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Teil 1 Grundlagen: Für den Konsens, gegen den „Deal“

Teil 1 Grundlagen: Für den Konsens, gegen den „Deal“

Teil 1 Grundlagen: Für den Konsens, gegen den „Deal“ › A. Ausgangspunkt: Urteilsabsprachen nicht als Umwälzung, sondern als Ergänzung der StPO

A. Ausgangspunkt: Urteilsabsprachen nicht als Umwälzung, sondern als Ergänzung der StPO

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Versteht man unter Konsens – entsprechend der Herkunft des Begriffs vom lateinischen consentire – schlicht Übereinstimmung, und sieht man als eine konsensuale[1] Verfahrensbeendigung im Strafprozess eine solche an, bei der nach dem Gesetz der Zustimmung eines oder mehrerer Verfahrensbeteiligter, also dem Vorliegen übereinstimmender Willensäußerungen, eine eigenständige und konstitutive Bedeutung für den Eintritt der Rechtsfolge zukommt, so kennt das deutsche Strafprozessrecht nicht erst seit Einführung der Urteilsabsprache im Jahr 2009, sondern schon seit langer Zeit Formen konsensualer Verfahrensbeendigungen. Das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009[2] (im Folgenden VerstG) hat also nicht die Möglichkeit konsensualer Verfahrensbeendigung in die StPO eingeführt, sondern lediglich den bereits bisher bestehenden Handlungsformen eine weitere, nämlich die Urteilsabsprache, hinzugefügt.

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Die Urteilsabsprache indes hatte ein großer Teil der veröffentlichten Meinung in einschlägigen Fachpublikationen als praeter legem oder vielleicht sogar contra legem entwickeltes Rechtsinstitut grundsätzlich und vielfach in scharfer Form abgelehnt.[3]

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Bereits im Vorwort ist zum Ausdruck gebracht worden, dass wir die Fundamentalkritik, die Rechtswissenschaft und Teile der Justiz ungefähr ein Vierteljahrhundert lang an dem Rechtsinstitut der Urteilsabsprache – denn auf die Urteilsabsprache ist die weit überwiegende Anzahl der Veröffentlichungen bezogen – geübt haben, für weitgehend, aber nicht vollständig überholt halten. Von vielen Seiten erhielten wir den Ratschlag, uns mit dieser Grundsatzkritik an dieser Stelle nicht mehr zu beschäftigen, sondern die Entwicklung bis zum Jahr 2009, in dem § 257c StPO[4] sowie die anderen einschlägigen Vorschriften zur Absprache im Strafprozess in die StPO eingefügt wurden, als Rechtsgeschichte anzusehen und ihrem auf die Rechtspraxis bezogenen Wert entsprechend nicht mehr zu behandeln.

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Dies ist teilweise, aber nicht gänzlich möglich. Zum einen hat das BVerfG mittlerweile gesprochen.[5] Es hat die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung bestätigt und Hinweise für ihre Anwendung gegeben, so dass sich einige Fragen unter Geltung der Vorgaben des Gerichts neu stellen. Hierauf wird in Teil 3 näher eingegangen.[6] Zum anderen, und hierzu sollen bereits an dieser Stelle einige Bemerkungen folgen, hat sich die veröffentlichte Meinung nach Einführung der gesetzlichen Regelung in einer Weise entwickelt, die es erforderlich macht, wenn auch in knapperer Form noch einmal grundsätzlich Stellung zu beziehen. Dies geschieht sogleich unter C.I[7].

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Vorab werden zur ersten Orientierung die hergebrachten Möglichkeiten der konsensualen Verfahrenserledigung im deutschen Strafprozessrecht sowie die gesetzliche Regelung der Urteilsabsprache, die seit 2009 gilt, in einem knappen Überblick dargestellt (dazu B.I. und II.).

Anmerkungen

[1]

Im Folgenden wird synonym das Wort „einvernehmlich“ verwendet.

[2]

BGBl. I S. 2353.

[3]

Vgl. zur früheren Diskussion nur Schünemann Gutachten; ders. NJW 1989, 1895 ff; ders. FS Rieß, S. 525 ff.; ders. StraFo 2004, 293; Weigend NStZ 1999, 57 ff.; Meyer-Goßner NStZ 2007, 425 ff.; Harms FS Nehm, S. 289 ff.; Fischer NStZ 2007, 433; Hamm FS Meyer-Goßner, S. 33 ff.; Siolek DRiZ 1989, 321; Saliger JuS 2006, 8 ff.; ausführlich und m. w. N. Sauer Konsensuale Verfahrensweisen im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 1. Aufl. 2008, Rn. 69 ff., 80 ff.

