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Achtes Kapitel

Happy Camp bestand aus einem Dutzend Zelten, die sich am äußersten Rande der Baumgrenze mit spitzen Pfählen wie verzweifelt in den Boden krallten. Frona ging, ausgepumpt von den wilden Strapazen dieses Tages, von Zelt zu Zelt. Der Wind stieß sie vor sich her; ihr nasser Rock hing wie Blei an den Hüften. Einmal hörte sie durch die Leinenwände einen Mann ungeheuerlich fluchen und dachte beseligt: das ist Bishop! Aber als sie hineinsah, hatte sie sich geirrt. Erst das letzte Zelt des Lagers schien ihr einladend. Sie lüftete die Zelttür: drinnen lag ein Mann auf den Knien und blies mit aller Kraft in die Glut eines rauchenden Öfchens.

Frona trat ein. Nasser Rauch schlug ihr in den Mund, sie mußte husten. Da erst bemerkte der Mann, daß er einen Gast bekommen hatte.

»Binden Sie die Klappe wieder zu, und machen Sie sich's bequem«, sagte er, ohne seine Beschäftigung zu unterbrechen.

Ein Haufen Zwergkiefernzweige lag, in passende Stücke zerhackt, aber naß, neben dem Ofen. Frona sah, daß er nicht genügend gefüllt war, hockte sich nieder und legte sachverständig die feuchten Scheiter auf. Der Mann erhob sich, hustete den Rauch aus und sah Frona mit geröteten Augen an.

»Trocknen Sie Ihr Zeug«, sagte er. »Ich sorge für Abendbrot.«

Er goß Wasser aus einem Eimer in die Kaffeekanne und stellte sie auf den Ofen. Dann ging er mit dem Eimer hinaus, um ihn neu zu füllen. Als er verschwunden war, griff Frona nach ihrem Ranzen, und als er wiederkam, stand sie in einer trockenen Bluse da und wrang die nasse aus. Während er in der Proviantkiste nach Tellern und Bestecks kramte, spannte sie eine Leine zwischen den Zeltstangen aus und hängte ihre Wäsche zum Trocknen auf.

Die Teller waren schmutzig. Während der Mann gebückt dastand und sie wusch, wechselte sie auch noch die Strümpfe und zog ein Paar feiner, weicher Mokassins an. Das Feuer brannte jetzt. Bisher hatten die beiden kaum ein Wort gesprochen. Der Mann benahm sich, als sei es das Natürlichste von der Welt, daß ein junges Mädchen in Nacht und Unwetter zu ihm hereingeschneit kam. Frona nahm ein- oder zweimal einen Anlauf, um etwas zu sagen, aber er schien ihre Anwesenheit vergessen zu haben, und so schwieg sie.

Nachdem er mit der Axt eine Dose Pökelfleisch geöffnet hatte, warf er ein Dutzend Speckscheiben in die Pfanne. Dann kochte er Kaffee und holte aus der Proviantkiste einen kalten schweren Pfannkuchen hervor. Diese Delikatesse prüfte er zweifelnd und sah dabei Frona an. Dann schmiß er das klitschige Ding zum Zelt hinaus und warf eine Handvoll Schiffszwieback auf ein Wachstuch, das auf dem Boden lag und als Eßtisch dienen sollte. Die Zwiebäcke waren zerkrümelt, vom Regen aufgeweicht; sie bildeten einen schmutzig weißen Brei.

»Mehr habe ich nicht, das da muß als Brot gelten.«

»Einen Augenblick!« Ehe er protestieren konnte, hatte Frona die Schiffszwiebacke auf das siedende Fett und den Speck in der Pfanne geworfen. Sie goß ein paar Tassen Wasser dazu und verrührte alles über dem Feuer. Als es einige Minuten lang aus der Pfanne geschluchzt und geseufzt hatte, schnitt sie das Pökelfleisch in Scheiben und tat es zu dem übrigen, salzte und pfefferte. Ein angenehmer Duft stieg aus der Pfanne auf. Als er nun seinen Teller auf dem Knie balancierte und das Gericht kostete, sagte er:

»Das schmeckt, Donnerwetter, wie das schmeckt! Wie nennen Sie das?«

»Goldgräbersalat«, sagte sie kurz, und dann aßen sie beide wie hungrige Wölfe.

Nach und nach hatten Fronas Augen sich an den Rauch und das Halbdunkel gewöhnt, schweigend studierte sie das Gesicht ihres Wirtes. Es lag Kraft und Ausdruck darin, aber seltsam, das war ein Gelehrtenkopf … Solche Augen kannte sie bei Männern, die viele Nächte lang über Büchern gesessen hatten. Die Augen waren braun, es waren schöne, sympathische Augen. Bei Tag würden sie wahrscheinlich grau, beinahe graublau aussehen. Frona wußte Bescheid, ihre beste und einzige Freundin auf der Universität hatte genau solche Augen gehabt.

