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HANNAH

Sie schlenderte durch die Ausstellung, wartete auf Vic. Ihr gefiel die Fruitmarket Galerie, das natürliche Licht hier auf der ersten Etage, und die Kunst war immer irre. Neben ihr waren Tausende Zigarettenpapierchen auf genau festgelegte Weise an der Wand befestigt, während in der gegenüberliegenden Ecke einige überdimensionale Schaumstoffskulpturen standen, die wie die Knochen einer riesigen, ausgestorbenen Spezies aussahen. Sie hätte am liebsten alles angefasst, aber das Personal passte scharf auf.

»Hannah.«

Mels Bruder trug ein enges, schwarzes T-Shirt, das seine tätowierten Arme zur Geltung brachte, keltische und kantonesische Strudel vom Handgelenk bis zum Bizeps. Sie umarmte ihn. Er roch männlich und fühlte sich durchtrainiert an. Er hatte jedes Recht der Welt, mit diesem Körper anzugeben. Er trug einen perfekten Seitenscheitel, die Haare gegelt, dazu eine rechteckige Brille, die vielleicht nur Show war.

»Wollen wir was trinken?«, fragte er und führte sie nach unten zum Café.

Sie nahmen einen Tisch weit weg von den Baristas und dem Lärm der Espressomaschine. Hannah war sich nicht sicher, was Vic hier machte, es hatte irgendwas mit bürgerschaftlichem Engagement zu tun, aber er schien sich immer absolut zu Hause zu fühlen zwischen den Designbüchern, der abgedrehten Kunst und dem Lagerhaus-Look. Das Café wurde von jungen Künstlertypen und der älteren Oberschicht Edinburghs frequentiert, rote Hosen und Pashminas. Dies war einer der Orte in der Stadt, an denen ältere Bohemiens zusammenkamen, als würden sie einem Ruf folgen, den nur sie allein hören konnten.

Eine große Kellnerin mit leuchtend grünen Haaren und dazu passenden Augen nahm ihre Bestellung auf und verschwand hinter der Theke.

»Danke, dass du gekommen bist«, sagte Vic. Ein kurzes Lächeln, das sofort von einem besorgten Ausdruck verdrängt wurde.

»Ich hab mich gefreut, dass du angerufen hast«, sagte Hannah. »Ich wollte sowieso mit dir reden.«

»Ich habe mit Mum und Dad gesprochen«, sagte Vic. Seine Hand hob sich zu seinen Haaren, eine nervöse Geste, kontrollierte den Scheitel, strich mit den Fingern über seine Kopfhaut.

»Wie geht es ihnen?«

»Sie sind krank vor Sorge, tun aber so, als wäre nichts.«

Hannah nickte, als ihre Getränke kamen. Für sie grünen Tee, für ihn Kräutertee, der nach Beeren und Heu duftete.

Vic lächelte das Mädchen mit einem verschwörerischen Blick an, Kollegen unter sich, dann wandte er sich Hannah zu.

»Erzähl mir, was du weißt.« Sein Akzent hatte diesen näselnden Dundee-Tonfall, den Mel nicht hatte. Es war schon merkwürdig, wie Leute in ein und derselben Familie aufwachsen und sich doch völlig anders anhören konnten.

Sie erzählte ihm, was seit Mels Verschwinden passiert war. Die Unterhaltung mit der Polizei, das Gespräch mit Xander. Von Mum hatte sie bislang nichts zu Bradley Barker gehört.

Vics Stirnrunzeln wurde tiefer, und seine Hand wanderte wieder zu seinen Haaren. Sie beobachtete das Spiel seiner Armmuskeln.

»Was hältst du von diesem Xander-Kid?«, fragte er.

Er war nur drei Jahre älter als Mel, wirkte aber reif genug, dass Studenten für ihn Kids waren.

Hannah zuckte mit den Achseln. »Bin nicht sicher. Als ich hereinkam, hat er gerade mit einem Mädchen geflirtet, aber wenn jeder Typ, der flirtet, gleich schuldig ist, na ja …«

Vic nickte. Er hatte nie mit Hannah geflirtet, wusste aber auch von Anfang an, dass sie lesbisch war, was einen Unterschied machte. Vielleicht war er selbst ja auch schwul, obwohl Hannah das eigentlich nicht glaubte, so wie er die Kellnerin erst vor einer Minute angesehen hatte.

