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Mein Cordanzug war ein wenig verknittert, ein frisches blaues Poloshirt zog ich noch an, frisierte mein Haar neu, band es mit dem schwarzen Gummi ordentlich im Nacken zusammen und gab ein paar Spritzer Eau de Parfum auf die Halsbeuge. Es war die Marke, die Anita mir geschenkt hatte, die sie an mir so liebte (besser: geliebt hatte) und ich benutzte es sehr sparsam, da das Duftwasser, so viel ich wusste, nicht mehr hergestellt wurde und schwer zu bekommen war. Ich brauchte Mut auf der Bootparty, viel Mut und so genehmigte ich mir ein paar Kurze aus der Zimmerbar, ehe ich zum abfahrbereiten Shuttlebus hinunterging. Was machte es schon? Ich hatte mich fit gemacht für den Vortrag, er war vorüber, ich nahm keine Medikamente, wer wollte da einem das Schlückchen Alkohol verwehren.

Ziemlich beschwipst bestieg ich das Partyboot und hatte dort Mühe, die Übersicht zu behalten. Es wimmelte nur so von gutaussehenden Hostessen, leicht bekleideten, beinahe ausschließlich weiblichen Bedienungen des Caterings, die Begrüßungsgetränke und Snacks reichten. Mittendrin natürlich die Redner (abgesehen von Helga) und jede Menge Industrielle. Die Reise führte von Palma zum Hafen von Andratx und wieder zurück – so hatte ich dem Flyer entnommen – erst in den frühen Morgenstunden würden wir wieder in Palma anlegen und dann das Hotel aufsuchen.

Ich stand eine Weile etwas verloren an der Reling, hielt mich an meinem Cocktailglas fest und genoss die Aussicht, als Carl-Maria, der Pharmareferent, und Marketingspezialist Dennis mir ein wenig Gesellschaft leisteten.

Sie sprachen davon, dass man bei Port des Canonge gut Polo spielen könne. Sie fragten mich, ob ich Interesse daran hätte, es zu versuchen. Ich lehnte dankend ab. Ich könne nicht reiten und mir zudem nicht vorstellen, im Sattel sitzend einem kleinen Ball nachzujagen.

Dennis klopfte mir auf die Schulter. „Albert“, sagte er, „warum so zugeknöpft, der Appetit kommt beim Essen. Vielleicht bist du der geborene Reiter und hast es nicht versucht.“

Carl-Maria lächelte sanft und wissend. „Keine Angst. Ich habe auch vor vielen Dingen ungeheuren Respekt gehabt. Aber ich habe es probiert und bin so zu einem kleinen Adrenalin-Junkie geworden. Speedclimbing, Wasserski, Rafting, Wingsuit Base Jumping – das ist einfach überwältigend.“

Ich war mehr als überrascht. Carl-Maria sah mir nicht gerade aus wie ein Athlet. Er war sicher Mitte vierzig. Kahlrasierter Schädel, Drei-Tage-Bart, Brille. Schlaksig. Eins neunzig groß. Aber man kann sich irren. Ich wusste nichts zu antworten angesichts der mitreißenden, packenden Angstlust, die er mir vorschlug. Ich fühlte mich vielmehr an den Philosophen Martin Heidegger erinnert. Das Sein, das zum Tode strebt.

„Ich frage mich“, sagte ich, „inwieweit mich das waghalsige Sporteln zu mir selbst bringen kann. Begreife ich mich selbst dadurch besser?“

„Ach“, sagte Carl-Maria gedehnt, „Du bist mir ein Spielverderber. Grüble nicht. Riskiere mal was.“

Dennis trank schmatzend seinen Aperitif, schaute mich herausfordernd an. „Die Welt ist ein Paradox, Albert, aber es gibt ständig nur Wagnisse. Alles ist immer möglich, aber, müssen wir deshalb ständig Ängste hegen? Wir sind doch frei. Die Freiheit ist unendlich.“

Jetzt lachte er höhnisch, lachte selbstgefällig, lachte immer lauter. Fast teuflisch. Dann stürzte er den Rest seines Aperitifs hinunter. „Ich gehe mal, genehmige mir noch einen und kümmere mich um Lydia“, erklärte er. Er deutete auf die reizende blondhaarige Hostess, die ganz in der Nähe stand und dafür sorgte, dass die Amuse Gueules – knusprige Brotchips mit Sardinenpaste –, unter die Leute kamen. „Sie ist aus Sankt Petersburg“, raunte er und verdrehte die Augen, als würde er von einer auf die andere Sekunde den Verstand verlieren.

