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HANNAH

Hannah nahm Indys Hand, als sie durch den Garten vor dem Haus gingen. Sie schaute zu dem Fenster im ersten Stock zurück, von dem sie wusste, dass dort Gran stand. Sie lächelte und winkte und drehte sich wieder um. Es fühlte sich komisch an, sie allein zu lassen, aber Mum flitzte nur kurz rüber zu ihrer Wohnung in Portobello, um ein paar Sachen abzuholen, und kam anschließend sofort zurück. Es war gut, dass die zwei Zeit zusammen verbrachten, sie brauchten sich jetzt. Jeder braucht irgendwen. Sie beugte sich hinüber und gab Indy einen Kuss auf die Wange.

»Wofür ist der denn?«

»Darf ich vielleicht nicht einfach mal so das hübsche Gesicht meiner Freundin küssen?«

Indy schob sich zwei Finger in den Hals und tat, als müsse sie sich übergeben.

»Ach, verpiss dich«, meinte Hannah lachend.

Sie gingen an den Torpfosten am Ende der Einfahrt vorbei, und Hannah lächelte über die in den Mörtel eingeritzte Adresse: 0 Greenhill Gardens. Nummer null, nur eines der Dinge, die diesen Ort zu etwas Besonderem machten. Sie fragte Dorothy und Jenny danach, als sie noch jünger war, aber Gran schüttelte nur den Kopf, als wär’s ein kosmischer Witz, und Jenny zuckte mit den Achseln, als wäre ihr noch nie in den Sinn gekommen, dass es merkwürdig war. Hannah hatte ein wenig nachgeforscht, und wie sich herausstellte, war ihr Haus Ende des 19. Jahrhunderts von einem exzentrischen Brauereibesitzer später zu der Straße hinzugefügt worden. Damals konnte man sich noch selbst eine Adresse geben, doch statt sich einen neuen Straßennamen einfallen zu lassen, entschied sich Mr Bartholomew für die Nummer null an der bereits vorhandenen Straße, direkt neben der dort stehenden Nummer eins. Die Briefträger hatte es seitdem immer wieder verwirrt.

Aber etwas daran war für Hannahs Verstand ausgesprochen reizvoll. Null war mathematisch schwer zu definieren, und sich danach zu erkundigen, führte schnell auf philosophisches Terrain, das sie liebte. Sie studierte Metaphysik in einem Wahlkurs, und manchmal besuchte sie Vorlesungen über Kategorientheorie, die Mathematik der Mathematik, um sich das Hirn brutzeln zu lassen. Sie stand auf diesen abstrakten Raum, die Art, wie Matrizen, Theorien und Gleichungen miteinander verflochten waren und ein Universum entwarfen, das man über die reale Welt legen konnte.

»Worüber lächelst du?«, fragte Indy.

Sie waren um die Ecke und im Park. Das Netz der Fußwege war voller Studenten und Angestellten auf dem Heimweh nach Vorlesungen und dem Büro. Hannah liebte es, dass hier alle Seite an Seite lebten und sie sich dazugehörig fühlte.

»Ich bin einfach nur glücklich zu leben«, sagte sie.

»Oh, mein Gott.«

»Welcher?«

Ein Running Gag, da Indy ehemalige Hindu war.

In Wahrheit war Hannah wirklich glücklich zu leben, auch wenn sie vorhin erst zugesehen hatte, wie ihr Grandpa eingeäschert wurde. Vielleicht auch gerade deshalb. Dorothy hatte ihr einmal erzählt, dass manche Leute bei Beerdigungen geil wurden, wild entschlossen, im Angesicht des Todes das Leben fortzusetzen. Hannah konnte das nachempfinden.

Sie überquerten die Whitehouse Loan in den nördlichen Teil der Bruntsfield Links mit den Trainingsgrüns zum Pitchen und Putten. Das sanft hügelige Gelände erinnerte Hannah immer an das uralte Gräberfeld unter der Oberfläche. Sie fragte sich, wie vielen der Kids und ihrer Eltern, die Golfbälle durch die Gegend schlugen, bewusst war, dass unter ihnen Hunderte Opfer der Pest im 17. Jahrhundert lagen. Eine weitere Schicht der Existenz unterhalb der Realität.

