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Er beobachtete fasziniert die tanzenden Flammenzungen, die an der Fensterscheibe des Gebäudes vor ihm emporleckten, wieder in sich zusammensanken, als wollten sie neuen Anlauf nehmen, und schon im nächsten Augenblick noch höher und zahlreicher emporloderten. Durch das geschlossene Fenster war ihr Knistern und Knacken, mit dem das Feuer alles verzehrte, was in Reichweite war, um sich davon zu nähren und noch weiter zu wachsen, nur gedämpft zu hören. In seinen Ohren klang es allerdings beinahe so, als flüsterten die Flammen ihm etwas zu. Er legte den Kopf schief, konnte aber immer noch nicht verstehen, was sie ihm sagen wollten.

Trotz der Faszination, die das muntere Spiel der Flammenzungen in ihm auslöste, spürte er dennoch auch die Gefahr, die von ihnen ausging. Instinktiv wich er auf dem gepflasterten Innenhof mehrere Schritte zurück. Er sah zu den anderen Fenstern, von denen es ziemlich viele gab. Hinter den meisten in der unteren Reihe loderte bereits das Feuer. Hinter anderen war nur ein orangerotes Leuchten zu sehen. Die oberen Fenster waren hingegen noch dunkel.

In diesem Moment zersprang mit einem lauten Knall die Scheibe, durch die er die ersten Flammenzungen beobachtet hatte. Die enorme Hitze, die sich im Inneren des Gebäudes allmählich entwickelte, hatte das Glas bersten lassen. Frische Nachtluft wurde durch die Öffnung ins Innere gesaugt und fachte das Feuer noch mehr an. Nun loderten die Flammen durch das Loch im Fenster nach außen und nagten am Holz des Fensterrahmens. Das leise Knistern und Knacken, das ihm anfangs noch wie geflüsterte Worte erschienen war, war längst zu einem Brausen geworden, das mit jeder Sekunde weiter anschwoll, als türme sich hinter dem Haus eine tödliche Wasserwoge auf, die jeden Moment brechen und alles unter sich begraben und verschlingen würde.

Er wich noch weiter zurück, bis er neben einer Reihe von Garagen stand. Das Pflaster endete an dieser Stelle und wurde von ungemähtem Gras ersetzt, durch das sich ein Trampelpfad schlängelte. Hinter ihm waren Bäume und Büsche, doch er hatte nur Augen für das, was vor ihm geschah. Er knurrte voller Furcht, denn er verstand nicht, was in dem Haus geschah und was das alles zu bedeuten hatte. Am Anfang war das Spiel der Flammenzungen noch lustig gewesen, aber nun machte es ihm keinen Spaß mehr, sondern nur noch Angst, denn das Feuer wuchs mit jeder Sekunde und wurde zu einem riesigen, gefräßigen Ungetüm, das alles verschlingen würde, was in seiner Reichweite war.

Er wandte den Kopf, als in der Ferne ein jaulender, auf- und abschwellender Laut zu hören war, der allmählich immer lauter wurde, weil die Lärmquelle rasch näher kam. Er kannte dieses Geräusch. Er hatte es schon oft gehört und sofort die dazu passenden Bilder der Fahrzeuge vor Augen, die diese Töne von sich gaben, während sie durch die Straßen sausten.

Er ließ sich davon allerdings nur kurz ablenken und richtete sein Augenmerk und seine Aufmerksamkeit sofort wieder auf das brennende Haus vor ihm, als könnten die Flammen seine Abgelenktheit ansonsten ausnutzen und ihn anspringen, wenn er sie nicht scharf im Auge behielt.

Trotz all ihrer Gefährlichkeit, ihrer Unberechenbarkeit und ihrer Gier hatten die Flammen gleichzeitig auch etwas zutiefst Faszinierendes an sich. Und so verfolgte er wie hypnotisiert ihren tödlichen Tanz. Aus diesem Grund war er blind und taub für alles andere, was um ihn herum geschah, und spürte nicht die Gefahr, die gar nicht vom Feuer ausging, sondern sich ihm in diesem Augenblick aus einer ganz anderen, unerwarteten Richtung näherte.