Sein Haar war tiefblond und schimmerte im Kerzenlicht, sein lohfarbener Schnurrbart war ein wenig gelockt. Unter seinen Backenknochen lagen schwache Höhlen, die Frona verdächtig schienen. Aber seine muskulöse, schlanke Figur mit den breiten Schultern beruhigte sie wieder. Er schien den Fünfundzwanzig näher zu sein als den Dreißig.

»Decken hab' ich nicht viel«, sagte er nach langem Schweigen. »Meine Indianer kommen erst morgen früh vom Lindermannsee zurück. Sie haben alles mitgenommen, was ich entbehren kann. Aber es wird gehen; ich habe noch ein paar dicke Mäntel, die tun es auch.«

Er kehrte ihr den Rücken und öffnete einen Wachstuchballen. Dann nahm er aus der Kleiderkiste zwei Mäntel und warf sie auf die ausgebreiteten Decken.

»Sie sind vom Tingeltangel?« fragte er, scheinbar ganz gleichgültig, als wüßte er die Antwort im voraus. Frona erinnerte sich an Nipuhsas Fluch über die weißen Weiber, die ins Land gekommen waren, und plötzlich erkannte sie, in welchem Lichte sie stand.

Er fuhr fort: »Gestern abend waren zwei Tingeltangeldamen bei mir, vorgestern drei. Da hatte ich aber noch mehr Bettzeug. Merkwürdig, all diese Damen haben Pech, immer ist ihre Ausrüstung verloren. Daß die Sachen sich wiedergefunden hätten, habe ich nie gehört. Alle sind sie Stars, darunter tun sie's nie. Sie sind doch gewiß auch ein Star?«

Zu ihrem Ärger wurde Frona rot: »Ich bin nicht vom Tingeltangel.«

Er breitete ein paar Mehlsäcke neben den Ofen aus und machte ein zweites Bett zurecht.

»Aber Artistin sind Sie doch?« beharrte er.

»Leider bin ich keine Artistin, absolut nicht.«

Zum erstenmal schien er sie anzusehen, aber diesmal aufmerksam, vom Kopf bis zu den Füßen. Er ließ sich Zeit zu seiner Musterung.

»Ich bitte Sie um Entschuldigung«, sagte er. »Dann muß ich Ihnen aber sagen, daß Sie eine große Närrin sind. In dies Land kommen nur zwei Sorten Frauen: die mit ihren Männern oder Vätern, das sind die anständigen, und dann die anderen, die man aus Höflichkeit Tingeltangel-Sterne oder Artistinnen nennt. Eine dritte Sorte hat hier keinen Platz. Wer nicht zur einen oder anderen gehört, kommt unter die Räder. Deshalb sage ich Ihnen: Sie sind ein sehr dummes Mädel und können nichts Besseres tun als umkehren, solange es möglich ist. Ich will Ihnen einen Indianer bis Dyea mitgeben und Geld für die Rückreise nach den Staaten. Sie werden von einem Fremden kein Geld nehmen wollen, aber es ist ja nur geliehen. Sie schicken mir den Kies zurück, wenn es Ihnen paßt.«

Frona hatte versucht, ihn zu unterbrechen, aber er schnitt ihre Worte mit einer Handbewegung ab.

»Ich danke Ihnen«, setzte sie an, aber er unterbrach:

»Sie sollen gehorchen und nicht danken.«

»Ich danke Ihnen trotzdem, aber das heißt: danke nein«, beharrte sie. »Zufällig irren Sie sich so ziemlich in allem. Ich wollte meine Träger hier in Happy Camp treffen, sie sind mit Zelt und Bett und allem, was der Mensch braucht, ein paar Stunden vor mir abmarschiert. Ein Boot ist heute nachmittag vom Sturm an die Westküste des Kratersees verschlagen worden, darin müssen meine Leute gewesen sein. So kommt es, daß ich wie ein nackter Spatz bei Ihnen hereingeweht bin. Ihr Rat, ich soll umkehren, ist gewiß gut gemeint, aber mein Vater erwartet mich in Dawson. Wir haben uns drei Jahre lang nicht gesehen. So weit sind Sie hoffentlich beruhigt, mein Herr Gastwirt? Dann erlauben Sie freundlichst, daß ich ein bißchen zu Bett gehe.«

»Das ist doch unmöglich!« rief er, dem plötzlich bewußt wurde, daß er es mit einer jungen Dame zu tun hatte.

