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Ich war plötzlich hellwach.

„Worum ging es bei dem Streit?“

„Ich hab ihr gesagt, sie muss auch was dafür tun, um bei mir zu wohnen. Nur die Laus im Pelz ist nicht. Und den Job mit den Flyern, da war sie eine Obernull. Hab sie erwischt, wie sie Flyer weggeworfen hat.“

„Du hattest was mit ihr.“

„Sorry, die war ganz nett. Mehr nicht.“

„Ganz nett? Du wolltest was von ihr und sie hat dich nicht rangelassen. Und dann gab es Ärger.“

„Nix da“, sagte Marius. „Ich habe ihr gesagt, sie soll sich einen Job suchen und kann noch ein paar Tage bleiben. Aber da kam nichts. Und sie hat mir auf der Tasche gelegen.“

„Warum hast du sie nicht sofort vor die Tür gesetzt?“

„Das mach ich nicht. So ein Arsch bin ich nicht.“

„Erzähl keinen Mist. Du hast ihr was eingeflößt und sie an die Marrokaner verscherbelt.“

Marius lachte laut auf.

„Hey, cool Mann, cool. Ich bin sauber, Alter. Aber was bist du denn für ein Spacko? Kommst hier rein, machst auf Sorgenpapi und willst mir dann auf den Sack gehen? Da kann ich gar nicht drauf.“

Mir platzte der Kragen.

„Jetzt pass mal auf Freundchen“, sagte ich. Ich kann auch mal ganz schnell die Bullen rufen und die drehen dir die Bude auf links. Und wenn die was bei dir finden, dann hast du ein ganz großes Problem. Ein Mega-Giga-Problem, kapiert?“

Marius’ Finger der linken Hand trommelten auf der Tischplatte. Mit der rechten Hand griff er in die Hosentasche, zog ein Springmesser hervor. Es klappte auf. Marius begann sich die Fingernägel mit der Klingenspitze zu säubern und schaute mich abweisend an. „Ich lasse mir nicht von abgewrackten Mistkerlen so einen Scheiß erzählen. Du schwingst hier deinen Arsch jetzt raus und damit ist Sendepause.“

Ich wusste, er bluffte nur, aber ich wollte es nicht darauf ankommen lassen. Ich verließ das Büro. Aber ich begab mich in Lauerstellung. Drei Stunden hatte ich vor seinem Büro gewartet, mich in umliegenden Eingängen verborgen, ehe er gegen achtzehn Uhr Feierabend machte und sein Büro abschloss. Es hätte für mich schwierig werden können ihn zu verfolgen. Falls er motorisiert war, hätte ich auf die Schnelle ein Taxi nehmen müssen. Aber er ging zu Fuß.

Ich postierte mich gegenüber dem zweistöckigen Wohnhaus, in das er verschwunden war, beobachtete es. Ich bemerkte, als Marius ein Fenster öffnete, dass er parterre wohnte. Er blieb höchstens eine halbe Stunde. In frischen Kleidern verließ er die Wohnung wieder und tänzelte, die Kopfhörer des mp3-player auf den Ohren, leicht mit den Hüften schwingend, die Straße hinunter. Ich wartete ab, bis er um die nächste Hausecke gebogen war, dann schaute ich mir sein Wohnhaus näher an. Dass es so leicht gewesen wäre, beim ihm einzusteigen, hatte ich allerdings nicht erwartet. Ich bin auf den Hinterhof gegangen, habe die Terrasse überprüft und bin über die Terrassentür eingestiegen. Er hatte sie einen Spalt breit offengelassen und der Knauf war defekt, so dass man die Tür mühelos aufbekommen konnte.

Marius war ein Blender. Er nächtigte auf einer Isomatte im Schlafsack. All sein Zeugs stand oder lag verstreut im Zimmer – dem einzig zur Verfügung stehenden Wohnraum – umher. Wahrscheinlich war diese Ordnung symptomatisch dafür, wie er sein Leben führte. Ich brauchte eine Zeitlang, um alles genau unter die Lupe zu nehmen, aber in diesem Durcheinander entdeckte ich tatsächlich etwas, das mit Ines zu tun haben konnte. Ein grünes T-Shirt, eine lilafarbene Shorts und einen leicht verdreckten rosafarbenen Rucksack. Ich holte nochmals das Foto hervor, das Alma mir gegeben hatte. Weder Shirt noch Shorts stimmten mit der auf dem Bild von ihr getragenen Kleidung überein. Was mich aber stutzig machte, waren die Initialen, die mit Kugelschreiber auf einen Schultergurt des Rucksacks geschrieben worden waren:

I. A.

Ermutigt öffnete ich den Rucksack, schaute hinein. Ein Fettstift für die Lippen, ein Deo-Roller. Ein roter Stringtanga. Ein weiterer Stringtanga. In orange. Wahrscheinlich Wechselwäsche. Eine Zeitungsdoppelseite. Ich faltete sie auseinander. Das aufgedruckte Datum dieser Ausgabe lag nahezu sechs Monate zurück. Ich überflog die Zeilen; es handelte sich um einen Anzeigenteil. Wenn dieser Rucksack Ines Atma gehörte, wovon wohl auszugehen war, musste sie sich nach dem Streit mit Marius vermutlich nach weiteren Jobs umgesehen und ihn möglicherweise überstürzt verlassen haben. (Vielleicht hatte Marius tatsächlich die Wahrheit gesagt und ich hatte ihm mit meiner Unterstellung unrecht getan.) Ich schaute mir die Spalten an. Es waren einige Durchstreichungen dabei, aber eine Anzeige, in deutscher Sprache abgefasst, war mit Kugelschreiber eingekreist worden:

Versuchspersonen für medizinische Testreihe gesucht. Honorar 4.000 Euro.

Darunter stand kein Name. Aber eine Rufnummer.

Dieser Fund traf mich wie ein Hammerschlag. Ines Atma. Eine Versuchsperson für Geld? Als ich den Schock überstanden hatte, steckte ich die Zeitungsseite in meine Jackettasche. Ich war so aufgeregt, diese Information zu haben, aber gleichzeitig so sehr von Angst erfüllt, bei meiner Recherche erwischt zu werden, dass ich den Rucksack einfach liegen ließ, zur Terrassentür zurückstürmte, sie wieder verschloss, und mich im Schnellschritt aus dem Hinterhof davonstahl. Einige Straßenzüge von Marius’ Wohnung entfernt fühlte ich mich zwar etwas wohler, war aber wütend über mich selbst. Hätte ich Alma Atma diesen Rucksack vorgelegt, so wäre in Erfahrung zu bringen gewesen, ob er tatsächlich ihrer Tochter gehört hatte. Nun blieb es eine Vermutung. Es sei denn, ich würde nochmals zurückgehen und den Rucksack holen. Aber dafür war ich schlichtweg zu feige.

Ich habe Alma dennoch versucht, mit dieser Sache zu behelligen. Zumindest wollte ich es. Ich bin zur Terrapolis, bin zu diesem Loch im Maschendrahtzaun. Aber dort war keins mehr. Man hatte es zwischenzeitlich geflickt. Dieser weißummantelte Draht, der die grüne geflochtene Metallschnur provisorisch aber sorgsam zusammenhielt, allein sein Anblick versetzte mich in Aufruhr. Hatte man Alma Atma, die hier stillschweigend Unterschlupf gefunden hatte, aufgegriffen und in ein Obdachlosenheim verbracht? Oder ins Gefängnis? Ich ging zum Pförtnerhäuschen, nahm allen Mut zusammen und fragte bei dem Sicherheitsmann – es war der, der sich anscheinend immer um die Funkgeräte kümmerte –, nach Tijuana und seinem Frauchen. Er schüttelte den Kopf, sagte kein Wort und bedeutete mir mit einer schlagenden Handbewegung zu verschwinden.

Ich war frustriert. Zu gern hätte ich Alma eine Nachricht überbracht. Vielleicht würde sich schnell klären, wo Ines sich aufhielt, es war ihr gar nichts geschehen, sie hatte sich einem Medikamententest unterzogen, der vielleicht über sechs Monate dauerte, um dieses für sie sicher üppige Honorar zu kassieren und damit wieder aufs Festland umzusiedeln. Wieder eine Chance zu haben. Nur hatte sie ihrer Mutter davon nichts erzählt, weil sie sich gestritten hatten, weil es sie mit Scham erfüllen würde, wenn sie ihre Mutter mit dem Vorhaben konfrontierte. Oder sie hatte vielleicht Angst gehabt, dass ihre ziemlich paranoid wirkende Mutter dagegen gewesen wäre, auf diese Weise zu Geld zu kommen.

Ich habe wirklich keine Kosten und Mühen gescheut. Ich bin zu den Obdachlosenheimen gefahren, die es auf Mallorca gab und habe nach Alma Atma gefragt. Sie wurde nirgends eingeliefert und niemand kannte sie. Ich war verzweifelt. Ich hoffte, dass ihr nichts zugestoßen war. Ich betete für sie an diesem Abend in meinem Hotel. Und ich hasste diese Welt, in der sie sich bewegte. Die sie zwang mit Erniedrigungen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Wenn ich Ines gefunden hatte, so wusste ich, würde ich nach Alma Atma suchen. Ich würde nicht aufhören zu suchen, bis ich auch sie aufgetan hatte. Ich würde ihr eine Therapie anbieten. Selbstverständlich kostenlos. Und ich würde Mutter und Tochter wieder zusammenführen. Das war meine Aufgabe. Vielleicht eine von Gott gegebene.