Vic beugte sich vor, als wäre er Teil einer Verschwörung. »Hat sie jemals sonst jemanden erwähnt?«

»Wie meinst du das?«

»Einen anderen Typen.«

Hannah kaute auf ihrer Lippe, trank einen Schluck Tee, der nicht bitter genug war. »Ich hätte es gewusst, wenn sie mit jemandem zusammen gewesen wäre.«

»Bist du sicher?«

»Hat sie dir gegenüber irgendwas von einem anderen festen Freund erzählt?«

»Hat sie nicht, aber ich hatte so ein Gefühl.«

»Warum?«

»Wir haben letzte Woche zusammen zu Mittag gegessen, und da hat sie erwähnt, am Abend zuvor in einer Hotelbar gewesen zu sein. Ich fand das komisch, Studenten können sich keine Drinks in Hotelbars leisten. Ich habe nachgefragt, aber sie hat ausweichend geantwortet, sagte, sie habe ein Date gehabt, und wechselte das Thema.«

»Das klingt so gar nicht nach Mel.«

Vic zuckte mit den Achseln. »Wie gut kennen wir uns schon? Mum und Dad kennen Mel überhaupt nicht, ihnen gefällt die Vorstellung nicht, dass sie überhaupt mit einem Typen zusammen ist, geschweige denn mit mehr als einem. Es gibt eine ganze Menge Sachen, von denen sie überhaupt nichts wissen.«

»Wie meinst du das?«

Vic seufzte und lehnte sich zurück. »Sie war auf der Schule ziemlich wild.«

Hannah musste bei der Vorstellung lachen. »Komm schon.«

Der Ausdruck auf Vics Gesicht beendete jedoch ihr Lachen.

»Sie wollte nicht, dass ihre Freunde auf der Uni davon erfuhren«, sagte er. »Sie hat sich sehr verändert, seit sie hergekommen ist. Irgendwie wesentlich ruhiger.«

»Wovon genau sprichst du?«

»Sie hatte einfach keinen Ausschalter. Jede Menge Alkohol, Koks und Ketamin. Jungs. Und Männer, ältere Männer. In manchen Clubs in Dundee hatte sie einen ziemlichen Ruf.«

»Woher kam das?«

Vic schüttelte den Kopf, als wären die Motivationen jedes Menschen ein Mysterium. »Vielleicht hat sie deshalb das mit diesem anderen Typen nicht hinausposaunt.«

»Aber dir hätte sie doch was gesagt, oder?«

»Nicht, wenn sie keinen guten Grund dafür gehabt hätte.«

Hannah spielte mit dem Teelöffel auf ihrer Untertasse. »Verheiratet.«

Vic öffnete die Hände. »Vielleicht hat das nichts zu bedeuten.«

Irgendwer ließ in der Küche einen Teller fallen, das Gepolter von Keramik auf Fliesen, ein gemurmeltes Schimpfwort. Am Nebentisch sah sich eine Touristen-Familie aus dem Mittelmeerraum Fotos auf dem Handy ihrer Tochter an. Hannah roch pochierte Eier, und das machte sie hungrig.

»Aber während wir aßen, hat sie mehrere SMS erhalten«, sagte Vic. »Bei der ersten hat sie gelächelt. Ich habe sie damit aufgezogen, aber sie hat sich nicht provozieren lassen. Dann kam noch eine, und da hat sie nicht mehr so glücklich ausgesehen. Dann ein paar Minuten später noch eine, was zur Folge hatte, dass sie das Handy stummgestellt hat. Ich habe sie danach gefragt, aber sie wollte nicht darüber reden.«

»Wann war das?«

Vic trank einen Schluck Tee, dachte kurz nach. »Letzten Dienstagmittag.«

Hannah zog Mels Handy aus der Tasche und rief ihre Nachrichten auf, blätterte sie mit dem Daumen durch.

Vic kniff die Augen zusammen. »Was machst du da?«

»Ich sehe auf ihrem Telefon nach, von wem die Nachrichten gekommen sein könnten.«

Vic schüttelte den Kopf. »Das ist nicht ihr Handy.«

Hannah hob es hoch. »Doch, ist es.«

»Tja, es ist jedenfalls nicht das Telefon, das sie letzte Woche benutzt hat.«

Hannah starrte Vic an, dann die Schlange vor dem Taxistand draußen vor dem Fenster.