Erst in dem Moment, als ihn eine kräftige Hand im Genick packte und hochhob, wurde er sich der Person bewusst, die sich von hinten an ihn herangeschlichen hatte. Doch da war es längst zu spät und aussichtslos, zu reagieren.

Die große, kräftige Gestalt legte die andere Hand um seinen Unterkiefer und riss seinen Kopf so heftig und abrupt zur Seite, dass die Wirbel in seinem Hals knirschend brachen.

Er kam nicht einmal dazu, einen einzigen Laut von sich zu geben, ehe er starb …

KAPITEL 1

1

Ein kühler, frühmorgendlicher Windstoß rüttelte an den Ästen der großen Eiche und ließ ihre Blätter rascheln, als wisperten sie einander Geheimnisse zu. Doch sosehr Kriminalhauptkommissar Franz Schäringer sich auch darauf konzentrierte, so hoffte er dennoch vergeblich darauf, sie würden ihm verraten, was letzte Nacht an diesem Ort geschehen war.

Nach Schäringers langjähriger Erfahrung als Kriminalbeamter der Mordkommission wurden Leichen sehr oft am frühen Morgen gefunden. Die Leute standen nichtsahnend auf, frühstückten – noch immer ohne das Bewusstsein, dass ihnen alsbald der Tag und möglicherweise sogar die ganze Woche versaut werden würde –, und kamen dann auf dem Weg zur Arbeit oder zu einer anderen Beschäftigung an einen Ort, wo sie ganz unvermittelt über einen Leichnam stolperten, der am Abend zuvor noch nicht dort gewesen war. Entweder hatte sich der oder die Verstorbene vor seinem oder ihrem Ableben selbst freiwillig oder unfreiwillig dorthin begeben. Oder er oder sie war von seinem oder ihrem Mörder vor oder nach der Tat aus irgendwelchen Gründen an diesen Ort gebracht worden. Schäringers Aufgabe war es dann zunächst einmal, mithilfe der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin herauszufinden, welche der vorgenannten Alternativen zutraf, um dann für den Fall, dass es sich tatsächlich um ein Tötungsdelikt handelte, im zweiten Schritt den oder die Täter zu ermitteln. Das klang in der Theorie relativ einfach, war es in der Praxis allerdings nur selten.

Der Tote, auf den der Ermittler der Kripo Fürstenfeldbruck in diesem Moment starrte, bestätigte in dieser Hinsicht seine Erfahrungswerte. Er war am frühen Morgen dieses Tages unmittelbar nach Sonnenaufgang von einem Bauern gefunden worden. Dieser war mit seinem Traktor vorbeigekommen und hatte sich verwundert gefragt, warum jemand eine Vogelscheuche an einen Ast der eindrucksvollen, riesigen Eiche gehängt hatte, die hier schon seit Jahrhunderten stand und die Gabelung des Feldwegs markierte. Nachdem der schon recht betagte Landwirt von seinem Fahrzeug gestiegen war und festgestellt hatte, dass es sich gar nicht um eine Vogelscheuche, sondern um einen toten jungen Mann handelte, hatte er zunächst sein reichhaltiges Frühstück, das zum überwiegenden Teil aus eigenen Erzeugnissen bestanden hatte, von sich gegeben, bevor er sich wieder auf seinen fast ebenso betagten Traktor setzte und so schnell, wie es die alte Maschine hergab, zurück zu seinem Hof fuhr, von wo er sofort stammelnd die Polizei über den entsetzlichen Fund informierte.

Es war noch immer früh am Tag – Schäringers Armbanduhr stand auf zehn vor sieben – und trotz der Tatsache, dass es Ende Juni war, erstaunlich frisch. Der Kriminalbeamte fröstelte und zog unwillkürlich die Schultern hoch.