5

Ich hatte es mit dieser Rufnummer, die auf dieser Zeitungsseite gestanden hatte, probiert. Erreicht hatte ich niemanden. Es lief ein Anrufbeantworter. Die Praxis eines gewissen Herrn Doktor Lucius Weniger.

Sprechstunde halte er täglich von siebzehn bis neunzehn Uhr ab.

Natürlich würde ich ihn aufsuchen, um ihn genauer unter die Lupe zu nehmen. Um zu erfahren, ob Ines bei ihm gewesen war. Aber ich muss doch sagen, dass ich ziemlich überrascht war. Normalerweise setzte man sich als Proband zu Forschungszwecken direkt mit den Instituten oder Kliniken in Verbindung. Lucius Weniger wurde im Branchenbuch als Pharmakologe ausgewiesen. Ich entdeckte ihn aber auch in der Spalte Psychiater. Der einzige Deutsche dieser Profession übrigens auf der Insel, aber immerhin.

Niedergelassene deutsche Allgemeinmediziner gab es eine ganze Menge, wie ich herausfand. Fachärzte für beinahe jedes Zipperlein. Vom Augenarzt bis zum Hautarzt. Vom Chirurgen bis zum Gynäkologen. Und da ich gerade einmal dabei war, verschaffte ich mir einen Überblick über die Kliniken Mallorcas. Ich zählte etwa zwölf, die für Deutsche sicher als erste Anlaufstation galten. Mindestens fünf davon befanden sich in Palma, der Rest, soweit ich es überblicken konnte, in Alcudia, Manacor und Muro.

Darüber hinaus gab es das spanische Behandlungsangebot: Die Grundversorgung leisteten über zweitausend Ärzte in Gesundheitszentren, den Ambulatorios. Und wenn man ein Hospital aufsuchen musste, teilten sich den größten Anteil der Patienten drei staatliche Großkrankenhäuser, in denen man, ohne der spanischen Sprache mächtig zu sein, als Patient mit hoher Wahrscheinlichkeit schnell auf Probleme stieß. Hinzu kamen noch eine Handvoll Privatkliniken. Angesichts der Anzeige vermutete ich, dass dieser Lucius Weniger mit einem privaten Institut oder einer Privatklinik zusammenarbeitete.

Ich nahm die eingetragenen Privatkliniken unter die Lupe, konnte aber keine darunter entdecken, die derzeit in irgendeiner Weise Studien betrieb oder eine eigene Forschungsabteilung auswies.

Um die Zeit bis zum Nachmittag zu überbrücken, hatte mir Peggy empfohlen nach Es Trenc zu fahren. Der Strand sei malerisch, dort ein Bad zu nehmen herrlich. Sie meinte, ich solle ein bisschen Farbe bekommen, hatte mir eine Creme mit hohem Lichtschutzfaktor überlassen (Ich hatte gar keine auf die Reise mitgenommen, wie gedankenlos ich doch gewesen war.), und wieder den Jeep geborgt. Sie war so unkompliziert und freigiebig, wie ich es in der letzten Zeit nur selten bei anderen Zeitgenossen hatte feststellen können. Ich nahm, aus Richtung Palma kommend, die Straße von Campos nach Sa Rapita und stellte den Wagen auf einem der Parkplätze ab. Peggy hatte nicht zu viel versprochen. Weißer Sand, türkisfarbenes Meer. Ich legte meine Sachen nahe den Dünen ab und lief in das Wasser hinein. Das Bad erfrischte mich und belebte meine Muskeln. Ich schwamm ziemlich weit hinaus, bestimmt hundert Meter. Auch wenn ich nur ein mittelmäßiger Schwimmer bin, das Meer war ruhig und friedlich, ich fühlte mich im Wasser pudelwohl. Aber das änderte sich schlagartig mit hektischen Rufen von drei Jugendlichen, die vom Strand etwas herüberschrien. Ganz klar, sie meinten mich. Sie wollten mir etwas mitteilen. Ich kehrte um und schwamm ihnen entgegen, bis ich verstand was sie riefen.