»Scheiße«, sagte sie. »Sie hat ein zweites Telefon.«

14
DOROTHY

Dorothy sah zu, wie Abi zu Sleater-Kinney auf das Schlagzeug eindrosch. Das Mädchen besaß ein rohes Talent, hatte aber noch keine Kontrolle darüber. Na und? Welches dreizehnjährige Mädchen hat schon Kontrolle über irgendeinen Aspekt seines Lebens? Was Dorothy mit Mädchen dieses Alters machte, war, ihnen Arten des Schlagzeugspiels zu zeigen, bei denen es nicht darauf ankam, einen Schwanz zu haben. Janet Weiss war ein gutes Vorbild, kraftvoll, wenn sie es sein musste, ja, sogar ursprünglich, aber nie so großkotzig wie männliche Schlagzeuger, holte sich nie bei einem Song einen runter.

Abi erreichte die Middle Eight und versuchte es mit einer ausgefallenen Einlage an den Toms, schaffte es aber nicht ganz rechtzeitig zurück. Sleater-Kinney waren auch gut, um die Arbeit an den Toms zu üben, was den zusätzlichen Effekt hatte, Abi von ihrer Besessenheit von den Hi-Hats abzulenken. Der Pferdeschwanz des Mädchens schwang hin und her, als sie sich mit geschlossenen Augen konzentrierte, nur ganz leicht mit dem Kopf wippte, als sie durch die letzte Strophe zum Refrain powerte. Sie ging völlig in ihrem Spiel auf. Dorothy kannte das Gefühl gut, wenn man sich in einer größeren Sache verlor, wenn man Teil der Musik wurde und die Musik wurde zu einem Teil von einem selbst. Rhythmus ist so urgewaltig, führt uns zurück zu den Anfängen der Menschheit in das afrikanische Flachland, zapft etwas Unbeschreibliches an.

Dorothy sah aus dem Fenster. Sie waren im zweiten Stock des Hauses, im Studio, kleine Fenster und Schalldämmung, aber mit einem besseren Ausblick als unten in der Küche. Die zerklüfteten Zähne der Burg fielen zum Durcheinander der Old Town hin ab, die in der Sonne funkelnden Glasflächen der Quartermile vorne und die nahe liegende Viewforth Church ragten über die Baumgrenze des Parks auf.

Abi übertrieb es wieder, veranlasste Dorothy, sich umzudrehen. Das Mädchen wirkte verlegen, erkannte, was es getan hatte, und das war schon die halbe Miete. Ein Junge in ihrem Alter wäre einfach weiter durchgestolpert in der Annahme, dass der Song ihn schon wieder einholen würde. Abi begriff, dass weniger mehr war, sie hatte es nur in der Praxis noch nicht ganz umsetzen können, aber das würde sich ändern. Man muss nicht jeden Raum in einem Song füllen, in neun von zehn Fällen ist es besser, wenn Luft zum Atmen bleibt. Aber das akzeptieren zu können, ist in keinem Alter leicht, und erst recht nicht für einen hormongesteuerten Teeny.

Dorothy erinnerte sich, wie sie selbst als Teenager gewesen war, mit ihrem Second-Hand-Schlagzeug von Pearl im Hobbyraum, wie sie darauf eingedroschen, zu The Kinks und MC5 getrommelt hatte. Ihre Eltern waren bei allem ziemlich offen und vorurteilsfrei gewesen, obwohl sie nie vorgaben, ihre Besessenheit zu verstehen. Es war eine verrückte Zeit für Musik, natürlich die Beatles und die Stones, aber sie hatte schon immer mehr das Underground-Zeug gemocht, und das setzte sich über die Jahre fort.