»Ja, was denn? Sind etwa in den anderen Zelten noch andere Frauen?«

»Nur in einem Zelt, da sind zwei oder drei … Aber grade das ist gar nichts für Sie.«

Er überlegte mit Anstrengung; das Segelleinen des Zeltes bauschte sich im Sturm, der draußen brüllte.

»Ein Mann, der heute im Freien übernachten muß, ist verloren«, sagte er. »Die anderen Zelte sind überfüllt. Was tut man da? …«

»Vielleicht kann ich heute abend noch nach dem Tiefensee kommen?« fragte Frona, halb mitleidig, halb ironisch.

»Sie können doch unmöglich im Dunkeln über den Fluß setzen!«

»Sie haben offenbar Angst vor mir?«

»Nicht für mich.«

»Also schön, dann geh' ich ins Bett.«

»Ich bleibe auf und sehe nach dem Feuer«, sagte er gedehnt.

Frona sprang auf und schrie. »Jetzt hab' ich den Unsinn aber satt! Sind wir in einem Bürgerdorf mit drei Gasthöfen, oder sind wir auf dem Weg zum Nordpol? Ich geh' zu Bett, und Sie gehn auch zu Bett, und damit basta.«

»Gute Nacht«, sagte sie nach zwei Minuten, als sie ihre Glieder mit Wohlbehagen in der Wärme gestreckt hatte. Eine Viertelstunde später fragte sie:

»Sind Sie noch wach?«

»Ja, was gibt es?«

»Haben Sie Späne?«

»Was für Späne?«

»Zum Feueranmachen morgen früh, natürlich. Sonst stehen Sie auf und machen welche.«

Er gehorchte, ohne zu widersprechen, aber sie hörte nichts mehr …

Als sie die Augen aufschlug, war die Luft voll vom frischen Duft gebratenen Specks. Die Sonne fiel durch den aufgeschlagenen Zeltvorhang herein. Draußen zogen truppweise Lastträger vorbei mit Pfeifen und Singen. Es tat gut, aus dem warmen Bett heraus dies eifrige Leben zu sehen, dann rekelte Frona sich auf die andere Seite und machte noch einmal die Augen zu. Als ihr Wirt Speck und Bratkartoffeln fertig hatte, sagte er freundlich:

»Guten Morgen, Fräulein. Ob Sie gut geschlafen haben, brauche ich nicht zu fragen. Das hab' ich gehört.«

Nach dem Frühstück ließen sie sich vor dem Zelt die warme Sonne auf den Pelz scheinen. Bald darauf bog eine Schar wohlbekannter Männer um den Gletscher beim Kratersee und marschierte auf Happy Camp zu. Sie klatschte in die Hände.

»Dort kommt mein Gepäck! Mein Transportführer wird schön die Ohren hängen lassen, aber ich kann ihn trösten. Das ganze Abenteuer war wunderschön.«

Sie hängte sich das Ränzel und die Kamera über die Schultern und nahm Abschied.

»Auf Wiedersehen, lieber Gastwirt, und haben Sie tausend Dank für alles.«

»Da ist doch nichts zu danken. Ich täte dasselbe gern für jeden …«

»… Tingeltangelstern!«

Er sah sie vorwurfsvoll an und sagte: »Ich weiß Ihren Namen nicht und will ihn auch gar nicht wissen.«

»So ungerecht wollen wir nicht sein, denn Ihren Namen kenne ich, Herr Vance Corliss. Ich hab' ihn nämlich auf den Gepäckzetteln gelesen. Ich heiße Frona Welse. Auf Wiedersehen!«

Sie machte sich im Laufschritt auf die Beine.

»Ihr Vater ist doch nicht etwa …?« schrie er ihr nach.

Sie wandte den Kopf: »Natürlich. Und wenn Sie nach Dawson kommen, besuchen Sie uns!«

Eine Viertelstunde später stieß sie auf ihre Karawane. Del Bishop ließ durchaus nicht die Ohren hängen.

»Guten Morgen«, grüßte er. »Ich sehe Ihnen an, daß Sie eine famose Nacht gehabt haben, wenn es auch nicht mein Verdienst ist.«

»Sie haben sich doch nicht um mich gesorgt, Bishop?«

»Gesorgt? Um eine Welse? Nee, da hatte ich anderes zu tun, vor allem, dem Kratersee meine Meinung ins Gesicht zu spucken. Ich kann das Wasser nicht leiden. Immer spielt es mir solche Streiche. Aber Sie müssen nicht denken, daß ich Angst davor habe! Ich kann's nur nicht leiden.«