„Tiburon, Tiburon“, riefen sie, und fuchtelten aufgebracht mit ihren Armen in der Luft herum. Erst als sie in die englische Sprache wechselten, verstand ich, was sie meinten. Sie brüllten es dreimal kurz nacheinander: „Shark!“

Mich erfasste Panik. Ein Hai. Ich drehte mich, auf der Stelle paddelnd, im Kreis. Ich tauchte, ob ich eine Finne erspähen oder einen Schatten entdecken konnte. Kleine Riffs bildeten vereinzelt unter Wasser dunkle Flecken, aber einen Hai konnte ich nicht ausmachen. Trotzdem, ich war und blieb panisch; kraulte was meine Arme hergaben. Es mochte noch vierzig Meter vom Strand entfernt gewesen sein, da berührte mich etwas am Fuß. Ich schrie auf, stoppte, trat wild um mich, voller Entsetzen. Ich ging unter, schluckte eine Menge Salzwasser, tauchte wieder auf, spuckte, erbrach mich fast. Ich suchte das Wasser mit den Augen ab. Aber da war nichts. Vielleicht war es eine Qualle gewesen oder ein kleinerer Fisch. Oder auch nur Tang. Keine Spur von dieser wilden Bestie, diesem Menschenfresser. Ein Hai im Mittelmeer. Man hörte von Haiunfällen des Öfteren an den Küsten Südafrikas oder Australiens, aber am Strand von Mallorca?

Ich versuchte mich zu beruhigen, aber es gelang nicht. Mein Herz raste. Ich kraulte hektisch weiter und je näher ich dem Strand kam, das rettende Ufer immer fest im Blick, bemerkte ich, mehr zufällig, wie die drei Jungs, meine vermeintlichen Retter, sich davonmachten. Sie bogen sich vor Lachen, dann rannten sie. Den Strand hinauf, über die Dünen hinweg und zwischen den Büschen hindurch.

Diese Arschgeigen.

Ich versuchte meine Schwimmzüge zu verlangsamen, versuchte zu Atem zu kommen. Aber es war eigentümlich. Obwohl ich mir darüber bewusst war, dass der Hai nicht existierte, dass er nicht auf mich lauerte, um mich wie ein Seehund zu seiner Beute zu machen und mich in Stücke zu reißen, er war in meinem Kopf, und diese gesäte Angst – diese innere Hysterie – war nicht auszumerzen. Ich beschleunigte meine Schwimmstöße, meine Beine durchquirlten das Meer wie ein fleischgewordener Mixer. Fast an Land angekommen, watete ich das letzte Stück schnell hinaus und ließ mich völlig erschöpft in den Sand fallen. Gut, dass ich nicht hyperventiliert hatte. Hätte ich im Wasser die Besinnung verloren, es wäre leicht möglich gewesen, dass ich aus meinem hysterischen Anfall heraus zu Tode gekommen wäre. Und das nur durch einen üblen Streich von drei spanischen Jugendlichen, die einen deutschen Urlauber ein bisschen an der Nase herumführen wollten. Als ich wieder klarer denken konnte, festigte sich in mir ein Vorsatz: Hier, am Strand von Es Trenc war ich das Opfer gewesen. Auf der Suche nach Ines würde ich mich nicht täuschen lassen.

Lucius Weniger entpuppte sich als windiger Zeitgenosse. Er war groß, schlank, braungebrannt, trug unter seinem weißen Kittel sandfarbene Shorts und ein sandfarbenes Polohemd. An seinem Arm prangte eine sportliche Rolex. Und wenn er mich ansah, durch seine blaugetönte Brille, kniff er immer die Augen. – Sein Büro war eher ein Zimmerchen. Ein Totenschädel lag auf dem Schreibtisch, ein Laptop, ein Stethoskop. Ein Blutdruckmessgerät. Eine Personenwaage stand neben dem Schreibtisch. Das war es auch schon. An der Wand: Zwei grafische Nachdrucke von Munch Bildern und die übergroße Kernspinaufnahme eines Gehirns. Sehr dubios, das alles. Er hatte mich hineingebeten und mich gefragt, wie er mir helfen könne. Ich hatte ihm verschwiegen, dass ich diesen Zeitungsausschnitt kannte. Ich hatte mir eine kleine Geschichte zurechtgelegt und mit dieser wollte ich es bei ihm probieren.