[4]

Paragrafen ohne Gesetzesnennung sind im Folgenden solche der StPO.

[5]

Vgl. BVerfG Urt. v. 19.3.2013 – 2 BvR 2628/10 = NJW 2013, 1058 ff.

[6]

Vgl. unten Teil 3 (Rn. 285 ff.).

[7]

Rn. 32 ff.

Teil 1 Grundlagen: Für den Konsens, gegen den „Deal“ › B. Möglichkeiten konsensualer Verfahrenserledigungen im deutschen Strafprozessrecht

B. Möglichkeiten konsensualer Verfahrenserledigungen im deutschen Strafprozessrecht

Teil 1 Grundlagen: Für den Konsens, gegen den „Deal“ › B › I. Das Strafbefehlsverfahren und §§ 153 ff. als hergebrachte Möglichkeiten konsensualer Verfahrenserledigungen

I. Das Strafbefehlsverfahren und §§ 153 ff. als hergebrachte Möglichkeiten konsensualer Verfahrenserledigungen

1. Hintergründe und Problematik der Vorschriften

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Zumindest an zwei Stellen der StPO sind konsensuale Verfahrenserledigungen schon lange vorgesehen oder wenigstens vorausgesetzt. Die Rede ist zum einen von dem schon bei Einführung der StPO existierenden Strafbefehlsverfahren (§§ 407 ff.), das auf das preußische Strafprozessrecht zurückgeht,[1] zum anderen von den Möglichkeiten, Strafverfahren in Anwendung des Opportunitätsgrundsatzes einzustellen (§§ 153 ff.)[2]. Als Ausgangspunkt kann hier der bereits 1924 eingeführte § 153 angesehen werden. In beiden Regelungskomplexen ist jeweils bestimmt, dass unter bestimmten Voraussetzungen, zu denen die Zustimmung der Staatsanwaltschaft sowie – bei den §§ 153a, 407 ff. – auch die ausdrücklich oder zumindest konkludent erklärte Einwilligung des Beschuldigten gehören, das Verfahren ohne vollständige Ermittlung der Verdachtstat beendet werden kann. Im Strafbefehlsverfahren führt das im Ergebnis sogar dazu, dass Strafe verhängt werden kann, ohne dass in einer formalen Beweisaufnahme vor einem Strafgericht der Nachweis der Tat erbracht wurde.

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Innerhalb der Anwendungsbereiche der genannten Vorschriften kann also nach dem Gesetz unter der Bedingung des Vorliegens eines übereinstimmenden und in irgendeiner Form auch zum Ausdruck gebrachten Willens von Verfahrensbeteiligten auf die Durchführung des sonst von der StPO vorgesehenen Strafverfahrens verzichtet werden. Damit verfügen nicht nur Strafgerichte, sondern auch Staatsanwaltschaften, Verteidiger und Beschuldigte seit jeher über Möglichkeiten, die öffentliche Hauptverhandlung, in der im Strengbeweisverfahren Wahrheits- und Rechtsfindung mit dem Ergebnis eines vom zuständigen Gericht alleine auf der Basis seiner „aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“ (§ 261) zu fällenden, zu begründenden und zu verantwortenden Urteils betrieben wird, dadurch zu vermeiden, dass man sich auf eine vereinfachte und beschleunigte Verfahrenserledigung einigt oder diese zumindest stillschweigend mit (oder er-)trägt.[3]

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Das zentrale Motiv des Gesetzgebers dafür, neben der Pflicht zu Verfolgung, Aufklärung und Ausurteilung unter der (verschieden ausgestalteten) Voraussetzung der Zustimmung der Verfahrensbeteiligten auch schnellere und einfachere Wege zur Erledigung von Strafverfahren vorzusehen, war dabei stets das gleiche. Seit jeher ging es um die Schonung der Ressourcen der Justiz respektive ein (vermeintlich) angemessenes Verhältnis zwischen ihrer Beanspruchung auf der einen und der Bedeutung der im konkreten Fall verfahrensgegenständlichen Tatvorwürfe auf der anderen Seite.[4] Das hat sich bis heute nicht geändert. Eher lässt sich sagen, dass der schon früher bedeutsame und wirkungsmächtige Gesichtspunkt der Verfahrensökonomie in jüngerer Zeit rechtspolitisch noch an Bedeutung gewonnen hat. Der Gesetzgeber hat in den letzten Jahrzehnten mehrfach die in der StPO geregelten Möglichkeiten konsensualer Verfahrensbeendigungen in ihren Anwendungsbereichen erweitert sowie neue Varianten geschaffen.[5]