Neuntes Kapitel

Jacob Welse war Großkaufmann in einem Lande, das sonst noch keinen Handel kannte, ein ausgereiftes Produkt des neunzehnten Jahrhunderts in einer Gesellschaft, die primitiv war wie die der alten Vandalen. Als Monopolist großen Stils herrschte er über die unabhängigsten Menschen, die je in einem Winkel der Welt zusammengekommen waren. Als ein Missionar der Wirtschaft predigte er das Evangelium der Zweckmäßigkeit und der Macht. In seinem Glauben an die natürlichen Rechte der Menschen beugte er, selbst Demokrat, alle unter seinen starken Willen. Die Herrschaft Jacob Welses – das war sein ungeschriebenes Evangelium. Mit seinen Händen, ganz allein, hatte er ein Reich aufgebaut; unter seinem Kommando verbreitete sich die Bevölkerung über ein Gebiet von hunderttausend Meilen Umfang und zog sich wieder zurück. Städte wuchsen und verschwanden auf sein Gebot. Dennoch war er ein Mann aus dem Volke geblieben. Hier in der Prärie hatte er seinen ersten Atemzug getan. Der blaue Himmel war das Dach über seiner Wiege gewesen, und diese Wiege hatte aus einem Bündel grünen Heus bestanden.

Als er zum erstenmal die Augen öffnete, standen rings um ihn gesattelte Pferde, die das Wunder eines neugeborenen Menschen schnuppernd betrachteten. Sein Vater war Trapper, er hatte seine Kameraden auf ein paar Stunden verlassen, damit seine Frau Ruhe bekäme, wenn die Wehen ansetzten. Zu zweit hatten sie sich niedergelassen – ein paar Stunden später saßen sie zu dritt wieder im Sattel und holten den Trupp ihrer Kameraden ein. Es war gar keine Zeit vergeudet worden. Am nächsten Morgen bereitete Frau Welse wie immer das Frühstück am Lagerfeuer. Danach ritten sie bis Sonnenuntergang, eine Strecke von fünfzig englischen Meilen.

Fronas Großvater stammte aus der zähen Waliser Rasse und war in den ersten Tagen Ohios aus dem geschäftigen Osten gekommen. Seine Mutter war aus altem Nomadengeschlecht, ein Kind irischer Auswanderer, die sich endlich in Ontario niedergelassen hatten.

Ehe Jacob Welse noch richtig auf den Beinen stehen konnte, hatte er schon tausend Meilen Wildnis zu Pferde durchstreift und einen Winter hoch im Norden, in einer Jagdhütte an der Quelle des Roten Flusses, bestanden. Seine erste Fußbekleidung waren Mokassins gewesen, sein erster Leckerbissen Elchtalg. Für ihn war die Welt eine große, schneebedeckte Ebene, in der Indianer und weiße Jäger wie sein Vater streiften. Ein Haufen von Zelten aus gegerbten Tierhäuten war für ihn der Begriff »Stadt«, und ein »Faktor«, der Leiter einer kleinen Handelsstation, war für ihn der Inbegriff aller Allmacht. Flüsse und Seen dienten den Menschen als Verkehrswege, die Berge waren Verkehrshindernisse. Manchmal starben Menschen, aber ihr Fleisch taugte nicht zum Essen, und ihre Haut war wertlos. Dagegen war Pelzwerk kostbar, für einige Packen davon konnte man die ganze Welt kaufen. Tiere existierten, damit die Menschen sie jagten und ihnen das Fell abzogen. Wozu die Menschen da waren, wußte er nicht, es sei denn, weil der Faktor sie brauchte.

Als er älter wurde, änderten sich diese Begriffe allmählich, aber jeder neue Eindruck verursachte ihm Furcht und Verwunderung. Erst als er erwachsen war und viele Städte der Vereinigten Staaten durchwandert hatte, schwand der Ausdruck kindlicher Verwunderung aus seinen Augen. Dann wurde sein Blick scharf und durchdringend.

Bei seiner ersten Berührung mit Städtern hatte der kleine Jacob Verachtung gelernt. Das waren weibische Menschen, die sich oft verirrten und keinen Kompaß im Schädel hatten. Sie erkälteten sich leicht und hatten im Dunklen Angst. Deshalb schliefen sie unter Dächern und verschlossen nachts ihre Türen. Die Frauen waren hübsch, aber schwächlich. Bei einer ganzen Tagesreise auf Schneeschuhen kamen sie nicht weit. Alle redeten sie von morgens bis abends, sie redeten viel zuviel. Deshalb logen sie auch und schafften nichts mit ihren Händen.

Mit den Jahren merkte Jacob Welse, obwohl er meist in Wäldern und Steppen hauste, daß die Städte doch nicht ganz so übel waren. Jedenfalls konnte man in einer Stadt leben und trotzdem ein Mann sein. Er war an den Kampf mit der Natur gewöhnt, jetzt reizte ihn der wirtschaftliche Kampf im sozialen Leben. Die Herren der Märkte und Börsen erschreckten ihn, ohne daß ihr Glanz ihn blendete. Er studierte ihre Methoden und kam hinter das Geheimnis ihrer Macht. Endlich, als blühend junger Mannskerl, nahm er ein Stadtmädchen zur Frau.

