stelle, da er den Begriff noch von ihrem Giftschlangen-Fall kannte. Damals war ein Dieb nach dem Biss einer Terciopelo-Lanzenotter, der giftigsten Schlange des mittelamerikanischen Festlands, erstickt, weil sein Gesicht einschließlich Mundhöhle und Gaumen anschließend so stark angeschwollen war, dass er keine Luft mehr bekam.

»Korrekt! Der Tote ist aufgrund einer Strangulation erstickt. Eindeutige Merkmale hierfür sind die deutlich sichtbare Zyanose, das ist die Blaufärbung von Gesicht, Zunge und Schleimhäuten aufgrund des Blutstaus, die Aufdunsung und die petechialen Blutungen. Petechien wiederum sind kleine, punktförmige Erstickungsblutungen auf den Augäpfeln, den Augenlidern und der Mundschleimhaut. Und welche drei Formen der Strangulation kennen Sie, Baum?«

Baum riss überrascht die Augen auf. Zweifellos kam er sich vor wie in der Schule. Schäringer konnte ihm nachfühlen, war aber froh, dass ausnahmsweise nicht er Zielscheibe der Belehrungsversuche des Pathologen war. Wahrscheinlich, so dachte er, wäre es auch in Zukunft eine tolle Sache, Baum jedes Mal mit in die Gerichtsmedizin zu nehmen.

»Ähm, also …«, stotterte Baum, während er fieberhaft überlegte. Dann schien ihm eine Erleuchtung zu kommen, denn er deutete auf den Strick um den Hals des Toten und sagte in fragendem Ton: »Erhängen …?«

»Korrekt. Das ist eine Möglichkeit. Fehlen noch zwei. Wissen Sie’s, Schäringer?«

»Erdrosseln und erwürgen.«

Als Schäringer zu Baum sah, formte dieser mit dem Mund das Wort Streber. Schäringer zuckte mit den Schultern.

»Korrekt. Nehmen Sie sich besser ein Beispiel an Ihrem älteren Kollegen, Baum. Schäringer hat in den letzten Jahren schon eine Menge von mir gelernt. Aber zurück zu unseren Strangulationsmöglichkeiten. Zweifellos dürfte Ihnen klar sein, meine Herren, dass von diesen drei Strangulationsformen im Grunde nur das Erhängen und das Erdrosseln selbsttätig in Form eines Suizids möglich sind. Niemand kann sich hingegen selbst erwürgen, da die Muskelerschlaffung, die nach einiger Zeit unwillkürlich eintritt, auch den Druck der Hände auf den Hals aufheben würde. Erhängen bedeutet, dass der Hals durch ein Strangulationswerkzeug und das Eigengewicht des hängenden Körpers eingeschnürt wird. Beim Erdrosseln wird hingegen das Strangulationswerkzeug durch Muskelkraft zugezogen. So weit alles verstanden, Baum?«

Der Kriminalkommissar nickte. »Ich kann Ihnen folgen, Herr Doktor.«

»Gut. Kommen wir zum konkreten Fall. Zweifellos hat Ihnen Krautmann von der Spurensicherung erzählt, dass kein Gegenstand gefunden wurde, auf den sich das Opfer hätte stellen können, um seinen Kopf in die Schlinge zu legen. Wir sprechen dabei gewissermaßen vom klassischen Fall des Suizids durch Erhängen. Jemand bindet den Strick an ein Wasserrohr unter der Decke oder die Vorhangstange, stellt sich auf einen Stuhl oder Hocker und – zack! – versetzt dem Möbel einen Tritt, der es umkippen lässt. Der Selbstmörder hat keinen Boden mehr unter den Füßen und hängt am Seil, das sich durch das Gewicht sofort zuzieht und den Hals fest einschnürt. In der Regel werden daraufhin die Blutversorgung des Kopfes und des Gehirns und der Blutrückfluss augenblicklich gestoppt. Das Abschneiden der zerebralen Blutzufuhr und die dadurch herbeigeführte Blutleere des Gehirns führen zunächst zur Bewusstlosigkeit und anschließend zum Tod. Die Opfer sterben also in der Regel nicht durch Suffokation, also aufgrund des Sauerstoffentzugs, sondern durch die Unterbrechung der Blutzirkulation. Gelegentlich kann ein Abklemmen der Halsschlagadern auch zu einer akuten Zerrung des Nervus vagus und damit wegen des Carobis-Sinus-Reflexes zu einem plötzlichen Herzstillstand führen. Das kann dann sogar zum Tod führen, falls der Strick reißen sollte. Da in diesem Fall zudem kein Gegenstand gefunden wurde, auf den der junge Mann sich hätte stellen können, hätte er sich, nachdem er auf den Ast geklettert war, um den Strick zuerst um den Ast zu binden und anschließend um den eigenen Hals zu legen, von dort herunterfallen lassen müssen. Ein derartiger Sturz aus etwa zweieinhalb Metern in die Schlinge hätte jedoch mit ziemlicher Sicherheit zum sofortigen Tod aufgrund eines Genickbruchs geführt. Was hier aber nicht der Fall war.«