„Es ist so, ich bin vor drei Tagen hergekommen, um meine Nichte, Mia Wallmann, zu besuchen. Sie lebt hier, sie ist ein kluges Mädchen, sie studiert und brauchte ein wenig Pause vom Lernstress. Ich habe erfahren, dass sie in eine Lebenskrise geraten ist, weil, nicht nur im Studium lief es nicht so gut, sondern, sie hat sich zwischenzeitlich auch unsterblich in einen Mallorquiner verliebt. Ich weiß zwar nicht, wie der gute Mann heißt, aber da gibt es wohl Auseinandersetzungen. Sie hat mir gesagt, dass sie, um all das wieder ins reine zu kriegen, psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen möchte. Sie ist für gewöhnlich eine fröhliche junge Frau und sie hörte sich am Telefon ziemlich niedergeschlagen an. Sie hat Angst ihr Studium nicht zu schaffen und will aber auch ihren Freund nicht verlieren. Deshalb wollte ich mich mit Ihnen beraten.“

Wenigers Lider flatterten. Er fuhr sich mit der Zunge über die schmalen Lippen.

„Ich bin in erster Linie Pharmakologe, also jemand, der sich mit medikamentösen Wirkungen auf Menschen beschäftigt. Ich arbeite hier mit einem Pharma-Institut zusammen, Lux Pharma Industries. Ich gebe Ihnen eine Broschüre mit, wenn Sie möchten. Ich kann Ihnen also zweierlei anbieten. Einmal, den konventionellen Weg: Wenn Ihre Nichte mich aufsucht, werde ich ihr wahrscheinlich, nach eingehender Untersuchung, eine ambulante Psychotherapie mit eventuell begleitender Medikation empfehlen. Das würde aber jeder andere Mediziner, an den sie sich wendet, genauso machen. Der nachhaltigere Weg ist allerdings – vorausgesetzt, Ihre Nichte ist eine Zeitlang verfügbar und möchte zwischenzeitlich ihr Studium nicht weiterführen –, dass sie sich mit meiner Unterstützung, immer vorausgesetzt, das dies vertretbar wäre, in eine Klinik einweisen lässt, um mit Hilfe der allerneuesten Medikamente ihre Versagensängste in den Griff zu bekommen.“

„Sind denn die Medikamente nicht mit starken Nebenwirkungen verbunden? Und dann natürlich auch: Werden die Kosten von der Kasse übernommen? Sie hat wenig Geld, gut, wir könnten sie vielleicht unterstützen, aber es ist ja nicht gerade unproblematisch mit der sozialen Absicherung.“

Weniger räusperte sich. „Da brauchen Sie keine Sorge zu haben. Im Gegenteil. Sie ist dann Teil einer maximal drei Monate andauernden Forschungsreihe. Ihre Kosten übernehmen wir komplett und das Schöne daran ist – Sie bekommt auch noch viertausend Euro für ihre Teilnahme auf die Hand. Die neuesten Medikamente haben so gut wie keine Nebenwirkungen. Sie müssen bedenken, Ihre Nichte ist nicht die Einzige, die unter Ängsten leidet. Ängste oder depressive Verstimmungen sind Massenphänomene. Die neuen Medikamente müssen jedem Betroffenen einen ganz normalen Alltag ermöglichen.“

Das reichte mir. Ich erfragte noch, mit welchen Kliniken er zusammenarbeitet, aber er wollte nicht mit der Sprache heraus. Er sagte, dies hänge von der Diagnose ab. Ich bat um diese Broschüre. Er händigte mir ein Prospekt aus. Hochglanz, mit vielen warmen Rot- und Orangetönen gestaltet. Dann erhielt ich sein Kärtchen und er bot an, am besten bald einen Termin mit meiner Nichte gemeinsam zu machen, falls sie sich zu einer Behandlung entschließen könne. – Wie wollte man da „Nein“ sagen. Er wirkte überzeugend, abgeklärt und freundlich.

Ich überdachte die ganze Angelegenheit während meiner Rückfahrt nach Andratx und kam zu folgender Erkenntnis: Wenn eine Testreihe drei Monate dauerte, dann musste Ines, wenn sie am Forschungsprogramm teilgenommen hatte, eigentlich schon lange die Klinik verlassen haben. Vieles sprach dafür, dass sie sich aus dem Staub gemacht hatte. Aber durfte man annehmen, dass sie ihre Mutter kaltschnäuzig zurückließ?

Was macht man in einer solchen Situation? Mein Bauchgefühl sagte mir, ich musste mehr über Lux Pharma Industries herausfinden. Was war das für ein Unternehmen? Und welche Rolle spielte dort Lucius Weniger?