Sie erinnerte sich gut an Jims Gesicht, als sie sagte, sie wolle im obersten Stock des Hauses ein Schlagzeug aufbauen. Zu dem Zeitpunkt war sie seit zwei Jahren in Schottland und vermisste Pismo Beach wie verrückt, und sie brauchte eine Möglichkeit, an ihre von der Sonne geküsste Pubertät anzuknüpfen. Jim verstand das. Und als das Schlagzeug einmal da war, war es kein so großer Schritt mehr, übers Unterrichten nachzudenken. Gut genug war sie, es machte kaum sonst jemand, und es war ein anständiges Zusatzeinkommen. Es waren die frühen Siebzigerjahre, also fingen jede Menge Kids an, ihre eigenen Rockbands zu gründen, und Dorothy half ihnen wahnsinnig gern dabei und konnte sich gleichzeitig auf dem Laufenden halten, was musikalische Trends betraf. Es war gesund, die körperliche Betätigung an sich machte sie stark, während das Yoga sie gelenkig hielt. Und es war auch ein Spiegel dieser Meditation, sich in etwas Größerem zu versenken.

Und es kamen immer wieder neue Schüler, trotz Drum Machines und Rave und dem ganzen Rest. Das Geld war natürlich nützlich, aber das Gefühl von Identität war wichtiger, gab ihr etwas, das ihr allein gehörte, jenseits des Geschäfts mit dem Tod.

Der Song ging zu Ende, und Abi setzte sich zurück, hatte die Zungenspitze zwischen den Zähnen. Sie war recht groß für ihr Alter, lange Beine in Jeansshorts, und auf ihrem schlabberigen weißen T-Shirt umschlangen Rosen den Aufdruck »Feminist as Fuck«. Ihr Gesicht war schweißgebadet, glänzte, und sie sah Dorothy erwartungsvoll an.

»Du weißt es, stimmt’s?«, sagte Dorothy.

Abi nickte. Sie war zunehmend selbstbewusster, und Dorothy liebte es.

»Irgendwo in der Mitte ist es mit mir durchgegangen«, sagte Abi. »Es war zu viel.«

»Aber es hat sich super angehört. Deine Floor Tom ist absolut spitze.«

Abi grinste. Es war so einfach, einem Kid ein gutes Gefühl zu geben.

Dorothy sah auf die Uhr an der Wand. »Okay, das war’s für diese Woche.«

Abi legte die Schlagzeug-Sticks beiseite und schlängelte sich hinter dem Schlagzeug hervor. Es war ein schönes altes, orange-gelbes Ludwig, flache Toms und Snare Drum, aber immer noch mit reichlich Wumms. Dorothy war es ein wenig peinlich, wie sehr sie dieses Schlagzeug liebte. Es war schließlich nur ein Gegenstand, aber das handwerkliche Geschick, mit dem es hergestellt worden war, und sein Zweck machten es zu etwas ganz Besonderem.

»Danke, Mrs S«, sagte Abi. »Und, Sie wissen schon, tut mir echt leid, das mit Mr S.«

Dorothy zögerte einen Moment. »Wir sehen uns nächste Woche, Abi, und vergiss nicht, dir ein paar Sachen von Janet Weiss’ anderer Band anzuhören, von Quasi, bei denen lässt sie so richtig die Sau raus.«

Abi richtete zwei zu einer Schusswaffe geformte Finger auf Dorothy, dann ging sie, und Dorothy stand schweigend da. Sie setzte sich ans Schlagzeug, nahm die Sticks und begann mit einem Country Shuffle, mischte Offbeats und Trills unter. Dann legte sie richtig los, öffnete ihren Körper, setzte alle paar Takte Becken und Toms ein. Sie versuchte zu spüren, was Abi vor wenigen Minuten gespürt hatte, aber sie konnte immer nur an Jim denken, der zwei Etagen unter ihr als Aschehäufchen da lag, an Rebecca Lawrence und ihren verschwundenen Ehemann und die zehnjährige Tochter, an all das Geld, das Jim über die Jahre gezahlt hatte, an die Geheimnisse, die dieses Geld darstellte. Sie übertrieb es jetzt ebenfalls beim Trommeln, wollte zu sehr, machte genau das, wovor sie Abi gewarnt hatte. Aber sie machte es trotzdem, versuchte, sich gehen zu lassen, jedes konkrete Körpergefühl zu verlieren und sich stattdessen als Teil zu fühlen von etwa Größerem als ihren dummen kleinen Sorgen.

Es funktionierte nicht.