Sie kürzten am oberen Ende der Links nach Marchmont ab und bogen dort auf den Melville Drive ein. Die Sonne stand so früh im Herbst immer noch hoch am Himmel, und das durch die Kastanien einfallende Licht flackerte über ihre Augen. Sie betrachtete Indys Gesicht, das von Licht und Schatten ganz fleckig war. In der vierten Klasse auf der Schule ging Hannah kurz mit einem epileptischen Jungen, der die Straße überqueren musste, wenn die Sonne durch einen Zaun flackerte. Sie wunderte sich über diesen Kontrollverlust, Reaktionen im Gehirn machen einen zu dem, der man ist. Depression, Angst, Liebe, Hass, Wut. Sie dachte über feuernde Neuronen nach, Teilchen, die ihren Zustand änderten, Quarks, die ihre Verteilung änderten.

Der Duft von Holzkohle und Burgern von Barbecues auf der anderen Straßenseite zog ihr in die Nase. Die Meadows waren voller Studenten, die die letzten warmen Tage ausnutzten, bevor das Land für den Winter herunterfuhr. Frisbees, Fußball, in der Ferne spielten ein paar Mädchen Quidditch. Harry Potter war vor ihrer Zeit, sie bevorzugte The Hunger Games, schon allein wegen der stärkeren Frauen. Aber die Hunger Games konnte man nicht wirklich im Park spielen.

Sie erreichten die Wohnung und gingen in den obersten Stock. Indy öffnete die Tür, und sie stürzten hinein. Hannah war besorgt, dass sie sich wegen Grandpa niedergeschlagen fühlen sollte, aber sie fühlte sich voller Möglichkeiten. Jim würde nicht gewollt haben, dass sie Trübsal blies, obwohl sie ihn durchaus vermisste. Und vielleicht hatte Dorothy ja auch recht, vielleicht macht der Tod einen geil.

Sie packte Indys Taille und wirbelte sie herum, küsste sie, starrte in diese braunen Augen. »Ich liebe dich, Babe.«

Indy sah sie schräg von der Seite an. »Was ist denn in dich gefahren?«

Hannah küsste sie wieder, lange und heftig, drückte sie gegen die Wand.

Indy zog sich zurück. »Nur einen Moment.« Sie rief: »Mel?«

Sie warteten auf eine Antwort.

»Sie muss noch in den King’s Buildings sein«, sagte Hannah. Obwohl sie wusste, dass die Vorlesungen für den Tag zu Ende waren, auch ging Mel normalerweise anschließend nicht in den Pub wie einige ihrer Kommilitonen. Hannah hatte an diesem Nachmittag die Vorlesungen zur Speziellen Relativitätstheorie und zur Quantenfeldtheorie geschwänzt, und Mel hatte versprochen, es sie wissen zu lassen, sollte sie etwas verpasst haben.

Hannah küsste Indy wieder, und diesmal reagierte Indy. Dann klingelte ein Telefon. Es kam aus Mels Zimmer.

»Lass es«, sagte Indy, eine Hand auf Hannahs Rücken.

Hannah runzelte die Stirn. Die Vorlesungen waren vorbei. Mel war superzuverlässig und organisiert, und sie ging niemals ohne ihr Telefon irgendwohin.

Hannah löste sich von Indy und ging zu Mels Tür, klopfte zweimal an. Wartete. Das Telefon klingelte weiter. Sie drückte die Tür auf. Alles wirkte völlig normal, das Einzelbett war gemacht, auf dem Schreibtisch Stapel von Notiz- und Lehrbüchern, Mels Fotomontage an der Wand, Bilder von ihr mit Freunden und Familie.

Das Telefon lag auf ihrem Schreibtisch, klingelte immer noch.

»Mum« leuchtete auf dem Display.

Hannah spürte Indy in der Tür hinter sich, als sie das seltsamerweise nicht gesperrte Handy aufhob und den Anruf annahm.