»Dann können wir definitiv ausschließen, dass der Junge sich erhängt und damit selbst getötet hat«, fasste Schäringer die Erklärungen des Pathologen zusammen.

»Also kommen nur Erdrosseln oder Erwürgen infrage«, sagte Baum. Möglicherweise wollte er damit beweisen, dass er aufgepasst hatte, und sich einen imaginären Fleißpunkt beim Rechtsmediziner verdienen.

»Korrekt!«, sagte Dr. Mangold mit zufriedener Miene und deutete mit dem Zeigefinger anerkennend auf Baum. »Um nun herauszufinden, welche dieser beiden Methoden bei Ihrem jugendlichen Opfer zur Anwendung kam, müssen wir uns die Male und Verletzungen im Bereich seines Halses einmal genauer betrachten.« Er ging neben dem Leichnam in die Knie und deutete mit dem Zeigefinger der rechten Hand, die in einem Einmalhandschuh steckte, auf den Bereich, von dem er sprach. »Und, meine Herren? Fällt Ihnen dabei etwas auf?«

»Der Strick hat tief ins Fleisch geschnitten«, sagte Baum.

»Vergessen Sie den Strick, Baum!«, sagte der Pathologe, ohne den Kopf zu heben und ihn anzusehen. »Das geschah erst postmortal und hatte mit dem Tod des Opfers nicht das Geringste zu tun.«

»Meinen Sie dann den Bluterguss, der sich wie ein breiter Ring um nahezu den ganzen Hals zieht, und die kleinen Einbuchtungen im Bereich der Kehle?«, fragte Schäringer.

Baum schoss einen zornigen Blick auf Schäringer ab, der, wäre er in Worte gefasst worden, zweifellos mit Elender Schleimscheißer hätte übersetzt werden müssen.

»Ganz genau, Schäringer«, sagte Dr. Mangold. »Und fällt Ihnen bei diesen eindeutigen Würgemalen noch etwas auf, Baum?«

Baum seufzte leise, beugte sich aber dennoch gehorsam ein Stück nach vorn, um besser sehen zu können, bevor er antwortete: »Der Bluterguss ist sehr breit und verläuft im Gegensatz zur Einschnürung des Stricks eher waagerecht. Und diese halbmondförmigen Eindrücke im Kehlkopfbereich sehen für mich so aus wie Spuren von Fingernägeln.«

»Sehr gut, Baum«, lobte Dr. Mangold den jungen Kriminalbeamten.

Baum richtete sich wieder auf, sah Schäringer an und streckte ihm die Zunge heraus.

»Das Opfer wurde also nicht erdrosselt, da wir sonst die Spuren des Strangulationswerkzeugs sehen müssten, das sich durch den stärkeren Druck tiefer in die Haut und das darunter liegende Gewebe eingegraben hätte. Darüber hinaus hätten sie sich um den ganzen Hals ziehen müssen, während sie hier im Bereich des Nackens fehlen. Die Hautunterblutungen sind breit und vor allem im Bereich des Kehlkopfes besonders deutlich ausgeprägt, was eher für ein Erwürgen mit bloßen Händen spricht. Diese halbmondförmigen Eindrücke an der Kehle sind tatsächlich Spuren von Daumennägeln. Der Täter muss mit beiden Daumen einen sehr starken Druck auf den Kehlkopf ausgeübt haben, wodurch diese deutlichen Male entstanden. Zweifellos wurden dabei auch der Larynx …?« Er hob den Blick und sah die beiden Kriminalisten fragend an.

Schäringer und Baum zuckten synchron mit den Schultern.