Obwohl der junge Mann schon vor gut anderthalb Stunden gefunden worden war und die ersten Einsatzkräfte vor einer Stunde hier eingetroffen waren, hing er noch immer am Baum. Da für ihn längst jede Hilfe zu spät kam, hatte es niemand eilig, ihn von dort herunterzuholen. Im Gegenteil, denn erst mussten alle Spuren an der Leiche, am Strick und auf dem Erdboden unmittelbar unter dem Toten gesichert werden, die ansonsten bei der Bergung zerstört werden konnten. Schließlich wusste momentan noch niemand mit letzter Gewissheit, ob es sich tatsächlich um einen Freitod handelte, wie es den Anschein hatte, oder ob jemand, der den jungen Mann umgebracht hatte, nur diesen Eindruck erwecken wollte, um den perfekten Mord zu begehen und mit seinem Verbrechen ungestraft davonzukommen. Für empfindlichere Gemüter mochte es befremdlich erscheinen, einen menschlichen Leichnam so lange hängen zu lassen. Bei der Polizeiarbeit war für derartige Sentimentalitäten allerdings kein Raum. Alle, die sich in diesem Moment in unmittelbarer Nähe des Tatorts befanden, konzentrierten sich darauf, ihren Job zu erledigen. Und der bestand in erster Linie darin, anhand der Leiche und eventueller Spuren herauszufinden, was hier geschehen und wie es dazu gekommen war, dass der Junge jetzt am Baum hing. Schließlich konnte ihnen der einzige Tatbeteiligte, der zum gegenwärtigen Zeitpunkt greifbar war, nichts mehr darüber erzählen, weil er das Opfer und darüber hinaus mausetot war. Und falls er sich nicht selbst und aus freiem Willen an diesem einsamen Ort erhängt hatte, mussten sie ermitteln, wer dafür die Verantwortung trug, damit der Täter bestraft wurde, weil er gegen eins der zehn göttlichen Gebote und eine der elementarsten Regeln des menschlichen Zusammenlebens verstoßen hatte: Du sollst nicht töten! Schon ein einziger Fehler bei der Sicherung der Spuren konnte dazu führen, dass der wahre Täter nie ermittelt und gefasst wurde und – möglicherweise angestachelt von seinem Erfolg – erneut zuschlug. Aus diesem Grund arbeiteten die Mitarbeiter der Abteilung Spurensicherung und -auswertung unter der Leitung von Schäringers Kollegen Christian Krautmann lieber etwas langsamer, aber dafür umso sorgfältiger. Und wenn das im Endeffekt bedeutete, dass der Leichnam eine Viertelstunde länger an seinem Strick baumelte, dann musste das eben im Dienst der Wahrheitsfindung in Kauf genommen werden. Schäringer war sich sicher, dass die Seele des Toten dort, wo sie sich jetzt befand, vermutlich am wenigsten Anstoß daran nahm. Sie dürfte sogar viel eher daran interessiert sein, dass ihr Tod aufgeklärt und – falls es sich dann doch um Mord handelte – gesühnt wurde.

Die Mitarbeiter der Spurensicherung mussten ihre Arbeit in der unmittelbaren Umgebung der Leiche abgeschlossen haben, denn sie machten sich nun daran, den Leichnam zu bergen. Einer der Männer, die einen hellgrauen Einmal-Overall mit übergezogener Kapuze und der Rückenaufschrift Polizei trugen, stieg auf eine Aluminium-Leiter, die man neben dem sachte hin und her pendelnden Leichnam aufgerichtet und gegen den dicken Ast gelehnt hatte, um den auch der Strick gebunden war, an dessen unterem Ende der Tote hing. Der Beamte schnitt den Strick an der Oberseite des Astes durch, um die Knoten nicht zu zerstören. Denn falls es sich um Mord handelte und der Mörder die Knoten geknüpft hatte, konnten sie unter Umständen wichtige Hinweise auf seine Person liefern. Zwei Kollegen des Mannes auf der Leiter, die unter dem Leichnam standen, nahmen diesen in Empfang, als er, seines Haltes beraubt, nach unten plumpste, und legten ihn erstaunlich behutsam und rücksichtsvoll auf den Boden.

Schäringer beobachtete, wie der Gerichtsmediziner Dr. Mangold, der ungeduldig am Rand des von der Spurensicherung untersuchten Bereichs darauf gewartet hatte, dass er endlich in Aktion treten konnte, zu dem Toten ging. Er ließ sich neben ihm in die Knie sinken, stellte seine Arzttasche ab und begann mit der ersten Untersuchung.