»Hi, Mrs C, Hannah hier.«

»Ich hab’s dir doch schon mal gesagt, du sollst mich Yu nennen. Was hast du mit meiner Tochter gemacht?« Sie sprach mit deutlichem kantonesischem Akzent und klang quirlig, aber da war auch ein scharfer Unterton.

»Keine Ahnung, Indy und ich waren den ganzen Tag unterwegs und sind gerade erst reingekommen. Ich habe ihr Telefon in ihrem Zimmer gefunden.«

»Ich werde sie umbringen«, sagte Yu in einem Ton, der bedeutete, sie würde das Gegenteil tun. »Sie sollte sich mit ihrem Vater und mir zum Mittagessen treffen. Ich habe heute Geburtstag.«

»Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke, Liebes, aber ich hätte ihn gern mit meiner Tochter verbracht.«

Melanie versäumte ihre Verabredungen nie, und niemals würde sie den Geburtstag ihrer Mutter verpassen.

»Tut mir leid«, sagte Hannah und versuchte, ihre Stimme unbeschwert zu halten. »Wenn ich Mel sehe, werde ich ihr sagen, dass sie in Schwierigkeiten steckt.«

»Du hast keine Idee, wo sie sein könnte?«

Hannah warf einen Blick aus Mels Fenster. Ihr Zimmer lag zum Argyle Place, man konnte aber trotzdem ein Stück der Meadows sehen, ein Scheibchen der Salisbury Crags in der Ferne. »Wir hatten heute Nachmittag Vorlesungen. Ich war nicht da, weil ich zur Beerdigung meines Großvaters musste.«

»Oh, Baby, das tut mir leid.«

»Schon okay. Aber ich weiß, dass Mel zu den Vorlesungen wollte. Wahrscheinlich ist sie von irgendwas an der Uni festgehalten worden.«

Das war überhaupt keine Entschuldigung. Die Vorlesungen waren nachmittags, hatten nichts mit Mittagessen zu tun, aber Hannah wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.

»Okay, Liebes«, sagte Yu. Ein Zögern am anderen Ende der Leitung. »Du sorgst bitte dafür, dass sie mich anruft, sobald sie nach Hause kommt, verstanden?«

»Mach ich«, sagte Hannah. »Bye.«

Sie legte auf und drehte sich zu Indy um, hob dabei die Augenbrauen.

Indy kam ins Zimmer. »Hab’s gehört.«

Sie ging zu Hannah, die auf das Display von Mels Handy starrte, ein Foto von ihr und Xander, beide aufgedresst für ein Essen am Valentinstag. Hannah erinnerte sich noch, wie sie Mel bei der Entscheidung geholfen hatte, was sie an diesem Abend anziehen sollte.

»Irgendwas stimmt da nicht«, sagte Hannah.

4
DOROTHY

Dorothy stand im Einbalsamierungsraum und starrte auf das, was von Jim übrig war. Ein Scheiterhaufen im Freien erreicht nicht die Temperatur eines Ofens für Feuerbestattungen, bleibt ein paar hundert Grad darunter, deshalb waren die Überreste gröber, als sie normalerweise aus Krematorien zurückkommen. Außerdem sieben Krematorien die verbleibenden Knochenfragmente heraus und pulverisieren sie in einer Knochenmühle, damit die Hinterbliebenen am Ende einen netten kleinen Haufen grauen Sand zum Verstreuen erhalten.

Demgegenüber waren die Knochenfragmente und der Staub vor ihr real. Und es war Staub, nicht Asche, das war eine Fehlbezeichnung. Sie war dankbar, dass das Feuer keine größeren Knochen zurückgelassen hatte, um die sie sich hätte kümmern müssen, in dem Staub lag nichts, was länger als ein paar Zentimeter war. Sie stellte sich vor, einen unversehrten Schädel aus dem Häufchen zu heben, ihn wie Hamlet anzusprechen. Oder einen von Jims Oberschenkelknochen, den sie wie ein Höhlenmensch herumschwenkte.