Es sah auf den ersten Blick so einfach wie gleichsam unglaublich aus: Dieser Tote im Hafenbecken, Xaver Henner Müller, und vielleicht auch Ines Atma waren – möglicherweise – aus unterschiedlichen Beweggründen an Lucius Weniger geraten. Xaver Henner Müller war daraufhin laut Alma verschwunden und auch Ines, was Alma ja nicht wissen konnte, hatte mit einiger Wahrscheinlichkeit Lucius Weniger aufgesucht. Es war anzunehmen, dass Ines das Honorar einstreichen wollte, bei Xaver Henner wusste man nicht, was seine Beweggründe waren. Ob er auch auf das leicht verdiente Geld scharf war, indem man ein paar Pillen schluckte, oder, ob er sich wegen ernsthafter psychischer Probleme behandeln ließ, darüber konnte ich bislang nur Vermutungen anstellen.

Als ich, zurück in Andratx, weiter nachforschte, staunte ich nicht schlecht. Lux Pharma Industries war ein etabliertes Unternehmen, das aus der Sparte Nahrungsergänzungsmittel kam und lange Zeit sehr erfolgreich Süßstoffe vertrieben hatte. Seit zwei Jahren, so las ich in der kleinen Randnotiz einer mallorquinischen Gazette, stellte die Firma auf Mallorca Arzneien her. Und zwar im Norden der Insel, nahe Pollenca.

Ich rief im Five White Stripes Deluxe an, erfragte den Namen des Portiers, der den Angor Kongress betreut hatte. Sein Name war Manuel Rodriguez. Diese Information reichte mir schon. Ich benutzte einen Vorwand um von meinem wahren Anliegen abzulenken und beendete das Gespräch. Dann erzählte ich Peggy von meinem Vorhaben nach Pollenca zu fahren. Sie gab mir ihren Jeep und ich machte mich am nächsten Vormittag auf den Weg. (Den Jeep ließ ich übrigens auf der Hinfahrt an einer Tankstelle waschen, tankte ihn auf und kaufte für Peggy eine Schachtel Pralinen.)

Pollenca sollte ein hübsches Städtchen mit engen Gassen und einer romantischen Bucht sein. So besagte es zumindest mein auf dem Nachttisch zurückgebliebener Reiseführer. Aber ein Blick auf Pollenca blieb mir verwehrt, denn Lux Pharma Industries lag einige Kilometer südlich von der Stadt entfernt, direkt an der MA-10, umgeben von kahlen Bergen.

Den Wagen ließ ich an der Straße stehen und ging die lange Zufahrt entlang, bis ich den großen Parkplatz vor den Werkstoren erreichte. Eine Schranke versperrte mir den Weg zum Verwaltungsgebäude des Unternehmens. Ich musste beim Pförtnerhaus um Einlass bitten. Der Pförtner war Ende fünfzig, ein Mann, dem sicher großes Leid widerfahren war. Auf seiner Glatze prangte eine breite lilafarbene Narbe, sein linkes Auge war mit einem abgeklebten Wattebausch verschlossen. Wenn er sprach, öffnete er den Mund so wenig wie möglich. Aber dennoch blieb mir nicht verborgen, dass nur noch zwei Zähne in seinem Oberkiefer und zwei Zähne in seinem Unterkiefer steckten. Sein Zahnfleisch war schrecklich gerötet und mir kam der Gedanke, dass er unter einer schweren Parodontitis leiden musste. Als er mich nuschelnd fragte, selbstverständlich auf Spanisch, was ich hier wolle, sagte ich ihm in seiner Landessprache, ich sei ein Besucher. Er wusste gleich, dass ich Deutscher war, sagte, etwas deutlicher, „Warten“ und rief per Handy einen Kollegen herbei. Der hieß Christiano und war vielleicht neunzehn Jahre alt. Ein stolzer Spanier, hocherhobenes Haupt, geschwellte Brust. Er sprach mich auf Deutsch an.

„Was wünschen Sie?“

„Ich bin Albert Wallmann, Universitätsprofessor der Psychologie (das außer Dienst ließ ich unter den Tisch fallen). Ich war einer der Redner in Peguera. Beim abgehaltenen Angor Kongress. Und da wir auf diesem Kongress darüber sprachen, dass es dringend innovativer Medikamente zur Behandlung von Ängsten bedarf, wollte ich mich bei Ihnen informieren, also, entschuldigen Sie, bei Lux Pharma Industries erkundigen, ob Sie nicht tätig werden könnten. Ich habe vom Five White Stripes Hotel einen Tipp erhalten, ich könne mir mal die Produktionsstätten ansehen.“

Christiano schaute mich durchdringend an.

„Führungen werden nur selten gemacht und man muss diese anmelden!“

Ich tat ein bisschen verlegen.