Schäringer gähnte hinter vorgehaltener Hand, denn er war noch immer etwas müde, nachdem der Anruf des diensthabenden Kollegen vom Kriminaldauerdienst ihn vor seiner üblichen Zeit aus dem Bett geholt hatte. Er sah sich um, um sich ein Bild von der Umgebung zu machen, und drehte sich dabei einmal um die eigene Achse.

Die Stelle, an der sich der Feldweg gabelte, befand sich im Süden der Ortschaft Landsberied, die etwa 20 Kilometer westlich von Fürstenfeldbruck lag. Die Eiche war der einzige größere Baum weit und breit und stand zwischen den beiden Ästen der Weggabelung, die beide nach Süden führten, wo in einem Kilometer Entfernung der Fürstenfelder Wald begann. Der eindrucksvolle Baum war mindestens 20 Meter hoch, und der Stamm besaß einen Durchmesser von ungefähr 5 Metern. Schäringer schätzte daher, dass die Eiche schon an die 400 Jahre alt sein konnte. Unter den ausladenden Ästen des Baums stand eine Holzbank, auf der sich müde Spaziergänger ausruhen konnten. Daneben befand sich ein hölzernes Marterl, wie Wegekreuze in Bayern genannt werden, die meist aufgrund eines Gelübdes aus Dankbarkeit wegen der Rettung aus einer großen Notlage, beispielsweise Krieg, Krankheit oder Seuche, gestiftet und errichtet worden waren. Außer der Eiche, der Bank und dem Marterl gab es hier im Umkreis von mindestens einem Kilometer nichts Augenfälliges, denn rechts und links der Feldwege lagen nur Äcker mit unterschiedlicher Bepflanzung und in verschiedenen Reifestadien.

Die Fahrzeuge all derjenigen, die an diesem Morgen ausschließlich aus beruflichen Gründen den Weg an diesen Ort gefunden hatten, der um diese Zeit ansonsten vermutlich ebenso einsam und verlassen gewesen wäre wie ein Mondkrater, nun aber nahezu überlaufen wirkte, waren allesamt ordentlich auf einer Seite des Feldwegs abgestellt worden, auf dem Schäringer stand und der von Landsberied zur Gabelung führte. Es handelte sich um zwei Streifenwagen, den Kleintransporter der Spurensicherung und einen Leichenwagen des örtlichen Bestatters, in dem der Tote weggebracht werden würde, sobald Dr. Mangold die Untersuchung beendet und die Leiche zum Abtransport freigegeben hatte. Der Fahrer und der Beifahrer standen neben ihrem Fahrzeug, dessen Heckklappe bereits erwartungsvoll offen stand und einen Blick auf den leeren Transportsarg auf der Ladefläche erlaubte, warteten auf ihren Einsatz und unterhielten sich. Einer der Männer rauchte eine Zigarette und trank aus einer Flasche zuckerarme Cola, während der andere sich eine Butterbreze schmecken ließ. Hinter dem Leichenwagen standen vier zivile Fahrzeuge. Schäringer kannte die beiden vorderen, bei denen es sich um den Dienstwagen von Christian Krautmann, dem Leiter der Abteilung Spurensicherung und -verwertung, und das Privatfahrzeug von Dr. Mangold, einen relativ neuen Mercedes SLK 250 Roadster, handelte, und das letzte Fahrzeug, den BMW, mit dem sein Kollege und er wieder einmal als Letzte zum Tatort gekommen waren. Das Fahrzeug unmittelbar vor ihrem Dienstwagen, ein weiterer BMW 316i, kannte er allerdings nicht.

»Wem gehört eigentlich der BMW vor unserem?«, fragte er deshalb seinen Kollegen, Kriminalkommissar Lutz Baum, der neben ihm stand. Baum bekam um diese Tageszeit üblicherweise kaum die Augen auf und hielt sich deshalb, um nicht umzukippen, an einem riesigen Becher Kaffee fest, den er von zu Hause mitgebracht hatte, wo Schäringer ihn vor knapp fünfundzwanzig Minuten persönlich abgeholt hatte, damit er nicht wieder erst dann am Tatort eintrudelte, wenn alle anderen schon einpackten und die Leiche längst in einem Sektionsraum der Gerichtsmedizin lag.