Trotz aller Rücksicht auf die bürgerliche Welt rollte das Wanderblut weiter in seinen Adern, so daß er eines Tages am Strand von Dyea landete, wo er, am Rande des Waldes, das große Blockhaus erbaute und seine Faktorei errichtete. Hier fand er den richtigen Abstand zu den Dingen und erkannte, daß die Phänomene der Gesellschaft dieselben sind wie die der Natur. Hier wie dort kam alles auf Kampf an. Wettbewerb war das Geheimnis der Schöpfung, die Welt war für den Starken geschaffen. Nur der Starke konnte sie besitzen. Lesen und Schreiben hatte Jacob Welse bei seiner Mutter im Schein des Lagerfeuers gelernt. Dann hatte er Bücher jeglicher Art durchschmökert, ohne sich das Hirn zu überlasten. Was er von der ersten bis zur letzten Seite kannte, war einzig das Buch des Lebens. Er las es mit der Nüchternheit, die man in schwerer Arbeit gewinnt, und mit einer klaren Anschauung alles Irdischen.

Eines Tages hatte Jacob Welse den Chilcoot überschritten und war in unbekannte Weiten verschwunden. Ein Jahr darauf erschien er bei den russischen Missionen, die um die Mündung des Yukon herum am Beringsmeer lagen. Dreitausend Meilen weit war er einen Strom hinabgereist, hatte viel gesehen und einen großen Traum geträumt. Er sprach nicht davon, er machte sich an die Arbeit, und eines schönen Tages konnte man einen gebrechlichen Raddampfer bei Fort Yukon sehen, der seinen Dampfpfiff in die Mitternachtssonne schrie. Das war sein Anfang gewesen, Dampfer um Dampfer, Unternehmen um Unternehmen kam hinzu. Auf tausend Meilen rings errichtete er an den Strömen und ihren Nebenflüssen Speicher und Faktoreien. Er zwang dem Eingeborenen die Axt des weißen Mannes in die Hand, und bald erhoben sich in jedem Dorf und alle zwanzig Meilen zwischen den Dörfern lange Brennholzstapel für seine Dampfkessel. Später errichtete er auf einer Insel in der Mündung des Yukon, also fast schon im Beringsmeer, seine größte Faktorei, und bald pflügten seine Ozeandampfer den nördlichen Pazifik.

In Dutzenden von Filialen, bis San Franzisko hinunter, saßen seine Angestellten und besorgten nach telegraphischen Orders seine großen Geschäfte.

Früher hatte Hunger immer wieder die Menschen vertrieben, die ins Land kamen, jetzt aber war Jacob Welse da mit seinen Proviantläden. So konnten sie auch den Winter über trotz aller Kälte bleiben und im gefrorenen Schlamm nach Gold suchen. Er ermutigte, versorgte sie, gab ihnen Kredit. Aus einem Speicher und einem Laden, die er irgendwo in die Wildnis gelegt hatte, wurde in wenig Jahren eine Stadt. Unermüdlich, unbezwinglich, war er überall zugleich und tat alles, erschloß neue Flußläufe und mit den neuen Flußläufen neue Provinzen. Die großen Speditionsfirmen mußten ihm Frachtermäßigung gewähren; mit allen Mammut-Unternehmern der Welt stand er in Verbindung. Er verkaufte pfundweise Mehl und Tabak, einzelne Decken, einzelne Tabakpfeifen, zugleich erbaute er Industrieanlagen, ließ Bauplätze in Hunderten von Hektaren vermessen, eroberte Kupfer-, Eisen- und Kohlengruben.

Er trug das Land auf seinen Schultern, er allein leistete alle öffentliche Arbeit dieses Landes. Jede Unze Goldstaub ging durch seine Hände, jede Postkarte, jeder Kreditbrief. Er besorgte alle Bank- und Börsentransaktionen, den Postverkehr, die Postverteilung. Er jagte die Konkurrenz aus dem Land, ein Schrecken der Raubbau treibenden Kapitalisten; er bluffte kampfbereite Trusts. Es war manchmal ein hartnäckiges Ringen, aber immer fand er den Bluff, der seine Gegner vernichtete. Bei alledem fand er Zeit, an seine mutterlose Tochter zu denken, sie zu lieben und für eine Erziehung zu sorgen, die seiner Stellung entsprach.