Die Leute dachten nie darüber nach, wie schwer es war, eine Leiche anzuziehen. Die Unterhose war noch relativ einfach, aber dennoch war es eine Herausforderung, zuerst das eine Bein und danach das andere hineinzubekommen. Der BH war ein ziemliches Gefummel, Archie musste Ginas Körper auf die Seite rollen, damit Dorothy ihn hinten schließen konnte. Am schwersten war jedoch die Strumpfhose, heben und drehen, quetschen und massieren. Es war ein Job für zwei Leute, und obwohl sie und Archie den Bogen weitgehend raushatten, war es ein ziemlicher Aufwand. Gina sollte ein rotes Kleid tragen, aber der Stoff war recht dünn, und Dorothy hatte Angst, dass es an einer der Klammern hängen bleiben könnte, mit denen das Futter an den Sarg getackert war, wenn sie versuchten, sie hineinzulegen. Sie streiften ihr zuerst die Arme über, als sie lag, dann richteten sie sie auf und zogen ihr das Kleid über den Kopf und den Rücken. Sie legten sie wieder hin, und Archie hob ihr Becken an, damit Dorothy das Kleid über den Hintern ziehen und den Saum über den Knien glatt streichen konnte, schließlich wurden die Träger an den Schultern und der Büste zurechtgerückt, damit alles schön symmetrisch war.

Archie hatte bereits das Make-up und die Haare erledigt, bevor Dorothy eintraf, und er hatte wie immer gute Arbeit geleistet, sie sah den Fotos sehr ähnlich, die sie am Einbalsamierungstisch aufgestellt hatten. Dorothy zog Gina die roten Stöckelschuhe an, musste dabei daran denken, dass sie sie nie mehr ausziehen würde, nie mehr die Erleichterung empfinden würde, wenn sie die Schuhe nach einer langen Nacht abstreifte. Sie legte ihr die kleinen Creolen an, spürte dabei die Kälte von Ginas Ohrläppchen, wischte einen abgelösten Faden des Kleides von ihren Lippen.

Archie rollte den Sarg auf der Rollbahre heran und fuhr mit der Hand einmal innen herum, prüfte auf Holzsplitter oder Krampen, nach rauen Stellen des Futters. Dann senkte er die Bahre herab, bis die Öffnung des Sargs sich auf einer Höhe mit dem Einbalsamierungstisch befand. Sie stellten sich oben und unten neben Gina und legten die Hände unter ihre Achseln und Knie.

»Eins, zwei, drei«, sagte Dorothy, und sie hoben sie auf drei in die Kiste, senkten sie langsam ab. Dorothy brachte das Kleid in Ordnung, das an einer Seite hochgerutscht war, richtete Ginas Füße aus, legte ihr die Hände auf den Schoß und strich mit einem Finger den Arm hinauf bis zum Schlüsselbein. Archie hatte die Flecken an ihrem Hals erfolgreich überdecken können, man sah sie nur noch, wenn man sehr genau hinschaute.

»Sie sieht friedlich aus«, sagte Dorothy. »Du hast gute Arbeit geleistet.«

»Danke.« Er räumte die Tasche fort, in der die Kleidungsstücke gekommen waren, und begann, den Tisch abzuwischen.

Dorothy legte den Deckel auf den Sarg und schob die Rollbahre aus dem Einbalsamierungsraum ins Hauptgebäude, durch die Verbindungstür und vorbei an Indy hinter der Rezeption, weiter in den Verabschiedungsraum.

Indy folgte ihr und half dabei, den Sarg von der Rollbahre auf den Tisch in der Mitte des Raums zu heben. Einfaches weißes Tuch, hohe Vasen mit Lilien links und rechts, alles durch die Jalousien in gedämpftes Sonnenlicht getaucht. Zwei Sessel und eine kleine Kommode mit einer Schachtel Papiertaschentücher darauf, an der Wand das Gemälde eines Sonnenuntergangs.

»Ms O’Donnell, richtig?«, fragte Indy.

»Gina, ja.«

Dorothy sah Indy an. Sie wussten beide, wie Gina gestorben war, und empfanden gemeinsam eine unausgesprochene Traurigkeit. Aber es spielt keine Rolle, wie du stirbst, dachte Dorothy, wichtig ist allein, wie du lebst.