Sie schaute vom Tisch auf. Es war eigentlich viel zu hell, aber andererseits war es ja auch ein Arbeitsplatz, und Archie benötigte jede Menge Licht. Abgesehen von Jim auf dem Tisch war hier alles makellos sauber, darauf achtete Archie stets. Die sechs Kühlkammern für Leichen an einer Wand summten, die auf magnetische Karten geschriebenen Namen und Details der Toten darin steckten vorne an jeder Kammer. Arthur Ford, ein Meter achtzig, Leichenschau angeordnet, Einbalsamierung erforderlich, kein Schmuck, übernommen aus dem Western General. Das entsprach dem Whiteboard oben, und einen Moment lang sah Dorothy das Geschäft als einen einzigen riesigen Organismus.

Sie drehte sich wieder zu Jims Überresten. Nahm einen zehn Zentimeter langen, weißen Knochensplitter in die Hand. Er war leicht wie Balsaholz, aber fest, nachdem sämtliche organischen Bestandteile und die Feuchtigkeit verdampft waren. Sie hob ihn ans Licht, drehte den Splitter in ihren Fingern. Er besaß eine gerade Kante und eine sanft gekrümmte, war an einem Ende breiter als an dem anderen, besaß eine abgerundete Vertiefung am breiten Ende, als wäre es vielleicht die Pfanne eines Kugelgelenks gewesen. Das schmale Ende war spitz, und sie drückte den Daumen dagegen, spürte den Schmerz. Sie verstärkte den Druck, bis die Haut aufbrach, sah zu, wie ein Tropfen ihres Blutes sich auf der Knochenspitze ausbreitete, ihn verdunkelte. Sie saugte an ihrem Daumen und schob den Knochen in die Tasche ihrer Strickjacke.

Sie dachte an all die Atome von Jims Körper, die jetzt in der Luft über Edinburgh schwebten und in die oberen Schichten der Atmosphäre aufstiegen. Sie dachte an andere Atome seines Scheiterhaufens, die auf die Erde ihres Gartens fielen, der Gärten ihrer Nachbarn. Sie dachte an die Atome im Gebüsch, das Archie immer stutzte, an die Atome, die in ihren Haaren, auf ihrer Kleidung, ihren Schuhen, in ihrer Nase, den Ohren und im Hals hängen blieben. Sie leckte an ihrem kleinen Finger und steckte ihn in den Staub im Aschekasten, leckte ihn dann wieder ab.

Er schmeckte nach Lagerfeuer und Erde. Alles, was von fünfzig gemeinsamen Jahren übrig war. Sie atmete tief ein und sah auf den Einbalsamierungstisch daneben, auf die Flaschen mit Chemikalien und die Pumpen, aufgereiht auf dem hinteren Arbeitsplatz, die Messer, Scheren, Cremes und Sprays, die faltbare Trage, auf der die Leichen hereingebracht wurden. Das Abholen von Leichen war ein Job für zwei, den Jim und Archie jahrelang gemeinsam erledigt hatten. Jetzt würde ein anderer den Platz einnehmen müssen, vielleicht sie. Sie hatte sich zusammen mit Jim jahrelang um die Organisation von Beerdigungen gekümmert, aber mit der körperlichen Seite des Geschäfts hatte sie nie zu tun. Sie war gut in Logistik, konnte mit Menschen umgehen, hatte ihr ganzes Leben immer wieder nebenbei in der Firma mitgearbeitet, während sie gleichzeitig Jenny großzog. Indy könnte das übernehmen, zumal sie ja ohnehin die Ausbildung zur Bestattungsunternehmerin machte, sie war zwar klein, aber auch stark und zäh auf eine Art wie keine der Skelfs. Dorothy sah es in dem Moment in ihr, als sie sich begegneten, genau wie bei Archie. Alle gehörten zu ihrer erweiterten Ersatz-Familie. Eine Familie, die nun ihr Herz verloren hatte.

Sie verließ den Raum, schaltete das Licht aus, ließ ihren Mann im Dunkeln zurück, seinen Aschegeschmack immer noch auf ihrer Zunge, seinen spitzen Knochen mit ihrem Blut darauf in ihrer Tasche vergraben.