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Dabei ist ganz offensichtlich, dass die genannten Wege einvernehmlicher Verfahrensbeendigung zumindest in einem Spannungsverhältnis zu wesentlichen, teils Verfassungsrang genießenden Prinzipien des deutschen Strafprozessrechts, wie etwa Unschuldsvermutung, Ermittlungsgrundsatz[6] oder Legalitätsgrundsatz stehen. Die §§ 153 ff. beispielsweise setzen bekanntlich dem Legalitätsprinzip das Opportunitätsprinzip entgegen und schaffen im Ergebnis damit die Möglichkeit, von vollständiger Sachaufklärung abzusehen und trotz weiter bestehenden Tatverdachts das Strafverfahren abzuschließen. Es kann kaum zweifelhaft sein, dass der Verfolgungszwang hier nicht eingeschränkt, sondern durchbrochen wird. Ein Prinzip, das in allen Fällen ein bestimmtes Vorgehen, nämlich vollständige Sachaufklärung, fordert, wird durch ein Gegenprinzip, das just dieses Vorgehen unter bestimmten Voraussetzungen für überflüssig erklärt, im konkreten Anwendungsfall außer Kraft gesetzt.[7]

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Die soeben angedeuteten Spannungen und Brüche haben wesentlich dazu beigetragen, dass die gesamte Konzeption der § 153 ff. von Anfang an umstritten war; schon die Einführung des § 153 stieß durchaus auf Widerstand.[8] Diese Kritik ist nie wirklich verstummt, und man mag sie als berechtigt ansehen: Das „Mitverfügungsrecht“ Verfahrensbeteiligter[9] über den Verfahrensgegenstand, das die §§ 153 ff. notwendig voraussetzen, ist der StPO ihrer Grundanlage auch nach Einführung des § 257c fremd und dementsprechend problematisch.

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In jeder Hinsicht als besonders brisant kann dabei die Vorschrift des § 153a gelten. Dieser Norm, die aus den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts stammt,[10] eignet gegenüber dem bis dahin geltenden Rechtszustand insofern eine neue Qualität, als die Anwendung des Opportunitätsprinzips hier von einer Gegenleistung des Beschuldigten abhängig gemacht wird. Das Gesetz fordert also von den Strafverfolgungsbehörden, dass sie die Einstellung des Verfahrens im Rahmen eines Austauschgeschäfts vornehmen. Es ist leicht zu sehen, dass diese gesetzgeberische Entscheidung einen besonders schweren Eingriff in das Gefüge des deutschen Strafprozessrechts darstellte.[11] Sie hatte unter anderem die notwendige Folge, dass in als geeignet angesehenen Fällen gar keine Alternative dazu bestand, zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung außerhalb einer mündlichen, öffentlichen Verhandlung und in diesem Sinne informell Gespräche zu führen, die nicht etwa bloß einzelne Verfahrenshandlungen, sondern die Frage zum Gegenstand haben, ob der Beschuldigte bereit ist, eine bestimmte Leistung zu erbringen, wenn im Gegenzug auf Verfolgung der (Verdachts-) Tat verzichtet wird.[12]

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Der Beschuldigte wird zudem durch diese Möglichkeit der Verfahrensbeendigung häufig in eine Situation gebracht, in der er darüber entscheiden muss, ob ihm der sprichwörtliche Spatz in der Hand lieber ist als die Taube auf dem Dach: Ob er also an der bis zur rechtskräftigen Verurteilung geltenden Vermutung seiner Unschuld und seinem Anspruch auf Freisprechung festhalten oder lieber mit dem Makel der unaufgeklärten Straftat und der schon mit der Führung der Ermittlungen verbundenen, durch das Ausbleiben eines Freispruchs zementierten, wenn auch begrenzten Stigmatisierung dauerhaft leben möchte. Prägnant formuliert: § 153a setzt (häufig tatsächlich, jedenfalls aber kraft Unschuldsvermutung normativ) Unschuldige unter (Entscheidungs-) Druck. Es macht die Sache dabei keineswegs besser, dass die Entscheidung für die Verfahrenseinstellung nach § 153a und damit die Erbringung der Gegenleistung vielfach verfahrensintern und -extern als ganzes oder teilweises Schuldeingeständnis gewertet wird, obwohl für die Betroffenen ebenso oft die Schonung ihrer Nerven, ihrer Geldbeutel[13] und nicht zuletzt auch ihres persönlichen Umfeldes den Ausschlag gibt.