»Führst du die Beerdigung durch?«, fragte Indy.

Dorothy nickte.

»Brauchst du dabei Hilfe?«

»Archie und ich haben es im Griff.« Dorothy berührte Indy am Arm. »Keine Sorge, ich möchte immer noch, dass du richtig einsteigst.«

»Ich mache mir keine Sorgen.«

Dorothy hob den Sargdeckel ab und vergewisserte sich, dass sich Gina beim Transport nicht verlagert hatte. Sie sah immer noch aus wie zuvor, bleiche Haut zu einem roten Kleid.

»Sie sieht gut aus«, sagte Indy.

»Archie weiß, was er tut.«

Indy zog den Saum von Ginas Kleid glatt, strich über die Ränder des Innenfutters des Sargs. Sie besaß ein gutes Auge fürs Detail. Sie war sehr gewissenhaft bei der Beerdigung ihrer eigenen Eltern gewesen, was man leicht als Gefühllosigkeit hätte missverstehen können, aber Dorothy wusste es besser. Es war eine Möglichkeit, die Zügel in der Hand zu behalten, wenn das Chaos von deinem Leben Besitz ergriffen hatte.

»Ich erinnere mich, wie wir uns kennengelernt haben«, sagte Dorothy. »Ich war sehr beeindruckt von dir.«

Indy schaute auf. »Wieso?«

»Es war für dich offensichtlich eine sehr schwere Zeit.«

Indy legte zustimmend den Kopf schief.

»Aber dich hat eine solch tiefe Gelassenheit umgeben«, fuhr Dorothy fort. »Du hast immer so in dir geruht.«

»So hab ich mich aber überhaupt nicht gefühlt«, sagte Indy. »Ich hab mich verloren gefühlt. Aber du hast mich gefunden.«

Dorothy lächelte. »Du hast dich selbst gefunden. Du musstest nur in die richtige Richtung gedreht werden.«

Indy schüttelte den Kopf und blickte auf Gina in ihrem Sarg. Sie streckte eine Hand aus und legte einen Finger an ihren Hals, wo Archie das durch den Gürtel verursachte Mal abgedeckt hatte.

Dorothy erinnerte sich an die junge Frau, die Indy gewesen war, als sie ins Haus der Skelfs gekommen war, um die Beerdigung ihrer Eltern zu organisieren. Ihre Haare waren damals leuchtend rot gewesen, und obwohl ihr Gesicht vom vielen Weinen gerötet und verquollen war, strahlte sie auch etwas sehr Sorgfältiges und Geerdetes aus, selbst bei all dem Schmerz. Sie studierte Psychologie an der Napier University, sagte aber, sie sähe keinen Sinn darin, weiterzumachen. Sie wollte wissen, wie Menschen tickten, aber der Verkehrsunfall, bei dem ihre Eltern nachts auf nasser Straße ums Leben gekommen waren, verdeutlichte, dass alles nur dem Zufall überlassen war, von der Wiege bis zur Bahre und darüber hinaus, wenn man daran glaubte. Indy hatte nie daran geglaubt, sagte sie zu Dorothy, trotz ihres Hindu-Erbes, aber ihren Eltern machte es nichts, und sie erlaubten ihr, reibungslos ihren eigenen Weg zu wählen. Nachdem sie tot waren, war sie noch freier, ihren eigenen Weg zu wählen, aber es schien keinen Sinn und Zweck mehr zu haben. Dorothy machte sich Sorgen und hielt den Kontakt aufrecht, wie sie es oft bei jüngeren Hinterbliebenen machte, und als ihr klar wurde, dass Indy es ernst damit meinte, das Studium aufzugeben, meldete sie sich mit einem Job-Angebot.

»Es war mehr als das, und das weißt du auch«, sagte Indy. »Ich war ein Wrack. Du hast mein Leben verändert, Dorothy. Ich meine, natürlich tut es immer noch weh, wenn ich an Mum und Dad denke, dass ich ohne sie weiterleben muss. Aber ich habe jetzt hier ein Ziel, einen Sinn gefunden. Ich habe Hannah. Ohne dich hätte ich heute nichts von alledem.«

»Das hier liegt dir«, sagte Dorothy. »Du bist sagenhaft zu unseren Kunden. Die finden dich alle wunderbar.«

»Ich helfe den Menschen gern.«

Dorothy nickte. »Genau das meine ich doch. Und du bist auch großartig für Hannah.«

»Sie ist großartig für mich.«

Es war ganz nüchtern gesprochen, aber dennoch vollkommen richtig.