»… der Kehlkopf und das Os hyodeum …?« Es folgte ein zweiter fragender Blick, der allerdings ebenfalls zu keinem Ergebnis führte. Dr. Mangold seufzte, ehe er fortfuhr: »… das Zungenbein gebrochen. Aber zu den inneren Verletzungen kann ich Ihnen erst dann Genaueres sagen, nachdem ich den Burschen in meinem Sezierraum liegen hatte und von innen ansehen konnte. Noch Fragen?« Er richtete sich auf und sah Schäringer und Baum der Reihe nach fragend und mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Sie sagten, der Täter müsse mit den Daumen starken Druck auf den Kehlkopf ausgeübt haben«, begann Schäringer. »Heißt das, dass der Täter sehr kräftig gewesen sein muss?«

Dr. Mangold schürzte die Lippen und warf einen kurzen Blick auf den Leichnam zu seinen Füßen, ehe er wieder Schäringer ansah und sagte: »Aufgrund der doch sehr deutlichen Ausprägung und Breite der Würgemale bin ich tatsächlich der Ansicht, dass der Täter große Hände haben und eher kräftig sein muss. Der junge Mann, der eher schmächtig war, hatte daher vermutlich keine Chance. Möglicherweise finden wir unter seinen Fingernägeln Haut oder Blut des Täters, weil er versucht haben könnte, die Hände von seinem Hals zu lösen, und sich dabei hineingekrallt hat.«

»Dann ist der Täter also eher ein Mann«, sagte Baum.

»Oder eine kräftige Frau«, sagte der Pathologe. »Wir wollen hier schließlich niemanden diskriminieren, oder?«

»Was ist mit der Platzwunde am Kopf?«, fragte Schäringer und deutete auf die rechte Kopfseite der Leiche, wo das Haar teilweise mit getrocknetem Blut verklebt war. »Auch wenn sie für den Tod des Jungen nicht ursächlich war, kann sie für unsere Ermittlungen dennoch eine wichtige Rolle spielen. Können Sie uns denn schon sagen, ob sie ihm vor oder nach seinem Tod zugefügt wurde, Dr. Mangold?«

»Die Verletzung wurde ihm eindeutig prämortal zugefügt, meiner Meinung nach nicht lange vor seinem Tod. Es sieht ganz danach aus, als wäre er mit einem stumpfen, großflächigen Gegenstand geschlagen worden.«

»Großflächig?«, wiederholte Baum. »Meinen Sie so etwas wie eine Bratpfanne?«

»Zum Beispiel. Allerdings befinden sich Erdanhaftungen an der Wunde, im Haar über der Verletzung und im getrockneten Blut.«

»Vielleicht wurde er nach dem Schlag sofort bewusstlos, stürzte zu Boden und landete mit der verletzten Kopfseite auf der Erde«, schlug Baum vor und demonstrierte seinen Vorschlag gestenreich, indem er den Kopf zur Seite legte und sich mit der flachen Hand, die vermutlich den Boden symbolisieren sollte, leicht gegen den Kopf schlug.

»Oder er bekam einen Schlag mit einem Gegenstand, an dem bereits Erde haftete«, sagte Dr. Mangold ohne jegliche Gestik.

»Eine Schaufel beispielsweise«, präzisierte Schäringer und runzelte nachdenklich die Stirn. »Was halten Sie davon, Dr. Mangold?«

Der Rechtsmediziner zuckte mit den Schultern. »Es kann sich durchaus um eine flache Schaufel oder ein Spatenblatt gehandelt haben. Zumindest könnten dadurch die Erdanhaftungen erklärt werden. Aber letztendlich ist es Ihre Aufgabe, herauszufinden, womit dieser junge Mann geschlagen wurde und wer ihn anschließend erwürgt hat. Wenn Sie also keine wirklich wichtigen Fragen mehr an mich haben, dann empfehle ich mich jetzt. Vermutlich wartet in der Rechtsmedizin schon weitere Kundschaft ungeduldig auf mein Erscheinen. Und dieser Leichnam wird mich in ein paar Stunden ebenfalls noch eine Weile beschäftigen. Sie wissen ja, wo Sie mich finden, wenn Sie meine Hilfe und meinen fachlichen Rat benötigen, Schäringer. Leben Sie also wohl, alle miteinander.«

Dr. Mangold zog die Handschuhe aus und nahm seinen Arztkoffer, den er neben der Leiche abgestellt hatte. Er lüftete zum Abschied kurz seinen Borsalino-Hut und zeigte dabei sein Toupet. Dann marschierte er für einen Mann seiner Breite erstaunlich leichtfüßig zu seinem Mercedes und fing bereits wenige Schritte von der Eiche entfernt an, eine Melodie zu pfeifen, die Schäringer an die Arie Der Vogelhändler bin ich ja aus Mozarts Zauberflöte erinnerte.

