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Viertes Kapitel

Sie trat aus dem glitzernden Birkenwald heraus und flog leicht über die betaute Wiese dahin, während die ersten Sonnenstrahlen auf ihrem flatternden Haar flammten. Die Erde strotzte von Feuchtigkeit und quoll unter ihren Füßen, und die nassen Pflanzen schlugen ihr gegen die Knie, daß flüssige Diamanten leuchtend sprühten. Die Morgenröte färbte ihre Wangen und funkelte in ihren Augen, und sie glühte von Jugend und Liebe. Denn da sie keine Mutter gehabt, war sie am Busen der Natur aufgewachsen, und sie liebte die alten Bäume und die Schlingpflanzen leidenschaftlich. Das undeutliche Gemurmel erfreute ihr Ohr, und der feuchte Brodem der Erde stieg ihr süß in die Nase.

Dort, wo der obere Teil der Wiese in einem dunklen, engen Waldweg verschwand, fand sie zwischen langstengeligem Löwenzahn und leuchtenden Butterblumen ein Büschel Alaska-Veilchen. Sie warf sich der Länge nach zu Boden, begrub ihr Antlitz in der duftenden Kühle und preßte die purpurne Pracht an sich. Sie schämte sich nicht. Sie war zu den komplizierten Lebensbedingungen der großen Welt, zu ihrem Schmutz und zu ihrer verderblichen Hitze gewandert und war einfach, rein und gesund wiedergekehrt. Und sie freute sich dessen, wie sie jetzt dalag und zurückglitt zu den alten Tagen, als die Welt mit dem Horizont begonnen und geendet hatte und sie über den Paß gereist war, um den Abgrund zu schauen.

Fronas Kindheit war unter sehr harten Bedingungen verlaufen. Es hatte nur wenige, aber strenge Bindungen für sie gegeben, die sie später den »Brot- und Bettglauben« nannte. Das war, soviel ihr bekannt war, auch der Glaube ihres Vaters gewesen, von dem sie im übrigen wußte, daß sein Name unter den Männern einen guten Klang hatte. Es war der Glaube, mit dem starke, reine Männer jeder Gefahr trotzten oder in den Tod gingen, der Glaube Jacob Welses und Matt McCarthys, der Indianerjungen, mit denen sie gespielt hatte, der Indianermädchen, deren Feldherrin sie im Amazonenkrieg gewesen, der Wolfshunde sogar, die sich in den Strängen mühten und Schlitten über den Schnee zogen. Das war ein gesunder Glaube, greifbar und gut.

Ein Rotkehlchen zirpte aus dem Birkenwald, ein Rebhuhn schwirrte im Walde auf, ein Eichhörnchen schoß über ihrem Kopf mit sicherem Sprung von einem Baum zum anderen. Der Tag begann. Vom Fluß her, den sie nicht sah, tönten die Rufe der Glücksjäger, die sehr früh das Lager verlassen hatten und anfingen, sich ihren schweren Weg nach Norden zu erkämpfen.

Als Frona Gras und Blumen lange genug umarmt hatte, stand sie auf und schlug den alten Weg nach dem Lager des Dyea-Stammes ein. Sie begegnete einem Knaben, der bis auf die geflickten Hosen ein nackter Bronzegott war. Er suchte Holz und sah sie bös an. Sie sagte ihm in der Dyea-Sprache guten Morgen, aber er lachte frech, und als sie weiterging, streckte er ihr die Zunge heraus. So war es früher nicht gewesen. Als sie dann einem großen, finster blickenden Sitka-Indianer begegnete, grüßte sie nicht.

Am Rande des Waldes sah sie das Lager vor sich liegen, aber nicht das alte Lager mit seinen zwanzig oder dreißig Hütten, die unordentlich über das Gelände verstreut waren. An seiner Stelle befand sich da ein mächtiges Dorf. Es reichte bis zum Flußufer hinab, wo die langen Kanus, je zehn oder zwölf in einer Gruppe, lagen. Von weither waren die Stämme hier zusammen gekommen. Sie sah lauter fremde Indianer mit ihren Weibern und Hunden, ihrem Hab und Gut. Frona erkannte Männer aus Juneau und Wrangel, Styx mit brennenden Augen von jenseits des Passes, kriegerische Chilcoots und Eingeborene der Königin-Charlotte-Insel. Die meisten musterten sie finster, fast zornig; ein paar freche Halunken riefen ihr unanständige Worte zu.