Zehntes Kapitel

Jacob Welse half seinem Gast in den Pelz und sprach beim Abschiednehmen:

»Dann sind wir uns also einig, Kapitän, daß wir den Ernst der Situation energisch übertreiben wollen! Sie ist ernst genug; wir zwei wollen verhindern, daß alles noch schlimmer wird. Sie und ich, wir sind beide schon mit Hungersnöten fertig geworden; man muß der Gefahr nur rechtzeitig ins Auge sehen. Die Leute sollen Angst kriegen, jetzt schon, nicht erst, wenn es zu spät ist. Sorgen Sie dafür, daß fünftausend Mann Dawson verlassen, lassen Sie diese Fünftausend weit und breit von der drohenden Hungersnot erzählen, damit verhindern wir andere Fünftausend, über das Eis zu uns herüberzukommen.«

»Sie können mit der Hilfe der Polizei rechnen, Herr Welse.«

Der Kapitän war ein untersetzter Mann mit ergrauenden Haaren und militärischer Haltung.

»Sie haben es ja schon so weit gebracht, daß die Chechaquos ihre Ausrüstung verkaufen und sich nach Hunden umsehen. Sobald das Eis trägt, haben wir eine richtige Auswanderung! Wer jetzt seinen Proviant verkauft und fortzieht, macht uns das Leben um einen leeren Magen leichter und füttert zugleich einen Mann, der hierbleibt. Wann geht die ›Laura‹ ab?«

»Heut morgen mit dreihundert Mann an Bord! Ich wollte, es wären dreitausend!«

»Gott erhöre Ihr Gebet! Im übrigen, wann kommt Ihre Tochter an?«

Bei diesem Thema wurden Jacob Welses Augen warm.

»Sie kann jede Stunde eintreffen. Wenn sie erst da ist, müssen Sie oft zum Essen zu uns kommen und ein paar nette Jungens aus den Baracken mitbringen. Ich kenne nicht all die Namen, aber sagen Sie jedem, den Sie einführen wollen, daß die Einladung von mir persönlich komme. Ich hatte ja nie viel Zeit für Gesellschaft, aber sorgen Sie ein bißchen dafür, daß das Mädel sich amüsiert. Sie kommt geradeswegs aus den Staaten und aus London und soll sich hier nicht ganz vereinsamt fühlen.«

Die Tür ging auf.

»Herr Foster läßt fragen, ob er weiter Lieferscheine ausfüllen soll?«

»Jawohl, Herr Smith. Aber er soll alles auf die Hälfte herabsetzen. Wer einen Schein auf tausend Pfund hat, bekommt nur für fünfhundert Ware.«

»Jawohl, Herr Welse.«

Dann kam ein anderer Angestellter.

»Kapitän McGregor möchte mit Ihnen sprechen.«

»Herein mit ihm!«

Man sah es dem Schiffskapitän an, daß er von Kind an die rauhe Hand der neuen Welt gespürt hatte. Sie hatte ihn hart geknetet, aber sein grimmiges Gesicht sprach von unbestechlicher Ehrlichkeit, und zugleich sah man ihm an, daß mit ihm nicht gut Kirschen essen war. Sein breit vorstehendes Boxerkinn, die gebrochene schiefe Nase und eine große Narbe, die quer über seine Stirn lief, bewiesen, wie oft er seinen Mann gestanden hatte.

»In einer Stunde werfen wir los, Herr Welse. Bitte Ihre letzten Orders.«

»Schön, Kapitän. Ich habe diesen Winter eine andere Verwendung für Sie im Auge, aber leider müssen Sie jetzt doch mit der ›Laura‹ fahren. Können Sie raten, warum?«

»Es wird Krach geben«, sagte Kapitän McGregor, und um die Runzeln seiner Schläfen spielte so etwas wie Lächeln.

»Jedenfalls eine Aufgabe, für die es keinen besseren Mann gibt als Sie. Bally wird Ihnen noch genaue Instruktionen geben. Aber soviel kann ich Ihnen gleich sagen: wir müssen den Leuten solche Angst machen, daß sie aus dem Lande verschwinden, sonst wird in Fort Yukon bald jedes Pfund Proviant mit Gold aufgewogen. Verstanden?«

»Jawohl!«

»Also keine Verschwendung dulden. Zunächst nehmen Sie dreihundert Mann mit flußabwärts, wahrscheinlich kommen doppelt so viele nach, sobald das Eis trägt. Sie werden den Winter über tausend Mäuler durchzufüttern haben. Setzen Sie alle auf Rationen und sorgen Sie dafür, daß gearbeitet wird. Brennholz sechs Dollar den Klafter. Lassen Sie es am Ufer aufstapeln, wo der Dampfer anlegen kann. Wer nicht arbeitet, bekommt nichts zu essen. Verstanden?«

»Jawohl!«

»Tausend Mann können unangenehm werden, wenn sie müßig gehen. Können sogar sehr unangenehm werden. Passen Sie auf, daß sie die Depots nicht stürmen. Geschieht etwas dergleichen, dann kennen Sie Ihre Pflicht.«

Der Kapitän nickte grimmig.