KAPITEL 2

1

Baum, der den Dienstwagen zurück nach Fürstenfeldbruck gelenkt hatte, hielt vor dem Reihenhaus im Willy-Buchauer-Ring, in dem der 18-jährige Gymnasiast Niklas Kramer bis zum heutigen Tag gelebt hatte. »Das muss es sein!«, sagte er und riss damit Schäringer, der die ganze Fahrt über nachdenklich geschwiegen hatte, aus seinen Überlegungen.

Sie stiegen aus und sahen sich um. Die Straße machte einen verlassenen Eindruck. Es war kurz vor acht, also noch immer früh am Tag, aber die meisten Anwohner, die zur Arbeit oder zur Schule mussten, waren vermutlich schon weg. Schäringer hoffte, dass sie im Haus des toten Schülers trotzdem jemanden antrafen und nicht vollkommen umsonst hierhergekommen waren.

Baum, der um den Wagen herumgegangen war, öffnete das Türchen zum winzigen Vorgarten, ließ aber dann seinem Kollegen den Vortritt. Vermutlich riss er sich nicht gerade darum, als Erster einem Familienmitglied des Opfers gegenüberzutreten und ihm die traurige Mitteilung vom Tod des jungen Mannes und über die Umstände, unter denen er aufgefunden worden war, zu überbringen. Derartig unangenehme Pflichten überließ er lieber seinem älteren Kollegen, der weitaus mehr Erfahrung darin hatte.

Schäringer liebte es ebenfalls nicht, der Überbringer von Schreckensnachrichten zu sein. Seiner Meinung nach gehörte es neben dem ständigen Anblick von Leichen und der Teilnahme an Leichenöffnungen, an die man sich allerdings im Laufe der Zeit gewöhnen konnte, mit zum Schlimmsten, was ein Kriminalbeamter der Mordkommission erledigen musste. Er war allerdings der Ansicht, dass es getan werden musste, und drückte sich daher nicht vor dieser ungeliebten Pflicht. Außerdem konnte man aus der Reaktion derjenigen, denen man die Nachricht vom Tod eines Angehörigen oder engen Freundes überbrachte, manchmal auch wichtige Erkenntnisse über das Verhältnis zum Mordopfer gewinnen. Das konnte vor allem dann enorme Bedeutung haben, wenn der Täter – wie es nach Schäringers Erfahrung leider allzu oft der Fall war – aus dem engeren Familienkreis des Opfers stammte.

Schäringer ging zur Haustür, erkannte aufgrund eines ovalen Messingschildes an der Tür, auf dem Hier wohnen die Kramers stand, dass sie hier tatsächlich an der richtigen Adresse waren, und klingelte. Baum nahm links neben ihm Aufstellung, hielt sich allerdings ein bisschen im Hintergrund. Er legte die Hände vor dem Körper aufeinander und blickte betont ernsthaft aus der Wäsche, als wäre er auf der Beerdigung eines entfernten Verwandten, den er schon ewig nicht mehr gesehen hatte.

Schon nach wenigen Augenblicken hörten sie Schritte, die vom ersten Stock des Hauses herunterkamen. Die Tür öffnete sich. Eine Frau Mitte vierzig mit mittellangem, brünettem Haar stand in der Tür und sah die beiden Kriminalbeamten fragend an. Sie trug hellblaue Jeansleggins, ein grau meliertes Poloshirt und weiße Ballerinas an den Füßen. In der rechten Hand hielt sie eine große Tasse, die fast voll war und deren Inhalt noch immer dampfte.

»Ja?«

»Frau Kramer?«, fragte Schäringer.