Sie kränkte sich nicht, aber sie stellte mit Trauer fest, daß die Zeiten unter dem patriarchalischen Zepter ihres Vaters vorbei waren. Wie ein scheußlicher Brand war die Zivilisation über dieses Volk hinweggegangen. Durch eine offene Zelttür sah sie ausgezehrte Gestalten im Kreise auf dem Fußboden hocken. Vor dem Zelt lag ein Haufen zerbrochener Flaschen … Zu ihres Vaters Zeit hatten die Indianer kein Feuerwasser und keine Flaschen gekannt. Auf einer Decke, die als Spieltisch diente, verteilte ein weißer Mann mit gemeinen Zügen Spielkarten, Gold- und Silbermünzen kullerten auf der Decke umher. Ein paar Schritte davon schnurrte ein Glücksrad. Indianer, Männer und Frauen, setzten ihre mühsam verdienten Groschen, um prunkvolle Gewinne zu ergattern, die ihnen nichts nützen konnten. Aus Wigwams und Hütten kamen die brüchigen Töne billiger Spieldosen.

Vor der offenen Tür ihres Wigwams hockte eine alte Squaw im Sonnenschein und schälte Weidenzweige. Als Frona vorbeiging, hob sie den Kopf und stieß einen schrillen Schrei aus. Dann murmelte sie mit zahnlosem Mund:

»Hi – hi! Tenas Hi-hi!«

Es durchrieselte Frona bei diesem Wort. »Tenas Hi-hi!« Das war ihr Name gewesen … es bedeutete »das kleine Lachen« … damals, als sie hier unter den Indianern gelebt hatte. Sie drehte sich um und kauerte neben der Alten nieder.

»Sag rasch, Mutter, sag mir rasch deinen Namen!«

»So schnell hast du uns vergessen, Tenas Hi-hi? Und doch sind deine Augen jung und scharf. Nipuhsa hat müde alte Augen, aber ihr Herz vergißt nicht so rasch.«

»Du bist meine alte Nipuhsa!« rief Frona und streichelte die schmutzigen Runzelhände.

»Freilich bin ich Nipuhsa, die dich in den Armen gewiegt hat! Deinen Namen habe ich dir auch gegeben, kleines Lachen, und wenn die alte Nipuhsa nicht Kräuter für dich gesammelt hätte, für Medizintee, dann wärst du gar nicht hier, denn einmal hat der Tod dich haben wollen. Dein Schatten ist auf mich gefallen, kleines Lachen, da hab' ich gleich gewußt, daß du es bist. Du hast noch dasselbe Haar, wie brauner Tang, und denselben Mund und dieselben Augen. Nipuhsa war oft streng mit dir, wenn dein Mund Worte sprechen wollte, die Lüge waren. Aber du hast immer gewußt, daß Nipuhsa dich lieb hat. Ai, ai! Ganz anders sind die weißen Frauen, die jetzt ins Land kommen!«

»Hat eine weiße Frau keine Ehre mehr unter euch?« fragte Frona. »Eure Männer werfen böse Dinge in mein Ohr, und sogar die Knaben lachen ein häßliches Lachen, wenn sie mich sehen. So war es nicht, als ich hier ein Kind war.«

»Ai, ai! Es ist, wie du sagst, kleines Lachen. Aber du mußt kein zorniges Wort auf ihre Häupter werfen. Die weißen Frauen sind schuld daran, die jetzt zu uns kommen. Sie sehen alle Männer mit frechen Augen an; ihre Herzen sind unrein, und sie haben keinen Mann, auf den sie weisen können und sagen: ›Dies ist mein Herr.‹ Deshalb sind deine Frauen unter uns ohne Ehre.«

Jetzt wurde ein Zeltzipfel gehoben, ein alter Mann trat hervor, grunzte etwas und kauerte sich zu den beiden.