Stirnrunzelnd saß sie am Schreibtisch in dem kleinen Büro und hatte vor sich Papiere ausgebreitet. Sie trank einen Schluck Whisky und saugte nachdenklich an ihren Zähnen. Sie hatte die ganze Woche zu viel getrunken, seit sie Jim auf dem Boden des Badezimmers gefunden hatte, die Augen geöffnet, die Schlafanzughose um die Knöchel.

Sie nahm den Kontoauszug erneut in die Hand, rückte die Brille zurecht und verglich ihn mit einem anderen Blatt. Sie brauchte hier drinnen entweder mehr Licht oder eine bessere Brille. Sie dachte an Jims Augäpfel, die ins Nichts verdunstet waren. Sie sah auf ein geöffnetes Kontenbuch und kniff die Augen zusammen, als sie ihren Finger die Seite hinuntergleiten ließ. Etwas stimmte hier nicht.

Jim kümmerte sich immer um die geschäftliche Seite von allem, Dorothy hatte überhaupt kein Händchen für Zahlen. Hannah hatte ihre Liebe für die Mathematik von ihm. Vielleicht verstand Dorothy es falsch, aber es schien Geld zu fehlen. Es war kein großer Geldbetrag abhandengekommen, vielmehr ging von ihrem Geschäftskonto ein fester Betrag über Monate ab. Nein, über Jahre. An eine Kontonummer mit einer Bankleitzahl, die ihr nichts sagte, ohne Nennung eines Namens. Sie kramte in den Unterlagen, sah wieder hin, trank einen weiteren Schluck Highland Park. Der Whisky half auch nicht weiter.

Sie seufzte. Vielleicht übersah sie etwas ganz Einfaches, etwas, das die fünfhundert Pfund erklärte, die seit Jahren jeden Monat von ihrem Konto abgebucht wurden. Sie müsste davon wissen, Jim hätte es ihr gesagt. Da er ihr nichts davon gesagt hatte, bedeutete es, dass es ein Geheimnis war, und damit kam sie nicht klar. Sie musste mit jemandem sprechen, aber die Person, mit der sie immer sprach, wenn etwas nicht in Ordnung war, war Jim.

Sie suchte in den Papieren auf dem Tisch und fand ihr altes Nokia, ging die Handvoll gespeicherter Kontakte durch und hörte bei Thomas auf. Sie betrachtete einige Sekunden seinen Namen, dann rief sie ihn an, schob ihre Brille auf den Kopf hoch. Sie trank Whisky und lehnte sich auf dem Stuhl zurück, presste zwei Finger auf ihren Nasenrücken und lauschte auf das Klingeln am anderen Ende der Leitung.

»Hallo?«

»Hi, Thomas, ich bin’s, Dorothy.«

»Ist ein bisschen spät.« Er klang verschlafen. »Mit dir alles okay?«

Sie warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Ein Uhr nachts. »Hab ich dich geweckt?«

»Worum geht’s?«

Sie waren seit fünf Jahren befreundet, seit er in ihren Yogakurs gekommen war. Er hatte die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen, jeder Mann in einem Yogakurs erhält Aufmerksamkeit, besonders ein großer Schwarzer mit einem Akzent, der zwischen Schottland und Schweden pendelte. Als die Frauen erfuhren, dass er Polizist war, war das einfach zu viel. Dorothy mochte ihn auf Anhieb, er war sanfter als die schottischen Männer, die sie kannte, obwohl er Cop war. Zwei Monate nach diesem ersten Kurs begegnete sie ihm zufällig auf der Chambers Street, und sie gingen einen Kaffee trinken. Es fühlte sich gut an, mit einem Mann zu reden, der nicht ihr Ehemann war. Weiter nichts.