»Ja. Was wünschen Sie?«

Schäringer hob die Hand und zeigte ihr seinen Dienstausweis. »Schäringer, Kriminalpolizei. Das ist mein Kollege, Kriminalkommissar Baum. Können wir reinkommen?«

Der Mund der Frau öffnete sich, als wollte sie etwas sagen. Sie blieb jedoch stumm, während sie zuerst den Dienstausweis in Schäringers Hand und dann nacheinander die beiden Beamten vor ihrer Tür ansah. Baums Leichenbestattermiene musste ihr einen Hinweis darauf gegeben haben, dass etwas Ernsthaftes geschehen war, denn sie erbleichte und richtete den Blick rasch wieder auf Schäringer. »Ist …?« Sie schluckte, als hätte sie einen riesigen Kloß im Hals. »Ist etwas passiert? Mit … mit einem der Kinder? Oder … oder mit meinem Mann?«

»Am besten, wir sprechen nicht hier im Vorgarten, sondern im Haus miteinander, Frau Kramer«, sagte Schäringer und trat rasch einen Schritt näher. Er befürchtete ernsthaft, die Frau könnte umkippen, weil sämtliches Blut aus ihrem Kopf geflossen sein musste, so blass, wie sie von einer Sekunde zur anderen geworden war, und wollte sie in diesem Fall noch rechtzeitig auffangen können. »Dürfen wir reinkommen?«

Sie nickte, hob die zitternde linke Hand und bedeckte damit ihren Mund, als wollte sie einen Schrei zurückhalten. Auch die andere Hand zitterte so stark, dass ein Teil der heißen Flüssigkeit, bei der es sich dem aromatischen Duft nach um Kaffee handeln musste, überschwappte, an der Tasse herunterlief und zu Boden tropfte.

Schäringer steckte rasch seinen Ausweis ein, nahm ihr die Tasse aus der Hand und ergriff ihren rechten Unterarm. »Hier, nimm du den Kaffee!«, sagte er zu Baum und reichte die Tasse an ihn weiter. Dann schob er sich mit der Frau ins Haus und führte sie durch den kurzen Flur an der Treppe vorbei geradeaus ins Wohnzimmer. Sie widersetzte sich ihm nicht, sondern ließ ihn gewähren, während sie keinen einzigen Ton von sich gab, als hätte der Schock über das Erscheinen der beiden Beamten der Mordkommission sie stumm werden lassen. Dabei hatte sie die schreckliche Nachricht selbst noch gar nicht gehört. Schäringer grauste es vor dem Moment, in dem sie von ihm erfahren würde, dass ihr Sohn tot war. Aber daran führte nun einmal kein Weg vorbei.

Das Wohnzimmer war ordentlich und aufgeräumt und enthielt die üblichen Einrichtungsgegenstände in Form einer hellbraunen Polstergarnitur, bestehend aus einem 3-Sitzer, einem 2-Sitzer und einem Sessel, die sich um einen niedrigen Couchtisch mit Rauchglasplatte gruppierten, einer Schrankwand aus hellem Holz voller Bücher, Gesellschaftsspiele und Bilderrahmen und einem TV-Sideboard, auf dem ein großer Flachbildfernseher stand. Gleich rechts neben dem Eingang stand ein Esstisch mit vier Stühlen, und an der angrenzenden Wand befand sich über einem Sideboard die Durchreiche zur Küche.

Schäringer führte Frau Kramer zum erstbesten Stuhl und ließ sie darauf Platz nehmen. Er selbst setzte sich auf den Stuhl, der ihrem auf der anderen Seite des Tisches unmittelbar gegenüberstand. Baum kam als Letzter herein, nachdem er die Haustür zugemacht hatte, und stellte den Kaffeebecher vor die Frau auf den Tisch. Er nahm allerdings nicht Platz, sondern blieb vor der Tür zum Flur stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.

Sie seufzte leise und nahm erst dann die Hand vom Mund. Schäringer konnte sehen, dass ihre Unterlippe und ihr Kinn bebten. Sie sah Schäringer eindringlich in die Augen und fragte: »Sagen Sie mir jetzt endlich, was … was passiert ist?«

Er nickte. »Ich muss Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen, Frau Kramer.«

Sie schloss die Augen und schien sich innerlich gegen die folgenden Worte zu wappnen.

»Ihr Sohn, Niklas, wurde heute früh tot aufgefunden.«

Schäringer hatte es bislang immer für eine literarische Übertreibung gehalten, wenn er in Romanen gelesen hatte, dass jemandem die Gesichtszüge entglitten. Nun wurde er Zeuge, wie genau so etwas vor seinen Augen geschah. Von einer Sekunde zur anderen veränderte sich das Gesicht der Frau, als würde es sich durch chemische Prozesse unter der Haut in Jekyll-and-Hyde-Manier zum Antlitz einer völlig anderen Person umformen. Sämtliche Muskeln verloren ihre Spannkraft und erschlafften gleichzeitig, sodass man für einen Moment befürchten musste, das ganze Gesicht könnte vom Schädel fallen und mit einem feuchten Klatschen auf der Tischplatte landen. Die Augenlider und die Wangen sanken herab, wodurch auch die Mundwinkel nach unten gezogen wurden. Furchen zeigten sich, wo soeben noch glatte Haut gewesen war, und die Frau sah von einem Augenblick zum anderen mindestens acht Jahre älter aus.