»So ist Tenas Hi-hi wiedergekommen in diesen schlimmen Tagen«, sagte er mit dünner, zitternder Stimme.

»Warum sind die Tage schlimm, Muskim?« fragte Frona. »Sind eure Bäuche nicht voll vom Mehl und Fleisch und von dem Proviant des weißen Mannes? Verdienen eure jungen Männer nicht Reichtümer mit Lastentragen und Paddeln? Und bringen sie dir nicht, wie in alter Zeit, ihr Opfer der, Fleisch, Fische und Decken? Haben eure Weiber nicht Tücher in hellen, gleißenden Farben? Warum sind die Tage schlimm?«

Der alte Medizinmann war erregt. In seine Augen trat ein Schimmer, der an die Glut seiner Mannesjahre gemahnte.

»Unsere Frauen tragen Tücher in hellen, gleißenden Farben! Aber sie schauen nur nach den Augen der weißen Männer, und die jungen Männer ihres eigenen Blutes sehen sie nicht. Deshalb vermehren unsere Stämme sich nicht; die kleinen Kinder hindern unsere Schritte nicht mehr. Die Bäuche sind voll vom Mehl und Fleisch und vom Proviant des weißen Mannes, aber sie sind noch voller vom Fusel des weißen Mannes. Wohl verdienen unsere jungen Männer Reichtümer mit Lastentragen und Paddeln. Aber sie sitzen nachts beim Kartenspiel und lassen die Dollars wieder dahin rollen, in die Tasche des weißen Mannes, aus der sie gekommen sind. Sie sprechen böse Worte zueinander, heben oft die Fäuste im Zorn, und ihr Blut ist böse geworden. Nur wenige bringen dem alten Medizinmann Opfergaben, Fleisch, Fische und Decken. Die jungen Frauen gehen nicht mehr die alten Wege, die jungen Männer ehren nicht mehr die alten Totems und die alten Götter. Deshalb sind es schlimme Tage, Tenas Hi-hi, und mit Kummer muß der alte Muskim ins Grab gehen.«

»Ai! Ai! So ist es!« klagte Nipuhsa.

»Dein Volk ist toll und hat mein Volk toll gemacht«, fuhr Muskim fort. »Es kam wie böser Wind über das salzige Wasser, dein Volk, und es geht – ach – wer weiß, wohin!«

»Ai, wer weiß, wohin?« jammerte Nipuhsa und schaukelte leise hin und her.

»Immer gehen sie Frost und Kälte entgegen. Und immer zahlreicher kommen sie, Woge um Woge!«

»Ai! Ai! Frost und Kälte entgegen! Es ist ein weiter Weg, dunkel und kalt!« Nipuhsa schauerte und legte ihre Hand auf Fronas Arm. »Und du gehst auch dorthin, Frost und Kälte entgegen?«

Frona nickte nur.

»Das kleine Lachen geht auch! Ai! Ai! Ai!«

Plötzlich stand der alte Matt vor Frona.

»Seit einer halben Stunde wartet das Frühstück auf dich, und Andy, die alte Hexe, jammert und tobt … Guten Morgen, Nipuhsa, guten Morgen, Muskim«, sagte er zu den Indianern. »Eure Augen haben mein altes Gesicht wohl vergessen?«

Die beiden grunzten einen Gruß, dann saßen sie schweigend und unbeweglich da.

»Jetzt aber schnell, Frona! Mein Dampfer geht um Mittag, und ich möchte noch ein bißchen von dir haben!«

Fünftes Kapitel

Fronas Ausrüstung war auf den Rücken von einem Dutzend Indianern unter der Aufsicht Bishops schon vor mehreren Stunden abgegangen. Sie selbst trug einen kleinen Reiseranzen und ihren Photoapparat, als Bergstock einen Weidenstab, den Nipuhsa ihr zurechtgeschnitzt hatte. Mit Del Bishop war sie sehr rasch handelseinig geworden. Als sie von dem Frühstück mit Matt McCarthy zurückgekehrt war, hatte der Ruderer sie im Laden erwartet.