Dann starb vor zwei Jahren plötzlich Thomas’ Frau Morag. Herzinfarkt beim Fahrradfahren im Southside-Verkehr, sie erwischte den Bordstein und krachte gegen einen parkenden Lieferwagen. Die Skelfs übernahmen die Beerdigung. Es musste bei ihr nicht viel wiederhergestellt werden, es wäre schlimmer gewesen, wenn sie mit einem entgegenkommenden Fahrzeug kollidiert wäre. Thomas und Morag hatten keine Kinder, und seine ganze Familie war in Schweden, also sprang Dorothy ein, und sie freundeten sich an. Jim wusste, dass sie sich zum Kaffee trafen, und vielleicht empfand er es als komisch, aber er sagte nie etwas.

Thomas’ Trauer klang mit der Zeit ab, etwas, das Dorothy schon Hunderte Male zuvor gesehen hatte. Sie dachte über ihre eigene Trauer nach. Es war bei jedem Menschen anders, das wusste sie nur zu gut. Nach dem anfänglichen Schock, als sie Jim aufgefunden hatte, hatte sie sich tagelang ihrem Schmerz hingegeben. Alles Nötige für den Scheiterhaufen zu organisieren, hatte ihr einen Fokus gegeben, aber gleichzeitig hatte es sie betäubt. Auch das hatte sie so oft bei Kunden beobachtet. Sie fragte sich, wann die Wellen aufschlagen würden, wie schlimm es kommen würde, wie tief sie versinken würde. Aber sie würde es überleben, jeder überlebte es, und mit der Zeit würde der Schmerz nachlassen. Das war fast genauso unerträglich, das Wissen, dass die Trauer wie auch ihre Erinnerungen an Jim mit der Zeit verblassen würden.

»Jim ist tot«, sagte sie.

»Ach, Dorothy.«

Sie massierte ihre Stirn. »Herzinfarkt.«

Das Wort hing zwischen ihnen, bot ihnen eine Verbindung zum anderen, da ihre Partner beide auf die gleiche Art gestorben waren.

»Es tut mir leid«, sagte Thomas.

»Es ist vor einer Woche passiert«, sagte Dorothy und ließ den Whisky in ihrem Glas kreisen. »Nachts, als er auf der Toilette war. Ich habe ihn erst morgens gefunden. Wo ist da die Würde?«

Sie hatte niemandem Einzelheiten darüber erzählt, wie sie ihn gefunden hatte. Sie hatte ihm die eingenässte Schlafanzughose ausgezogen und in den Wäschekorb gesteckt. Hatte eine frische aus der Kommode geholt und ihm über die Beine gezogen, danach hatte sie ihn ins Schlafzimmer geschleift und aufs Bett gewuchtet. Er war seit Stunden tot, seine Haut war kalt, ein Gefühl, das sie aus ihrer Branche kannte. Sie legte ihn hin und hielt ihn eine halbe Stunde im Arm, versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Erst eine Stunde später rief sie einen Arzt an, denn wenn sie das erst mal getan hatte, gehörte Jim ihr nicht mehr, dann gehörte sein Tod jedem. Sie wollte, so lange sie konnte, es für sich behalten.

»Vor einer Woche?«, fragte Thomas.

In seinem Ton schwang ein leichter Tadel mit. Warum hatte sie es ihm nicht schon früher gesagt? Er hätte helfen können.

Aber wie hätte er denn?

»Wir haben ihn heute eingeäschert.«

»Wenn du es mir gesagt hättest, wäre ich gekommen.«

»Wir haben es niemandem gesagt.«

Sie hörte, wie er sein Gewicht verlagerte, und fragte sich, ob er immer noch die gleiche Seite des Bettes wie damals nutzte, als Morag noch lebte. Sie hatte sich in der vergangenen Woche nicht ausgebreitet, denn Jims Seite des Bettes zu benutzen, kam ihr ihm gegenüber wie eine Beleidigung vor.

»Falls ich irgendwas tun kann …«, sagte Thomas.

Dorothy zog die Brille vor ihre Augen und starrte den Papierkram auf dem Schreibtisch an.

»Da ist etwas, wobei du mir helfen kannst«, sagte sie und nahm einen Kontoauszug in die Hand. »Ich möchte, dass du dir für mich etwas ansiehst.«

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