»Fünf Dampfer stecken im Eis. Sie haben dafür zu sorgen, daß sie in Ordnung sind, wenn im Frühling das Eis aufbricht. Aber zuerst schaffen Sie alle Ladungen in ein großes Depot. Das können Sie leichter verteidigen. Machen Sie das Depot wasserdicht. Suchen Sie sich die rechten Leute heraus, die mit einem Gewehr umgehen können. Vergessen Sie nicht: wenn es hart auf hart geht, hat der gewonnen, der zuerst schießt.«

Als der Kapitän wegtrat, wurde Herr John Melton gemeldet, aber er folgte dem Kontoristen auf den Fersen, um nicht abgewiesen zu werden. Er schnaufte wie ein zorniges Nashorn und hielt dem Chef der Kompanie ein Papier vor die Nase.

»Lesen Sie das! Was soll das bedeuten, zum Henker?«

Jacob Welse warf einen Blick auf das Papier.

»Tausend Pfund Proviant.«

»Na also! Sagt mir der Kerl im Speicher, es gilt nur für fünfhundert!«

»Das stimmt.«

»Aber …«

»Es lautet auf tausend Pfund, aber wir können nur fünfhundert darauf liefern.«

»Ist das Ihre Unterschrift hier? Ist das, schwarz auf weiß, Ihr Name?«

»Ja.«

»Also, was werden Sie tun?«

»Ihnen fünfhundert geben. Und was werden Sie tun?«

»Die Annahme verweigern.«

»Gut. Dann brauchen wir nicht weiter zu reden.«

»Doch! Dann will ich Ihnen noch sagen, daß wir beide geschiedene Leute sind. Ich bin reich genug, um mein Gepäck selbst über die Pässe zu verfrachten, und das werde ich nächstes Jahr tun. Schluß mit Ihnen.«

»Dagegen kann ich nichts machen. Sie haben dreihunderttausend Dollar in Goldstaub bei mir stehen. Gehen Sie an die Kasse, und lassen Sie sie sich auszahlen.«

Melton ging in ohnmächtiger Wut auf und ab.

»Herrgott, Mann! Ich hab' doch für das Ganze bezahlt. Wollen Sie mich etwa verhungern lassen?«

»Hören Sie zu, Melton.« Jacob Welse machte eine Pause. Dann fragte er langsam: »Worum handelt es sich in diesem Augenblick? Was verlangen Sie?«

»Meine tausend Pfund Proviant!«

»Für Ihren eigenen Magen?«

Der Minenkönig nickte.

»Sehen Sie, Melton, Sie arbeiten für Ihren eigenen Magen und verlieren die Nerven wie ein Chechaquo. Ich arbeite für zwanzigtausend Mägen!«

»Aber Timm Reddy haben Sie noch gestern ohne Zögern für tausend Pfund gegeben!«

»Die Rationierung ist erst heute in Kraft getreten.«

»Aber warum soll gerade ich darunter leiden?«

»Weil Sie erst heute gekommen sind und Timm Reddy gestern.«

Jacob Welse sah in Meltons verständnisloses Gesicht und zuckte die Achseln.

»Es wird keiner vorgezogen. Ob Sie eine lumpige Aktie von den Bonanza-Minen oder ein dickes Paket Aktien haben, das gibt Ihnen kein Anrecht auf ein einziges Pfund mehr Futter, als der älteste, ärmste Arbeiter oder der kleinste Säugling bekommt. Hungern werden Sie nicht, solange ich die Zügel führe. Das verspreche ich Ihnen. Mehr verspreche ich Ihnen aber nicht. So, alter Freund, und jetzt geben Sie mir die Hand, und damit Schluß.«

Nach dem Bonanza-König kam ein schlottriger Yankee hereingeschlurft, angelte mit dem in einem Mokassin steckenden Fuß einen Stuhl heran und setzte sich vertraulich nieder.