Die beiden Kriminalbeamten der Mordkommission, die nun schon seit 6 Jahren zusammenarbeiteten, waren sehr unterschiedlich, sowohl im Hinblick auf ihre körperliche Erscheinung als auch hinsichtlich ihres Charakters. Schäringer war ein Meter neunzig und sehr schlank, wodurch er noch größer wirkte. Er besaß trotz seiner 57 Lebensjahre noch immer dichtes, aschblondes Haar mit nur wenigen Spuren von Grau. Der 38-jährige Baum war hingegen mittelgroß und wirkte neben seinem Kollegen sogar noch kleiner. Er hatte kurz geschnittenes, lockiges, karottenrotes Haar und neigte aufgrund seiner Vorliebe für reichhaltige Mahlzeiten, Süßigkeiten zwischen den Mahlzeiten und schlechten Automatenkaffee zwischen den Mahlzeiten und den Süßigkeiten und einer damit einhergehenden Abneigung für jegliche Form der körperlichen Ertüchtigung zum Übergewicht, was sich vor allem im Bereich von Bauch und Hüften und in seinem rosigen Gesicht zeigte. Auf dem rechten Handrücken hatte Baum eine drei Zentimeter lange, weiße Narbe, ein Andenken an einen früheren Fall, an den er nur ungern erinnert wurde, als er sich an den Scherben einer zerbrochenen Terrariumtür geschnitten hatte. Von dem Biss der harmlosen Kornnatter, den er sich bei dieser Gelegenheit ebenfalls zugezogen und von dem er geglaubt hatte, er würde ihn sein junges Leben kosten, war hingegen nichts mehr zu sehen. Baum bevorzugte Markenkleidung und trug an diesem Tag eine Boxy-Powell-Jeans von Jack & Jones, einen in den Farben Schwarz und Weiß quergestreiften Pullover mit V-Ausschnitt von Bruno Banani und Slipper von Hush Puppies. Über dem Pulli trug er seine obligatorische schwarze Lammlederjacke von Just Cavalli, ohne die er nicht aus dem Haus ging. Die Jacke allein hatte mehr gekostet als Schäringers komplette Garderobe, der auch an diesem Tag einen seiner gewohnten 2-teiligen Anzüge trug, die er vor ein paar Jahren in den Farben braun, mittelgrau, mitternachtsblau und schwarz bestellt hatte. Heute war der braune Anzug an der Reihe, dazu ein weißes Hemd, eine beigefarbene, schmale Krawatte und schwarze Schnürschuhe. Schäringer liebte komplizierte Fälle voller Rätsel, die ihn vor intellektuelle Herausforderungen stellten. Er dachte gern um die Ecke und versuchte stets, alle Begleitumstände eines Falles einschließlich zunächst nebensächlich erscheinender Details gleichzeitig im Auge zu behalten und miteinander in Verbindung zu bringen. Baum war hingegen der Meinung, sein Kollege würde zu kompliziert denken und sich trotz seiner Erfolge zu leicht und zu oft in Nebensächlichkeiten verrennen. Er selbst konzentrierte sich bei ihren Ermittlungen daher vor allem aus Bequemlichkeit lieber auf das Wesentliche und sah ungern über den Rand des Tellers, auf dem er saß, hinaus. Aber trotz oder vielleicht sogar gerade wegen all ihrer Gegensätzlichkeiten bildeten sie im Großen und Ganzen ein harmonisches und erfolgreiches Team.