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Diese knappen Bemerkungen mögen genügen, um verständlich zu machen, dass gerade § 153a insbesondere in der Variante der Einstellung gegen Geldauflage vielfach Zielscheibe von Kritik nicht nur aus der Rechtswissenschaft,[14] sondern auch und immer wieder von Seiten der Presse und der Öffentlichkeit geworden ist. Vieles, was heute als „Deal“ bezeichnet, als Reichenrecht oder Klassenjustiz gegeißelt und mit dem Etikett der Mauschelei versehen wird, stellt in Wahrheit eine dem Gesetz und auch dem erklärten Willen des Gesetzgebers entsprechende Anwendung dieser Vorschrift dar.[15]

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Angesichts der verbreiteten Kritik an den §§ 153 ff. und vor allem § 153a verwundert es etwas, dass das Strafbefehlsverfahren gemeinhin auf vergleichsweise hohe Akzeptanz stößt. Immerhin sind die Folgen für den Betroffenen wie auch die Durchbrechung der Grundsätze des Strafprozesses in mehrfacher Hinsicht mindestens ebenso schwerwiegend wie bei den §§ 153 ff. Schließlich wird hier auf bloßen Antrag der Staatsanwaltschaft und schlicht nach Aktenlage unter Verzicht auf vollständige und vor allem unmittelbare Sachaufklärung durch das Gericht die Unschuldsvermutung erledigt, indem Schuld und Strafausspruch in einem schriftlichen Bescheid erfolgen, der außerordentlich knapp gehalten sein kann und dies in der Praxis häufig auch ist, und dessen Beantragung von Seiten der Staatsanwaltschaft nicht einmal die Überzeugung vom Vorliegen der Schuld des Betroffenen, sondern lediglich die Bejahung hinreichenden Tatverdachts, also die Annahme, eine etwaige Beweisaufnahme würde wahrscheinlich mit einer Verurteilung enden, voraussetzt. Nach verbreiteter Auffassung kann sich auch das Gericht bei Erlass des Strafbefehls mit diesem Verdachtsgrad begnügen.[16]

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Die normative Legitimation der Spannungen und Brüche mit zentralen Verfahrensprinzipien, die mit der Existenz der genannten Verfahrensweisen verbunden sind, sollte und soll bis heute – von Sonderfällen wie etwa § 153d abgesehen – nicht nur aus der Forderung nach Verfahrensökonomie, sondern aus zwei weiteren Überlegungen abgeleitet werden. Zum einen soll, so jedenfalls die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers, dem Opportunitätsprinzip Vorrang vor dem Legalitätsprinzip nur in Fällen von Bagatellstraftaten zukommen, wo der Verzicht auf Klärung der Taten wohl eher erträglich erscheinen soll.[17] Dies kommt heute zumindest im Ansatz noch durch die Bezugnahme auf das als „gering“ einzuschätzende oder zumindest nicht wegen seiner Schwere entgegenstehende Maß der Schuld und das Fehlen eines öffentlichen Interesses in den §§ 153 ff. zum Ausdruck. Ganz Ähnliches gilt für das Strafbefehlsverfahren, das (eigentlich) nur relativ einfach gelagerte Sachverhalte mit geringem Unrechtsgehalt zum Gegenstand haben und entsprechend geringe Strafen ermöglichen sollte.[18] Zum anderen soll durch die teilweise voneinander abweichend gestalteten Zustimmungserfordernisse – gegen den Willen der Staatsanwaltschaft kann die Einstellung nie erfolgen, die Zustimmung des Gerichts und des Beschuldigten ist für die gewichtigeren Entscheidungen ebenfalls erforderlich – sichergestellt werden, dass in anderen als ganz geringfügigen Fällen nicht einseitig über den „staatlichen Strafanspruch“ disponiert werden kann. Bei der wichtigsten und heikelsten Vorschrift dieses Regelungskomplexes, nämlich § 153a[19], indes wird die Zustimmung des Beschuldigten auch und vor allem wegen der damit für ihn verbundenen Belastungen, also der verhängten Auflage und auch deswegen benötigt, weil mit der Sachaufklärung sein Anspruch auf Rehabilitierung durch einen Freispruch oder (wenigstens) die Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 verloren geht. Auch das Strafbefehlsverfahren beruht nicht zuletzt auf dem Gedanken, die Zustimmung des Betroffenen[20] könne die Bestrafung unter Verzicht auf richterliche Sachaufklärung in einer Hauptverhandlung, also auf regelmäßig schwächerer Tatsachengrundlage, rechtfertigen.[21]