Mein Hundertachtzig-Grad-Blick verhieß: Es würde eine wilde Party werden. Vor den Toiletten bildeten sich lange Schlangen. Nicht ausgelöst durch eine plötzlich ausgebrochene globale Inkontinenz, sondern durch Kokainkonsum. Viele rieben sich in den Gesprächen nach Besuch des stillen Örtchens auffällig oft an den Nasenflügeln herum.

Ein Diskjockey blieb anfangs mit cooler Loungemusik unauffällig, sorgte danach mit Techno und Rave für Stimmung, bot im weiteren nur noch Schlager. Mit erhöhtem Alkoholpegel sanken die Hemmschwellen in jeder Hinsicht. Viertelstündlich. Die Gästeschar grölte und tanzte. Man mochte es kaum glauben, aber viele der weiblichen Anwesenden ließen ihre Hüllen fallen. Sie tanzten oben ohne oder knoteten die Blusen über dem Bauchnabel zusammen, nachdem sie sich ihres Büstenhalters entledigt und diesen wirbelnd ins Meer geworfen hatten. Wir waren Port Andratx nah, da schmusten einige gierend auf den gepolsterten Bänken miteinander oder knutschten, andere machten sich, je nach dem, wer dominant war, ungeniert am Hosenschlitz oder unter dem Rock zu schaffen und es kam mir vor, als ob zumindest die Rückfahrt unweigerlich in eine ekstatische Orgie ausarten würde.

In welche Katastrophen konnte so etwas münden? Manche strangulierten sich in der Toilette mit einem Gürtel und wurden dann bewusstlos aufgefunden, andere stürzten einfach von Bord und ertranken jämmerlich, da ihre Sinne von Sex, Drogen und Alkohol wie vernebelt waren.

Auch hierzu gab es Notizen in meinem Heftchen unglaublicher Zufälle.

Es ist wohl nur zu gut verständlich, angesichts dessen ich nach der Trennung von Anita schmerzlich unter der fehlenden Zuneigung litt und mir keineswegs eine schnelle Nummer mit einem der anwesenden Partyluder darüber hinweghelfen konnte (ich hatte im letzten Jahr gar nicht erst versucht, eine Frau kennenzulernen), dass ich es kaum noch auf dem Boot aushielt. Ich musste mir etwas einfallen lassen, um in Port Andratx, wieder zurück an Land, das Weite zu suchen.

Ich kämpfte mich durch das Gedränge der Feierwütigen hindurch und suchte nach Mandy Conchita. Das Boot wurde gerade am Poller der Anlegestelle vertäut und die aufgeheizten Pärchen machten sich bereit für den Landgang, ordneten ihre Kleider, zumindest die, die das Gala Dinner nicht einfach ausließen.

Ich begegnete Mandy Conchita zufällig, als sie aus der Damentoilette kam. Sie war in Begleitung einer blonden Schönheit, die ihr – ich sah es noch in einer winzigen Bewegung der Hand –, unter das Minikleid gefasst und in den knackigen Hintern gekniffen hatte. Mandy Conchita überspielte die schlüpfrige Angelegenheit einfach mit einem Lächeln und warf ihrer Begleiterin einen verliebten Blick zu. Ich redete nicht lange drum herum. „Mandy“, sagte ich, „gut, dass ich Sie treffe. Entschuldigen Sie, aber ich muss mich leider vorzeitig verabschieden.“

Sie blickte mich fragend an. „Albert, es ist doch alles okay mit Ihnen?“

„Ja, natürlich“, versicherte ich. „Tolle Party! Es ist nur so, ich habe einen Anruf erhalten, von einer Freundin, sie ist momentan auf der Insel, ihr Boot liegt hier im Hafen. Und ich möchte meine Freundin gern heute Abend noch besuchen, weil sie morgen Früh schon weiterschippert.“

Mandy Conchita durchschaute meine Ausrede sofort. Zuerst sah sie mich belustigt an, dann aber wurde ihr Blick hart und abweisend. „Sie haben viel erlebt, Herr Wallmann, ich weiß. Aber, dass Sie neben Ihrer Flugangst auch noch eine soziale Phobie haben, das hätte ich nicht erwartet. Trotzdem, das ist kein Problem. Ich sage der Bordmannschaft, dass wir ohne Sie zurückreisen. Weiterhin noch einen angenehmen Aufenthalt auf Mallorca und ich wünsche Ihnen für morgen eine gute Heimreise.“ Sie gab mir förmlich die Hand, dann stöckelte sie auf ihren hohen Hacken an mir vorbei, während die Blondine kaum die Finger von ihr lassen konnte und an Mandy Conchitas Hüfte herumtatschte.