»Hä?«, fragte Baum, nachdem er sich in Zeitlupe zu Schäringer umgewandt hatte, und sah ihn mit verschlafenem Gesichtsausdruck und aus Augen, die er gerade einmal zu schmalen Schlitzen öffnen konnte, ratlos an. »Was ist mit unserem BMW?«

»Nicht mit unserem. Ich meine den Wagen, der vor unserem steht. Weißt du zufällig, wem der gehört?«

Baum drehte sich schwerfällig in die andere Richtung und sah zu der Reihe von Fahrzeugen zurück. Er blinzelte, nahm einen Schluck aus dem halbvollen Becher in seiner Hand und sagte dann: »Ist das nicht der Wagen vom Bauer.«

»Vom Bauern? Meinst du etwa den, der die Leiche gefunden hat? Ich dachte, der wäre mit dem Bulldog gekommen und wieder auf seinen Hof zurückgefahren, nachdem er die Eiche mit seinem Frühstück gedüngt hatte.«

»Nicht von dem Bauern, sondern vom Bauer«, korrigierte Baum und wandte sich wieder Schäringer zu. »Ich meine unseren lieben Kollegen vom Kommissariat für Vermisstenfälle. Der heißt Bauer.«

»Vermisstenfälle?« Schäringer runzelte die Stirn. Er sah wieder zur Eiche, unter deren Blätterdach sich die meisten der übrigen Anwesenden versammelt hatten, und sah sich die Personen noch einmal der Reihe nach an. Uniformierte Beamte, Mitarbeiter der Spurensicherung in ihren Overalls und mittendrin als einzige Person in Zivil der Rechtsmediziner Dr. Mangold, der noch immer mit der Untersuchung der Leiche beschäftigt war. Sonst war niemand zu sehen. Doch dann, als hätte allein die Nennung ihres Namens sie heraufbeschworen wie einen übellaunigen Flaschengeist, kam eine weitere Person hinter dem dicken Stamm des Baumes hervor, der sie bislang vor Schäringers Blicken verborgen hatte, und trat in sein Blickfeld. »Du hast recht, Lutz, das ist tatsächlich der Bauer von der Vermisstenabteilung.«

Schäringer mochte den Kollegen, der für vermisste Personen zuständig war, nicht besonders, auch wenn er sich bei zufälligen Begegnungen bemühte, sich seine Abneigung nicht zu deutlich anmerken zu lassen. Bauer galt als krankhaft ehrgeizig und unkollegial. Als vor sechs Jahren Schäringer vorheriger Kollege in der Mordkommission auf eigenen Wunsch zur Kripo nach München gewechselt war und die frei gewordene Stelle neu besetzt werden musste, hatte sich auch Bauer darum beworben, der in der Position vermutlich vor allem ein Sprungbrett sah, auf dem er sich durch die Aufklärung spektakulärer Mordfälle auszeichnen und so für höhere Aufgaben innerhalb des bayrischen Polizeiapparates empfehlen konnte. Schäringer, der bei der Auswahl seines zukünftigen Mitarbeiters ein entscheidendes Wörtchen mitreden durfte, entschied sich allerdings gegen Bauer und stattdessen für den jüngeren Kriminalkommissar Lutz Baum aus der Abteilung für Einbruchs- und Kfz-Kriminalität. Er hielt Baum nicht nur für kompetenter und fachlich geeigneter, sondern war auch der Ansicht, sie würden besser zueinanderpassen und miteinander auskommen und sich in der täglichen Zusammenarbeit möglicherweise sogar ergänzen. Und bis zum heutigen Tag hatte er auch noch keinen Grund gehabt, die damalige Entscheidung in irgendeiner Weise zu bereuen – wenn man einmal von Baums ungesunder Vorliebe für den grässlichen Automatenkaffee aus der Kriminalpolizeiinspektion absah. Bauer hatte Schäringer die Ablehnung allerdings nie verziehen und hegte seitdem einen Groll gegen Schäringer und Baum im Speziellen und die Mordkommission im Allgemeinen.

Baum sah in die Richtung, in die Schäringers Blick gerichtet war. »Aber was hat der Bauer hier überhaupt zu suchen? Handelt es sich bei dem Toten etwa um einen seiner Vermisstenfälle?«

»Am schnellsten finden wir das vermutlich heraus, wenn wir zu ihm gehen und ihn fragen.«

»Wenn’s unbedingt sein muss«, murmelte Baum mit einem Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen, ehe sie sich auf den Weg machten, um mit dem ungeliebten Kollegen zu reden. Wenigstens wirkte er jetzt schon entschieden wacher als fünf Minuten zuvor.

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