»Hallo, Dave, sind Sie es?«

»Natürlich bin ich's, Welse. Hören Sie, die Geschichte mit dem Proviant hat den Leuten einen Schrecken eingejagt, der ist nicht von schlechten Eltern. Es wird eine tüchtige Abwanderung werden, sobald der Fluß zufriert.«

»Das freut mich zu hören. Wollen Sie mitmachen?«

»Ich? Ich denke nicht dran! Hab' mein Zeugs gestern schon nach der Mine verfrachtet. War auch höchste Zeit. Aber stellen Sie sich vor, Welse, was mit meinem Zucker passiert ist! Hatte den ganzen Vorrat auf dem letzten Schlitten, und gerade der hat den Einfall, durchs Eis zu brechen! Wissen Sie, gerade da, wo der Weg von Klondike nach Bonanza abgabelt. So was ist mir doch noch nicht passiert, der allerletzte Schlitten und all mein Zucker! Deshalb bin ich jetzt hier. Hundert Pfund oder so müssen Sie mir geben. Weißen oder braunen – es kommt nicht drauf an.«

Jacob Welse schüttelte lächelnd den Kopf, Dave Harney rückte seinen Stuhl noch näher an ihn heran.

»Ihr Kommis draußen sagt, es hätte keinen Zweck, ihn zu plagen. Schön, sage ich, dann schau' ich selbst mal beim Chef herein. Sie können meinetwegen doppelte Preise nehmen … ich zahle.«

Als er die ablehnende Haltung Welses spürte, wurde er immer dringlicher.

»Erinnern Sie sich an die Bonbons, die ich Ihnen damals am Preacher-Creek gemacht habe? Ja, das ist auch schon wieder sechs Jahre her. Herrgott, wie die Zeit läuft! Wenn nicht mehr, ich glaube sogar sieben! Also, Sie wissen doch: eher kann ich auf Tabak und Schnaps verzichten als auf meinen Süßkram. Ich kann einfach nicht! Es ist ein schrecklicher Zustand. Heraus mit dem Zucker, Welse! Meine Hunde stehen draußen, Sie fahren gleich mit mir nach dem Speicher! Famose Idee, was?«

»Nein.«

»Ich will ja nicht happig sein, Welse. Wenn Sie knapp sind, will ich mich mit 75 begnügen. Welse, Welse … geben Sie mir nur fünfzig! Ich verstehe Ihre Lage, ich bin ja nicht der Mann, der einen anderen Mann quält.«

»Nicht soviel Worte, Dave! Wir haben nicht ein einziges Pfund Zucker übrig!«

»Ich bin doch kein Gierschlund, geben Sie mir fünfundzwanzig!«

»Keine Unze!«

»Also dann vergessen Sie, daß ich Sie überhaupt um Zucker gebeten habe. Nur keinen Streit. Ich komme wieder, wenn Sie besserer Laune sind.«

Er überlegte, wie er diese bessere Laune herbeiführen könnte.

»Hören Sie das Pfeifen von der ›Laura‹? Sie geht gleich ab. Kommen Sie mit.«

Jacob Welse zog sich Pelz und Fausthandschuhe an, und sie gingen zusammen durch eine lange Reihe von Kontoren in den Laden. Wohl zweihundert Käufer standen vor den Theken, aber der Raum war so groß, daß sie kein Gedränge verursachten. Alle Gesichter waren ernst, viele sahen den Chef des Hauses wütend an. Alles wurde verkauft, nur keine Lebensmittel! Und gerade Lebensmittel brauchten sie.

»Preistreiberei, das Ganze! Wenn die Hungerpreise erst erreicht sind, wird die Ware schon auf den Markt kommen!« sagte laut ein rotbärtiger Goldgräber. Jacob Welse hörte es, aber er nahm keine Notiz davon. Das würde er noch oft und in viel gröberem Ton hören, ehe die Krise vorüber war.

Auf dem Bürgersteig blieb er stehen und las die Mitteilungen, die vor seinem Hause angeschlagen waren. Entlaufene Hunde, zugelaufene Hunde, verkäufliche Hunde, vor allem Verkaufsanzeigen für Ausrüstungen. Proviant von fünfhundert Pfund Gewicht wurde zu einem Dollar das Pfund angeboten – den Ängstlichen war der Schreck schon in die Glieder gefahren! Welse sah Melton im Gespräch mit einem besorgten Neuling. Die zufriedene Miene des Bonanza-Königs bewies, daß es ihm schon geglückt war, sein Depot für den Winter zu ergänzen.

»Warum versuchen Sie nicht hier, Zucker aufzutreiben, Dave?«

»Glauben Sie vielleicht, ich hätte es nicht versucht? Von Klondike City bis zum Hospital haben meine Hunde sich fast die Beine abgelaufen. Es gibt nichts, nicht für Geld und nicht für gute Worte.«

Sie gingen die Straße entlang, an den Speichertüren und an wartenden Hundegespannen vorbei. Die Tiere hatten sich wie Wölfe im Schnee zusammengerollt. Auf diesen Schnee, den ersten des Jahres, hatten die Goldgräber am Fluß gewartet, ehe sie anfingen, Proviant einzukaufen.

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190,56 ₽
Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
08 июля 2024
Объем:
200 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9788026884385
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