»Sie wollen ins Land hinein. Das will ich auch. Sie brauchen einen Mann zur Begleitung. Wenn Sie noch keinen besseren gefunden haben, bin ich gerade der richtige. Ich war schon mal drin im Land, ich weiß Bescheid. Fürchten tu ich mich vor dem Teufel nicht, und wenn Ihnen einer was tun will, dann muß er erst mit Del Bishop fertig werden. Das ist nicht leicht. Wenn wir glücklich bei Jacob Welse angekommen sind, legen Sie ein gutes Wort für mich ein, und er gibt mir die Ausrüstung für ein Jahr. Einverstanden? Damit Schluß. Über den Proviant hinaus laß ich mir nichts bezahlen.«

Ehe Frona noch ihre Zustimmung gegeben hatte, war er schon bei der Arbeit und suchte die besten Packträger aus. Sie merkte sofort, daß er wirklich etwas von der Sache verstand. Frona marschierte mit ihrem Ranzel besser als die meisten Goldgräber, die sich schwer beladen hatten und alle hundert Schritte haltmachen mußten. Trotzdem fiel es ihr schwer, mit sechs jungen Schweden Schritt zu halten, in deren Spur sie ging. Das waren gewaltige Gesellen, blonde Riesen, und jeder trug seine hundert Pfund auf den Schultern. Außerdem schoben und zogen sie einen schweren Karren, der mit weiteren sechshundert Pfund beladen war. Ihre Gesichter waren lachende Sonnen, sie strahlten von Lebenslust. Das Marschieren, Schleppen und Schieben war ihnen Kinderspiel. Sie sangen laut und warfen den Vorbeikommenden in ihrer Sprache lustige Grüße zu. Wenn sie lachten, dröhnte jede Brust wie ein Cello.

Sie überholten alles; die Menschen traten beiseite, um sie vorüberzulassen, und sahen ihnen neidisch nach. Wenn es bergauf ging, setzten sie sich aus lustigem Trotz in Trab; bergab ließen sie die eisenbeschlagenen Räder ihres Wagens über das Gestein rasseln, daß Funken sprühten. Singend und lachend bahnten sie sich den Weg durch eine dunkle Waldstrecke, bis sie zu der Furt im Flusse kamen.

Am Ufer lag ein Ertrunkener und starrte unbeweglich in die Sonne. Ein Mann stand neben ihm und fragte aufgeregt:

»Wo ist sein Kamerad? Hat er keinen Kameraden gehabt?«

Zwei andere hatten ihre Lasten abgeworfen und nahmen Inventar vom Besitz des Toten auf. Der eine rief laut die verschiedenen Gegenstände aus, der andere notierte sie auf ein Stück schmutziges Packpapier. Über den Sand waren Briefe und aufgeweichte Schriftstücke zerstreut. Auf einem ausgebreiteten Taschentuch lag der Barbestand des Toten: ein paar Goldmünzen und viel Kupfer. Viele Männer, die in Kanus und Booten über den Fluß fuhren, nahmen gar keine Notiz von der Sache. Die Schweden aber wurden für einen Augenblick ernst.

»Wo ist sein Kamerad? Hat er keinen Kameraden gehabt?« fragte auch sie der aufgeregte Mann. Sie schüttelten die Köpfe. Sie verstanden kein Englisch. Dann wateten sie in das Wasser hinein.