„Manuel Rodriguez hatte mir gesagt, dass eine Besichtigung ohne großes Aufsehen möglich wäre. Es ist ja äußerst vertraulich und geheim.“

Christiano zögerte. „Manuel Rodriguez sagten Sie?“

„Ja, das sagte ich.“

„Manuel Rodriguez?“

„Genau der.“

Christiano hob die rechte Hand. „Einen Moment. Warten Sie hier. Ich frage nach.“

Jetzt galt es. Entweder fiel ich mit meiner Finte auf und würde mir schnell eine Ausrede einfallen lassen müssen, wenn ich der Lüge bezichtigt werden würde. Oder aber ich hatte ins Schwarze getroffen.

Minuten vergingen. Ich schaute dem Zahnlosen ein wenig dabei zu, wie er Bleistifte anspitzte und Besucherformulare zurechtlegte.

Es dauerte und dauerte. Christiano kam nicht zurück. Dann, nach einer gefühlten halben Stunde, ich wollte schon wieder gehen, erhielt der Pförtner einen Anruf vom Hauptgebäude. Er hob den Telefonhörer ab, lauschte den Worten aus dem Apparat, legte auf und schob mir ein Anmeldeformular hin. Er zeigte auf die Stellen, die ich ausfüllen musste. Dann wollte er meinen Ausweis sehen. Ich händigte ihm mein Personaldokument aus. Er notierte sich alles und telefonierte nochmals. Kaum war er fertig geworden, kam vom Haupthaus jemand zum Pförtnergebäude herüber. Es war ein mittelgroßer Mann. Grauer Anzug. Weißes Hemd. Gescheiteltes, geöltes Haar. Ein Spanier. Glattrasiert. Ein Schönling.

Er begrüßte mich und stellte sich mir als Ricardo Ruiz, Mitglied der Entwicklungsabteilung, vor. Er lächelte.

„Herr Professor Wallmann, es freut mich sehr. Kommen Sie, es ist sehr spontan, aber wenn Sie ein bisschen Werbung für uns in Deutschland machen, so sind wir Ihnen sehr verbunden. Wir haben zehn Minuten, ist das was für einen Besuch ohne Anmeldung?“

Ich nickte und strahlte. (Was auch sonst?)

Wir schlüpften in die Schuhüberzieher, zogen Reinraumanzüge an und setzen uns fliesartige Häubchen auf den Kopf. Im Vorraum hatte ich im Vorbeigehen eine Fototafel angesehen. Mitarbeiter, Geschäftspartner und Kooptierte. Ein Bild von Lucius Weniger war mir in den vielleicht zwei Sekunden dieses Entlangschreitens allerdings nicht aufgefallen.

Die Fertigungsstraßen waren in drei Zügen aufgebaut und konnten je nach Produkt angepasst und umgestellt werden. Ich erfuhr, man produziere vorwiegend Antidepressiva, Antiallergika und Beruhigungsmittel.

Ricardo sagte voller Überzeugung: „Von hier aus macht sich das Glück in die Welt auf.“

Er wäre für Lux Pharma Industries gestorben, da war ich sicher. Er beschrieb mir, wie gering die Herstellungskosten ihrer Medikamente ausfielen, wie groß die Bedeutung dieser Firma für die Region sei. Über tausendzweihundert Mitarbeiter seien hier beschäftigt. Noch spreche weltweit niemand von seinem Unternehmen, aber er sei überzeugt, das werde bereits in drei Jahren anders sein. Ich wollte ihm da nicht widersprechen. Ich fragte nur, ob sie bereits auch an der Entwicklung von Präparaten zur Angstunterdrückung gearbeitet hätten.

Er tat geheimnisvoll.

„Wir haben natürlich die Aufforderungen durch Forschung und Wirtschaft zur Kenntnis genommen. Wir würden es auch begrüßen, wenn Sie und Ihre Kollegen mit uns daran arbeiten würden, diese vielfach ersehnte medikamentöse Unterstützung von Angsttherapien weiterzuentwickeln, aber haben Sie bitte Verständnis dafür, dass ich über die Eigenentwicklung in diesem Bereich zum jetzigen Zeitpunkt nichts sagen darf.“

Ich erwiderte nichts, aber kurz bevor wir die Fertigungsstraßen verließen und ich in eines der Labors Einblick bekam, sah ich etwas, das mich aufmerken ließ. Es gab dort in einer Ecke zwei große Plastikwannen. Sie standen auf dem Tisch. Darunter auf dem Kachelboden befanden sich in einem deckellosen Karton Pillen, die in Aluminiumfolie eingeschweißt waren. Es waren grüne und rote Pillen, das konnte man aus der Ferne erkennen und ich hätte geschworen, dass es sich dabei um genau die gleichen Pillen handelte, welche sich jetzt – in meinem Jackett aufbewahrt – im Schrank des Hotelzimmers befanden.