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Ganz gleich, ob diese und andere Begründungsansätze überzeugen oder nicht, ist heute zu konstatieren, dass der Gesetzgeber ungeachtet der insbesondere gegen § 153a vielfach von Seiten der Strafprozesswissenschaft vorgebrachten Einwände auch in den letzten Jahrzehnten sehenden Auges durch weitere Reformen den §§ 153 ff., aber auch dem Strafbefehlsverfahren ständig steigende praktische Bedeutung verliehen hat.[22] Die tatbestandlichen Voraussetzungen etwa der §§ 153 ff. sind vielfach gelockert worden. Die entsprechenden Einstellungsmöglichkeiten reichen heute bis weit in den Bereich der mittleren Kriminalität hinein.[23] Dies geschah regelmäßig sogar mit dem erklärten Ziel, die praktische Bedeutung dieser Arten der Verfahrenserledigung weiter zu erhöhen und die Praxis zu ihrer Durchführung zu animieren.[24]

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In gewisser Weise ist und war dabei auch in der Vergangenheit ein durchaus ambivalenter Umgang der Politik mit dem Strafrecht und dem Strafprozessrecht zu beobachten. Zum einen besteht seit langem eine Tendenz zur ständigen Erweiterung des materiellen Strafrechts durch Ausweitung bestehender oder Schaffung neuer Strafnormen, zum anderen hält der Gesetzgeber die personelle und materielle Ausstattung der Strafjustiz notorisch für nicht hinreichend, um auch eine gleichmäßige und effektive Ahndung der sich schon aufgrund dieser gesetzgeberischen Aktivitäten ständig vermehrenden Straftaten zu gewährleisten[25]. Es zeigt sich seit langem eine erstaunliche Kontinuität in der Gesetzgebung darin, ständig bis dahin zwar (vielleicht) rechtswidrige, aber nicht strafbare Verhaltensweisen zu kriminalisieren, gleichzeitig den Staatsanwaltschaften und Gerichten aber umfassende Möglichkeiten an die Hand zu geben, von der Verfolgung dieser Taten abzusehen.[26]

2. Faktische Existenz konsensualer Verfahrensbeendigungen als zwingende Folge

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Für praktisch tätige Strafjuristen resultiert bereits aus den mittlerweile extensiven Anwendungsbereichen des Strafbefehlsverfahrens sowie der §§ 153 ff. mit ihren verschiedenen Zustimmungserfordernissen tagtäglich die Notwendigkeit, konsensuale Verfahrensweisen durchzuführen. Wollen sie nicht offen gegen den Gesetzgeber rebellieren und Rechtspolitik betreiben, wo Rechtsanwendung gefragt ist, haben sie gar keine andere Wahl, als beispielsweise in Fällen, die für die Anwendung des § 153a in Frage kommen, über ein entsprechendes „Austauschgeschäft“ nachzudenken und selbstverständlich auch miteinander zu sprechen.[27] Ganz gleich, in welchen Konstellationen Absprachen letztlich angezeigt sind und wie der Gesprächsprozess im Einzelnen vor sich geht,[28] ist es offensichtlich, dass dies auch und gerade für die Verteidiger gilt. Sie verhalten sich heute nur noch dann pflichtgemäß und arbeiten kunstgerecht, wenn sie in Fällen, in denen eine Einstellung bei Erbringung einer der in § 153a genannten Gegenleistungen oder der Erlass eines Strafbefehls in Betracht kommt, den Mandanten über Verständigungsmöglichkeiten aufklären, ihm, wo es angezeigt ist, zur Absprache raten und diese ggf. sachgerecht in die Tat umsetzen, selbst wenn sie dies der Gefahr aussetzt, anschließend als „Dealer“, Fürsprecher eines Sonderrechts für Gutverdienende oder was auch immer bezeichnet zu werden und entsprechend in Verruf zu geraten.[29] Schon früher konnte sich der Verteidiger wegen der Existenz der §§ 153 und 407 ff. nicht durchweg auf die Strategie beschränken, in der Hauptverhandlung bis zuletzt für die Unschuld seines Mandanten zu kämpfen. Heute ist dies angesichts der im Gesetz angelegten, überragenden praktischen Bedeutung dieser Arten einvernehmlicher Verfahrensbeendigungen erst recht nicht mehr angezeigt, weil man sonst zahlreiche Chancen, die der konsensuale Weg für den Mandanten gerade auch vor der Eröffnung einer Hauptverhandlung mit sich bringen kann,[30] von vorneherein ungenutzt lassen und dem Mandanten so vielfach letztlich vermeidbar Schaden zufügen würde.