Vom andern Ufer herüber rief jemand eine Warnung. Sie blieben stehen und berieten sich. Dann gingen sie weiter. Die beiden Männer, die das Verzeichnis vom Eigentum des Toten aufnahmen, unterbrachen ihre Arbeit und sahen den Schweden nach. Sie standen jetzt bis zum Gürtel in der reißenden Strömung, mit Riesenkräften an den Karren geklammert, der den Wellen eine gewaltige Fläche bot. Sie kämpften furchtbar, dann schien das schlimmste Stück überstanden. Als das Wasser den beiden vordersten Riesen nur noch bis zu den Knien reichte, riß dem dritten plötzlich ein Tragriemen durch. Seine Last warf sich mit einem Ruck auf die linke Schulter; er wollte sich dagegen stemmen und verlor das Gleichgewicht. Im selben Augenblick stolperte der zweite, griff hilfesuchend um sich, und einer zog den andern in die Flut. Die beiden folgenden Männer verloren den Halt, denn jetzt war die Karre umgestürzt und wurde über die Furt hinaus ins tiefe Wasser gerissen.

Ein paarmal tauchten die Männer wieder auf und warfen sich rückwärts in die Tragriemen. Aber sie wurden ihre Lasten nicht los, sie kämpften wie Helden, aber es stieg über menschliche Kräfte. Zoll um Zoll sanken sie wieder unter. Ihre Rucksäcke, die sich voll Wasser gesogen hatten, hingen wie steinerner Ballast an ihnen. Nur der eine Mann, dessen Tragriemen gerissen war, wurde seiner Last ledig, aber er versuchte nicht, das Ufer zu gewinnen, sondern blieb bei seinen Kameraden. Fünfzig Meter stromabwärts zerstäubte die Flut an einem zackigen Felsriff; hier kamen sie noch einmal zum Vorschein. Zuerst der halb zerschmetterte Karren, dann die Männer in einem gräßlichen Gewirr von Köpfen, Armen und Beinen. Das Wasser schmetterte sie gegen die Klippen und spülte sie über das Riff.

Ein Dutzend Kanus war den unglücklichen Schweden nachgefahren; auch Frona war unter denen, die retten wollten. Sie sah einen der jungen Riesen mit blutüberströmten Händen nach dem Felsen greifen, sah sein weißes Gesicht und seinen verzweifelten Kampf. Der einzige seiner Kameraden, der noch schwimmen konnte, stürzte sich mit mächtigen Bewegungen auf ihn zu. Seine Hand hatte ihn fast schon erreicht – da schleuderte auch diesen Mann eine Sturzwelle ins Gebrodel.

Den einen schwimmenden Mann nahm ein Kanu auf; alle andern erdrosselte die Flut. Eine Viertelstunde lang fuhren die Boote fruchtlos auf und ab, dann fanden sie die Toten im Schlamm stecken. Man nahm ein paar Pferde von einem Transportzug am Ufer, umschlang die Leichen mit einer Leine, und so wurde die schreckliche Last an Land gezogen. Frona sah die fünf jungen Riesen mit gebrochenen Gliedern schlaff und regungslos im Schlamm liegen. Sie waren immer noch vor die Karre gespannt; die armseligen triefenden Lasten hingen noch an ihren Rücken. Der sechste saß mit trockenen Augen betäubt in der Mitte.

Ein paar Schritte entfernt von ihnen floß der Strom des Lebens wie immer. Frona schloß sich ihm an und zog weiter.

Sechstes Kapitel

Die dunklen, mit Rottannen bestandenen Berge stießen am Dyea-Paß zusammen. Die Füße der Menschen zerstampften die feuchte Erde, auf die nie ein Sonnenstrahl fiel, zu Schlamm und Morast. Viele Fußwege zogen durch die feuchte Wüste. Auf einem dieser Wege traf Frona einen Mann, der sich nachlässig in den Schmutz geworfen hatte. Er lag auf der Seite mit gespreizten Beinen, von einer schweren Last zu Boden gedrückt. Seine Wange ruhte in dem weichen Schlamm wie auf einem Kissen. Er sah müde und zufrieden aus. Als er Frona sah, wurde sein Gesicht noch heller; er grüßte sie mit den Augen.

»Höchste Zeit, daß Sie kamen«, begrüßte er sie. »Ich warte schon eine Stunde auf Sie.«

Frona beugte sich über ihn.