Kurz war ich auf die Idee gekommen, nach den Pillen zu fragen oder heimlich welche davon zu entwenden, um sie zu vergleichen oder analysieren zu lassen, aber das war mir letztlich zu riskant.

Auch nach Lucius Weniger wollte ich mich nicht mehr erkundigen. Ich hatte genug gesehen und erfahren. Ich dankte Ricardo Ruiz, der beim Abschied noch eine längere Bemerkung machte.

„Herr Wallmann, es hat mich sehr gefreut“, sagte er. „Bestellen Sie Mandy Conchita schöne Grüße, wenn Sie einander das nächste Mal treffen. Sie hat mir bereits beschrieben, dass Sie ein äußerst umgänglicher Zeitgenosse sind und dass Sie selbst unter Ängsten leiden. Wer ist schon frei davon. Umso mehr schätze ich es, dass Sie unser Unternehmen protegieren werden. Sie tun etwas Gutes. Für Mallorca, für das Land Spanien, für die Welt, für die Menschheit. Für uns ist es sehr wichtig nicht nur den Tourismus zu haben. Oder Orangenbäume, Olivenbäume, Kartoffelfelder, Rebstöcke. Sie verstehen, was ich meine.“ Er zwinkerte mir zu.

Ich nickte, aber nur, um nachzustoßen.

„Ich wusste gar nicht, dass Sie Mandy kennen. Eine tolle Frau! Wann haben Sie zuletzt mit ihr gesprochen?“

Ricardo Ruiz’ Blick wich mir aus. „Ich habe nach dem Kongress mit ihr zu Abend gegessen. Wissen Sie, die Branche ist klein, auf Mallorca drängt es sich besonders.“ Er lachte ein unechtes Lachen. „Man trifft sich, man tauscht sich aus.“

„Sie arbeiten nicht zusammen? Ich meine Global Sensual Maxx und Lux Pharma Industries?“

Ricardo runzelte die Stirn. „Eigentlich nicht, aber vielleicht mal. Ist doch eine der besten Adressen ...“

Ich verzog mein Gesicht ebenfalls zu einem Lächeln. „Sie mögen recht haben. Ich kenne mich da nicht so aus, ich bin ein Hochschullehrer. Wie dem auch sei. Viel Erfolg!“

Wir schüttelten einander die Hände und Ruiz begleitete mich hinaus. Er winkte nochmals, rief mir hinterher, während ich Richtung Pförtner marschierte. „Herr Wallmann, entschuldigen Sie, ich vergaß, benötigen Sie ein Taxi?“

„Nein“, rief ich zurück. „Habe einen Leihwagen.“

Er hob erneut die Hand, dann drehte er sich um und ging schnell wieder in das Gebäude hinein.

Auf dem Weg zum Jeep versuchte ich die gesammelten Informationen auszuwerten. Ricardo Ruiz, davon war ich fest überzeugt, hatte mich angelogen. Global Sensual Maxx und Lux Pharma Industries arbeiteten gewiss miteinander an einer oder mehreren Kampagnen für neue Produkte. Und auch, dass Mandy nichts von einer auf dem Hotelzimmer hinterlegten Ledermappe mit Medikamenten zur Angsttherapie wusste, wollte ich nicht mehr glauben. Wahrscheinlich hatte ein anderes Treffen vor dem Angor Kongress stattgefunden, durch Mandy Conchita Williams betreut oder wen auch immer, aber in jedem Falle zugunsten von Lux Pharma Industries. Wenn, ja, wenn diese Pillen, die ich in den Kartons lagernd gesehen hatte, genau mit den meinigen in meiner Anzugjacke befindlichen übereinstimmten, würde dieses Gedankenspiel mehr als nur eine nachvollziehbare Vermutung sein. Aber: Wenn ich dies wusste, was brachte es mir im Wissen darum, dass ein mittelloser Ex-Fabrikant mit psychischen Problemen tot im Hafenbecken gefunden worden war oder eine junge Frau, die sich wahrscheinlich zu medizinischen Tests gemeldet hatte, nun wie vom Erdboden verschluckt zu sein schien? – Ich kam mit viel Wohlwollen zu der hypothetischen Annahme, dass möglicherweise Ines Atma im Rahmen einer Studie Medikamente von Lux Pharma Industries testete oder getestet hatte. Der Tod von Xaver Henner Müller musste gar nichts mit diesem Medikamentenhersteller zu tun haben. Sie konnten beide zufällig, aus unterschiedlichen Gründen, den einzigen deutschen Psychiater auf der Insel aufgesucht haben. Diese Vermutung blieb nach wie vor bestehen.

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