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Schon aus diesen Gründen ist die Fähigkeit, Strafverteidigung nicht nur als Kampf,[31] sondern auch als Kooperation zu begreifen und zu betreiben, heute für den Verteidiger unverzichtbar. Dies gilt dabei nicht nur im von der breiten Öffentlichkeit insofern besonders stark wahrgenommenen Bereich des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts. Man mag das als Aufweichung eines alten Ideals von einem ausschließlich Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichteten Strafprozess empfinden und deswegen beklagen. Der Gesetzgeber hat es aber so gewollt,[32] und solange sich der seit Generationen zu beobachtende Trend zu stetiger Vereinfachung und Verbilligung der Verfahren bei gleichzeitig ständig steigenden Erwartungen an das Strafrecht nicht ändert, ist die Praxis gezwungen, sich danach zu richten. Ein Königsweg steht den handelnden Strafjuristen im konkreten Fall nicht offen: So entscheidet man sich entweder dafür, dem Legalitätsprinzip Vorrang vor dem Opportunitätsprinzip zu geben oder umgekehrt. Ein bisschen einstellen kann man ein Strafverfahren nicht.[33]

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Die im Schrifttum vielfach, teils scharf kritisierte[34] und zuweilen alleine der Praxis (und inzwischen gerade im Hinblick auf dessen Rechtsprechung zu den Urteilsabsprachen auch dem BGH) angelastete, vermeintliche Abkehr von hergebrachten Grundsätzen des deutschen Strafprozessrechts war also schon früher an mehreren Stellen in der StPO selbst angelegt. Einführung und Ausbau konsensualer Verfahrensweisen beruhen seit langem in weiten Bereichen auf gezielten gesetzgeberischen Entscheidungen[35]. Aus dieser Perspektive stellt sich die von vielen und sicherlich auch zutreffend diagnostizierte Entwicklung hin zu noch weiter gehenden Verständigungen, insbesondere die nunmehr ebenfalls ausdrücklich in § 257c normierten Urteilsabsprachen in der Hauptverhandlung – ob man sie nun begrüßt oder nicht – in gewisser Weise als vor dem Hintergrund der über Jahrzehnte zu beobachtenden Tendenz der Eingriffe des Gesetzgebers in die StPO folgerichtig dar: Letztlich wurde – so viel schon an dieser Stelle – versucht, die Kluft zwischen § 153a und §§ 407 ff. auf der einen und der scharf davon abzugrenzenden, ganz auf Wahrheitsfindung ausgerichteten Hauptverhandlung auf der anderen Seite, zu überbrücken.

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Festzuhalten ist bereits an dieser Stelle schließlich auch: Nicht die Urteilsabsprache, sondern die außerordentlich weiten Anwendungsbereiche der in der StPO selbst seit langem verankerten Wege konsensualer Verfahrensbeendigungen haben zwangsläufig ein verändertes Bild des Verteidigers entstehen lassen, der sich heute vielfach zwar nach wie vor in der Rolle des engagierten Streiters, zugleich aber derjenigen eines Diplomaten und Organisators des Konsenses wieder findet.[36] Die Entwicklung im Bereich der Urteilsabsprache wird dies weiter befördern. Damit verbunden sind unweigerlich mannigfaltige neue Schwierigkeiten und Aufgaben, auf die im weiteren Text, insbesondere im zweiten und dritten Teil der Darstellung, ausführlich zurückzukommen sein wird.

Teil 1 Grundlagen: Für den Konsens, gegen den „Deal“ › B › II. Das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren im Überblick

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