»Machen Sie mir nur den Riemen los, liebes Fräulein«, bat er, »ein verdammtes Ding! Die ganze Zeit habe ich ihn nicht zu fassen gekriegt.«

»Sind Sie verletzt?« fragte sie.

Er schlüpfte aus dem Riemen heraus und befühlte seinen verdrehten Arm.

»Nein, gesund wie ein Fisch! Auch der Arm, Gott sei Dank.«

Er streckte die schmutzige Hand nach einer niedrigen Tanne aus und wischte sie an den Zweigen ab.

»Also stellen Sie sich vor, ich stolpere über diese kleine Dreckwurzel da, und – bums! – liege ich wie eine Schildkröte mitten im Dreck und kann den Riemen nicht zu fassen kriegen. Eine ganze Stunde liege ich schon so da; die andern ziehen da unten vorbei, und keiner sieht mich. Immerhin, ich hab' mich ausgeruht.«

»Warum haben Sie niemand gerufen?«

»Daß einer zu mir heraufklettern soll? Die armen Teufel haben mit sich selbst genug zu tun! Wenn ich mir vorstelle, mich läßt einer da heraufkrabbeln, nur weil er ausgerutscht ist … Aus dem Dreck herausziehen würd' ich ihn schon, aber dann ihm das Fell vertobaken und ihn zuletzt wieder hineinschmeißen. Außerdem konnte ich mir ja denken, daß schließlich auch mal hier jemand vorbeikommt.«

»Sie passen hierher! Sie sind der richtige Mann für dies Land.«

»Bin ich auch!« sagte er, wuchtete seinen Packen auf die Schulter und trabte los. »Auf jeden Fall hab' ich mich ordentlich ausgeruht.«

Der Weg ging jetzt steil abwärts durch einen Morast zum Flußufer. Eine schlanke Kiefer lag als Brücke über dem tosenden Schaum. In der Mitte bog sich der Stamm so tief, daß er das Wasser berührte. Wellen schlugen dagegen und setzten ihn in zitternde Bewegung. Die Stiefel der Packträger hatten seine vom Wasser überspülte Oberfläche glattgeschliffen. Über zwanzig Meter maß diese schwankende, gefährliche Brücke. Frona betrat sie, fühlte, wie das Vibrieren unter ihrem Gewicht heftiger wurde, hörte das Rauschen des Wassers, sah das wilde Tosen – und schauderte zurück.

Sie hockte sich am Weg nieder und tat, als wäre sie mit ihrem Schuhwerk beschäftigt, denn Indianer traten aus dem Wald hervor. Vier kräftige Männer schritten voran, ihnen folgte eine Schar von schwer belasteten Frauen mit Kindern, und den Schluß machte ein Dutzend Hunde, denen die Zunge zum Halse heraushing. Auch die Hunde und sogar die kleinsten Kinder waren bepackt.

Im Vorbeigehen machte einer der Männer eine Bemerkung über Frona. Sie verstand die Worte nicht, aber das helle Kichern, das durch den ganzen Zug lief, trieb ihr die Schamröte in die Wangen.

Der Führer trat beiseite; dann beschritt einer nach dem andern den gefährlichen Pfad. Keiner durfte antreten, ehe der letzte jenseits das Ufer erreicht hatte. In der Mitte, wo der Stamm sich bog, wurde er vom Gewicht des Menschen tief unter die Wasserfläche gedrückt. Es war schwer, den Halt zu wahren, wenn der kalte, reißende Strom die Knöchel überspülte. Aber selbst die Kleinen gingen ohne Zögern hinüber, nur die Hunde winselten und mußten getrieben werden. Als der Führer schon den Stamm betreten hatte, drehte er sich zu Frona um:

»Dort oben ist der Weg für Pferde«, sagte er und wies auf die Bergwand. »Du gehst besser den Weg für Pferde! Das hier ist nichts für dich.«

Frona schüttelte den Kopf und wartete, bis er am anderen Ufer stand. Dann setzte sie den Fuß auf den Baumstamm und schritt in den wirbelnden Schaum hinein, während die Augen des fremden Volkes auf ihr ruhten. Ihr Herz krümmte sich vor Angst, aber so viel war sie ihrem Stolz und ihrer Rasse schuldig.