Etwas kam Dorothy in den Sinn. »Ist Melanie schon aufgetaucht?«

Indy runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Han hat mit ihrem Bruder gesprochen, und Jenny hat sich unten an der Uni mit einem Tutor getroffen.«

»Sie wird wieder auftauchen«, sagte Dorothy.

»Da bin ich nicht so sicher«, sagte Indy.

»Wie kommst du darauf?«

»Ist nur so ein Gefühl«, sagte Indy. »Ich weiß, dass Han über so etwas wie Intuition lacht, für sie ist alles nur schwarz und weiß, logisch und auf Tatsachen beruhend. Aber bei Mel habe ich ein ungutes Gefühl.«

»Wir sollten die Intuition nicht ignorieren«, sagte Dorothy. »Es ist eben eine Art Wissen, das wir noch nicht ganz verstehen.«

Das Telefon an der Rezeption klingelte, und Indy ging, um den Anruf anzunehmen.

Dorothy richtete einen von Ginas Füßen aus, der leicht nach außen gerichtet war, drehte ihr Bein ein wenig, legte dann eine Hand auf Ginas Hände. Sie starrte sie lange an, wandte sich schließlich ab und zog ihr Handy aus der Tasche. Sie drückte die Anruftaste und wartete. Sie hatte das Wort »byde« in ihrem Schottisch-Wörterbuch nachgeschlagen, als sie aus Craigentinny nach Hause gekommen war, und neben »leben« bedeutete es auch »ertragen«. Also lautete das Motto von Natalies Schule: »Ich ertrage es.« Das schien zu passen.

»Hallo, Royal Bank of Scotland, Hardeep am Apparat, womit kann ich Ihnen helfen?«

»Ich möchte eine Lastschrift von meinem Geschäftskonto stornieren«, sagte Dorothy.

Es war in weniger als einer Minute erledigt, und Dorothy legte auf. So leicht, eine Verbindung zur Vergangenheit zu kappen.

Indy streckte den Kopf durch die Tür. »Da ist ein Jacob Glassman am Telefon, der darauf besteht, mit Jim über einen Fall zu sprechen.«

Dorothy ging zur Rezeption und nahm den Hörer in die Hand.

»Hallo?«

»Mit wem spreche ich?«

»Dorothy Skelf am Apparat.«

»Ich möchte mit Mr Skelf sprechen.«

Dorothy schluckte. »Mr Skelf ist leider nicht mehr bei uns.«

»Wie meinen Sie das?«

»Er ist tot.«

»Oh.« Seine Stimme war vornehmes Edinburgh mit einem Hauch Osteuropa, und er klang alt.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Dorothy.

»Ich hatte gestern einen Termin mit Mr Skelf.«

Dorothy erinnerte sich an etwas, Jacob Glassmans Name stand oben auf dem Whiteboard der Detektei, neben einem weiteren Namen, an den sie sich gerade nicht erinnern konnte.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich übernehme Jims Fälle. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Es ist ziemlich heikel«, sagte Jacob und senkte die Stimme. »Ich kann jetzt nicht darüber reden, sie ist hier.«

»Wer?«

»Susan, natürlich.« Nur noch ein Flüstern.

Der andere Name auf der Tafel. Susan Soundso.

Sie hörte, wie er sich am anderen Ende der Leitung räusperte. »Vielleicht können Sie später zu mir kommen?«

»Ich bin nicht sicher«, sagte Dorothy.

»Mr Skelf hat meinen ersten Scheck als Anzahlung bereits eingelöst.«

Sie hoffte, dass es oben im Büro eine Akte mit ein paar Notizen gab.

Er räusperte sich wieder. »Sie wird um 14 Uhr fort sein. Würde Ihnen das passen?«

Dorothy berührte ihre Stirn, registrierte den Duft der Chrysanthemen auf dem Schreibtisch. »Helfen Sie mir noch mal mit Ihrer Adresse?«

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