Schäringer sagte nichts, sondern ließ sie die Nachricht erst einmal aufnehmen. Er wollte sie nicht bedrängen, nachdem sie soeben die furchtbarste Mitteilung im Leben einer Mutter erhalten hatte. Vielleicht konnten sie im Anschluss auch gar nicht mehr vernünftig mit ihr reden, aber das wäre aus seiner Sicht verständlich. Dann würden sie sich eben darum kümmern, dass jemand – eine nahe Bekannte oder eine Nachbarin – ins Haus kam, damit die Frau in ihrer Trauer und ihrem Schmerz nicht allein war, und ein anderes Mal wiederkommen.

Er sah zu Baum, der noch immer mit verschränkten Armen dastand, den Blick unruhig durch den Raum wandern ließ und alles ansah, nur nicht die Herrin des Hauses.

Als Schäringer seine Augen wieder auf Frau Kramer richtete, sah er, dass sich Tränen unter den noch immer fest verschlossenen Lidern hervorquetschten und über das so abrupt gealterte, erblasste Gesicht der Frau liefen. Ihre Lippen öffneten sich einen winzigen Spalt, und ein leiser Laut kam aus ihrer Kehle. Es war nur ein einzelner hoher, monotoner Ton, der sich wie ein mühsam unterdrücktes Wimmern anhörte. Schäringer bemerkte, dass ihre Hände, die rechts und links neben dem unbeachteten Kaffeebecher auf der Tischplatte lagen, zu Fäusten geballt waren.

Der Ton verstummte völlig abrupt. Gleichzeitig schien sich die Frau einen inneren Ruck zu geben, denn sie richtete sich auf, atmete einmal tief durch und öffnete dann die Augen, die gerötet waren und in Tränen schwammen.

»Sie müssen entschuldigen, Herr Kommissar, aber …«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Frau Kramer. Wenn Sie jetzt lieber nicht mit uns sprechen möchten, dann hätten wir dafür vollstes Verständnis. Wir können auch Ihren Mann oder eine Nachbarin anrufen, damit Ihnen jemand Gesellschaft leistet.«

»Nein, bitte nicht. Das ist wirklich …« Sie atmete noch einmal durch und wischte sich dann mit den Fingern der rechten Hand die Tränen vom Gesicht, wodurch ihr Lidstrich verschmiert wurde. »Ich werde meinen Mann später anrufen und über … über alles informieren. Er ist … bei der Arbeit.«

»Was macht Ihr Mann beruflich, wenn ich fragen darf?« Schäringer holte ein Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts, obwohl er sich selten Notizen machte, sondern alle Informationen eines Falles in seinem Gedächtnis speicherte. Er hatte allerdings das Gefühl, es könnte bei dem Gespräch mit Frau Kramer ganz nützlich sein, wenn sie sah, dass er sich alles gewissenhaft notierte. Und indem er zunächst alltägliche Fragen wie die nach dem Beruf des Mannes stellte, wollte er dafür sorgen, dass sich die Frau nach dem ersten Schock wieder etwas beruhigte und entspannte, sofern das nach einer solchen Nachricht überhaupt möglich war.

»Er ist Rechnungsprüfer.«

»Und wie heißen Sie und Ihr Mann mit Vornamen?«

»Ich heiße Elke, der Vorname meines Mannes ist Thomas. Aber was …« Sie verstummte, als traute sie sich nicht, die schreckliche Wahrheit selbst in Worte zu fassen.

Schäringer, der sich ihre Angaben notiert hatte, hob den Blick und sah sie an. »Sie wollen vermutlich wissen, was mit Ihrem Sohn Niklas passiert ist.«

Sie nickte, während ihr neue Tränen aus den Augen und übers Gesicht flossen, blieb aber stumm, als traute sie der eigenen Stimme nicht.

Schäringer räusperte sich, bevor er antwortete: »Nach unseren bisherigen Erkenntnissen müssen wir leider davon ausgehen, dass Ihr Sohn ermordet wurde.«

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