Siebentes Kapitel

Sie traf einen Mann, der weinend am Wegrand saß. Er hatte einen Schuh ausgezogen; sein Fuß war geschwollen und wundgelaufen. Rings um ihn lag sein schlecht verschnürtes Gepäck zerstreut.

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte sie.

»Mir kann keiner mehr helfen. Der Rücken ist beinahe gebrochen, die Füße sind kaputt.« Er heulte laut: »Meine Kameraden haben mich im Stich gelassen und sind weitergezogen. Aber ich komm' keinen Schritt mehr von der Stelle. Ach, meine Frau, meine Kinder! Ich hab' sie in den Staaten gelassen … nie werde ich sie wiedersehen. Ich muß sterben, was soll ich sonst nur tun? Was soll ich nur tun?«

»Warum haben Ihre Kameraden Sie verlassen?«

»Weil ich nicht so stark bin wie sie. Weil ich nicht so schleppen kann wie sie. Ausgelacht haben sie mich und sind weitergegangen.«

»Aber Sie sind stark und jung, Sie wiegen mindestens Ihre hundertfünfzig Pfund und haben kein Fett am Leib.«

»Hundertfünfundfünfzig.«

»Hat Ihnen je was gefehlt?«

»Nein.«

»Und Ihre Kameraden? – Sind das alte Goldgräber?«

»So wenig wie ich. Wir haben im selben Geschäft gearbeitet. Wir kennen uns seit Jahren! Und da gehen sie hin und lassen mich einfach im Dreck liegen, damit ich krepiere.«

»Mein lieber Mann«, sagte Frona streng, »Sie könnten genau dasselbe leisten, aber Sie sind weichlich, Sie haben Mitleid mit sich selbst. Sie können nicht mit, weil Sie nicht wollen. Das ist kein Land für Sie. Hier braucht man andere Männer! Die Knochen haben nichts zu sagen, auf das Herz kommt's an, und das haben Sie nicht. Verkaufen Sie Ihren Kram, und fahren Sie nach Hause zu Ihren Kindern. Hier können wir Sie nicht brauchen, hier gehen Sie ein, und was hat Ihre Familie dann? Machen Sie, daß Sie in drei Wochen wieder zu Hause sind, und schlagen Sie sich die Goldgräberei aus dem Kopf! Leben Sie wohl.«

Die Mittagssonne brannte auf das Felsgewirr nieder, das die »Steinerne Waage« heißt. Zu beiden Seiten erhoben sich vom Eis gefurchte Erdriffe nackt und in ihrer Nacktheit stark. An der Wand des sturmumbrausten Chilcoot-Felsens kroch eine Reihe von Männern empor, eine dünne, endlose Kette. Vom Rande des verkrüppelten Waldes unten zog sie sich wie ein schwarzer Strich über die blendende Eisfläche, bewegte sich im Schneckentempo die steile Böschung hinan, wurde immer schwächer und dünner, bis sie wie eine Kolonne von Ameisen jenseits des Passes verschwand.

Während Frona am Wege kauerte und ihr Frühstück verzehrte, hüllte sich der Chilcoot in wallende Nebel und wirbelnde Wolken. Dann brach ein Unwetter, von Hagel krachend, auf die mühselig vordrängenden Zwerge ein. Das Tageslicht erlosch, aber Frona wußte: immer weiter, immer weiter zog sich dort oben die lange Reihe von Ameisen hin, an den Berg geklammert, unermüdlich, immer tiefer in die Wolken hinein. Der ewige Wille zum Sieg dieser Menschen durchbebte sie. Jetzt trat auch sie in die Reihe ein, die aus dem Sturm hinter ihr auftauchte und im Sturm vor ihr verschwand.

Auf der Höhe des Passes wurde sie gepackt: ein Wirbelwind aus dampfendem Nebel drückte sie zu Boden. Auf Fäusten und Knien kroch sie die mächtige Vulkanrinne des Chilcoot-Tals vorwärts, stundenlang. Dann endlich erreichte sie die öden Ufer eines Kratersees. Die Flut war aufgewühlt und mit weißem Schaum bedeckt. Hundert kleine Haufen von Gepäck warteten am Ufer darauf, übergesetzt zu werden, aber es ging kein Boot über den See.

Ein elendes Skelett aus Holzrippen mit einem Segeltuchüberzug lag auf dem Felsen. Daneben hockte ein junger Bursche mit schwarzen Augen und hellem Gesicht. Ja, er sei der Fährmann, sagte er, aber für heute hätte er die Arbeit niedergelegt. Fünfundzwanzig Dollar nahm er sonst für die Überfahrt, aber heute fuhr er nicht mehr.

»Bei diesem Sauwetter, was denken Sie denn?«

»Aber mich setzen Sie doch noch über?«

»Dort drüben ist es noch schlimmer, als man von hier aus glaubt. Nicht einmal die großen Holzboote kommen durch; das letzte hat der Sturm an die Westküste geworfen. Eine ganze Ladung von Trägern ist an Bord, von hier aus hat man alles sehen können. Von da, wo sie jetzt liegen, kommen sie nicht weiter. Da müssen sie lagern, bis der Sturm vorbei ist. Das machen wir nicht, Fräulein.«

»Aber mein Lagergerät ist schon in Happy Camp, hier kann ich doch nicht bleiben«, sagte Frona mit verführerischem Lächeln. »Seien Sie ein Mann und bringen Sie mich hinüber.«

»Nein.«

»Ich gebe Ihnen fünfzig.«

»Nein, sage ich.«

»Ich bin ein Mädel, aber ich habe keine Angst!«

Der Bursche fuhr auf und kehrte sich gegen sie mit zornfunkelnden Augen. Die Worte, die ihm auf der Zunge lagen, behielt er für sich, aber Frona konnte sie von seinem Munde lesen. Gegen den Sturm gebeugt, standen sie nebeneinander wie Seeleute auf schwankendem Deck und sahen einander trotzig in die Augen. Ihm klebte das Haar in nassen Locken um die Stirn; das ihre peitschte in triefenden Strähnen um ihr Gesicht.

»Also los!«

Der Bursche schob mit einem wütenden Ruck sein Boot ins Wasser und warf die Riemen hinein.

»Steigen Sie ein! Aber nicht für fünfzig Dollar. Sie bezahlen denselben Preis wie alle andern.«

Ein Windstoß packte die Nußschale. Die Breitseite voraus, flog sie sechs Meter weit über das Wasser. Frona nahm die Schöpfkelle zur Hand, schwere Spritzer klatschten den beiden in die Gesichter, stachen und brannten in ihre Haut.

»Hoffentlich treiben wir nicht an Land«, keuchte er und beugte sich über die ächzenden Riemen. »Wäre kein Vergnügen für Sie.«

Dabei sah er sie wütend an.

»Wir werden schon nicht«, sagte Frona und lächelte.

Sie traten auf schlüpfrige Felsen, als das Boot sein Ziel erreicht hatte. Zu beiden Seiten erhoben sich triefende Steinwände, der Regen brauste immer noch nieder wie aus unerschöpflichen Mulden.

Frona wollte helfen, das Boot zu bergen.

»Machen Sie lieber, daß Sie vorwärts kommen«, brummte der Fährmann. »Von hier bis Happy Camp sind es noch zwei Meilen, aber ein Weg für Ziegen oder Affen. Kein Wald mehr. Sie werden noch Ihr Wunder erleben. Also vorwärts! Auf Wiedersehen!«

Frona drückte ihm die Hand und sagte: »Sie sind ein tapferer Kerl!« Dann marschierte sie drauflos. Und der tapfere Kerl sah ihr bewundernd nach.

190,56 ₽
Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
08 июля 2024
Объем:
200 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9788026884385
Переводчик:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
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