Ich war froh, als die Partygesellschaft in den Gassen von Port Andratx verschwunden war. Am Pier zurückgeblieben, sog ich die frische Abendluft in meine Lungen und dachte darüber nach, was ich wohl jetzt anstellen sollte. Mit dem Taxi nach Peguera zurückfahren konnte ich noch immer. Ich machte mich also auf, ein wenig die Hafenmeile zu erkunden. Die Schönen und Reichen saßen auf den Terrassen der vielen schmucken Gaststätten, aßen zumeist gegrillten oder gebratenen Fisch, tranken Wein und amüsierten sich dabei prächtig, so machte es den Eindruck. Man war unter sich, man war wer, das illustre Urlauber-Völkchen fühlte sich in der Avinguda Mateo Bosch, wie ich auf einem Straßenschild ablesen konnte, sichtlich wohl, egal ob man aß, ein Schwätzchen hielt oder nur flanierte.

Da ich keinen Hunger verspürte, hielt ich nach Kneipen Ausschau und wurde im Übergang zur Avingunda Almirante auf eine Bar namens Peggys Stars On 45 aufmerksam. Es herrschte reger Betrieb.

Bei Peggy handelt es sich um eine vierundfünfzigjährige Deutsche, die ihr Lokal mit viel Herzblut führte und hinter dem Tresen mit flinken Fingern die Bechergläser nur so fliegen ließ. Sie hatte direkt am Eingang eine Jukebox platziert. Die Oldies dudelten. Es roch nach Duftstäbchen und Weihrauch, America sang A Horse With No Name und ich fühlte mich gleich pudelwohl. Nach zwei Bieren und drei Bourbon fühlte ich mich noch viel besser. Bei Joe Cockers Unchain My Heart zuckte ich sogar rhythmisch auf der kleinen Tanzfläche neben dem Billardtisch hin und her.

Die Gäste hatten sich auf ihre Hotelzimmer zurückgezogen, oder lagen bereits schlafend in den Kajüten ihrer Boote, es war so gegen halb drei, da waren Peggy und ich beim Du angelangt. Bei einem Du, das nichts Manipulatives hatte. Peggy hatte die Bar geschlossen, ich hatte ihr meine Geschichte erzählt und davon, dass es mir zuwider war in dieses Five-White-Stripes-Deluxe-Hotel zurückzukehren. Ich wollte nicht mehr eingeladen werden, nicht bestochen, nicht benutzt. Ich wollte nicht Teil einer ausgeklügelten Marketingkampagne sein, denn, ließ ich den Kongress Revue passieren, so gab es doch wohl für niemanden aus der Gruppe ein entrinnen. Hatte man auch nur einige der wichtigsten Personen heimlich bei diesem Boots-Gelage mit dem Fotoapparat abgelichtet, so waren sie erpressbar, denn, wer findet sich gern als verheirateter erfolgreicher Geschäftsmann auf dem Titelblatt einer Illustrierten wieder, das zeigt, wie man gerade mit einer Hostess herummacht. Mitgefangen, mitgehangen. Aber all das war ja nur so ein Gefühl. Es könnte so sein. Es könnte auch alles anders sein.

Peggy hatte mich in meiner Haltung bestärkt. Sie fand es gut und richtig, dass ich meinem Instinkt gefolgt war und mich aus der Situation herausgezogen hatte. Sie stand in ihrem Leben mal vor einer ganz ähnlichen Situation, hatte sie erzählt, als ihr Ex-Mann in große Geldschwierigkeiten gekommen war und ihr einen Versicherungsbetrug vorgeschlagen hatte. Sie hatte abgelehnt, was gleichzeitig das Ende der Beziehung bedeutete. Der Ex-Mann zog die Masche trotzdem mit seiner neuen Geliebten durch, wurde geschnappt und saß – wahrscheinlich noch immer – in irgendeinem Knast seine Gefängnisstrafe ab. Peggy machte dagegen vermutlich alles richtig. Sie hatte ihr Fischrestaurant in Sankt Peter Ording aufgegeben und war nach Mallorca gezogen. Das lag schon einige Zeit zurück; Peggy gehörte inzwischen in Andratx zum Establishment. – Ich mochte sie, ich mochte einfach alles an ihr. Ihre schwarzlackierten kurzen Nägel, ihr kräftiges braunes langes Haar, ihr schwarzes Rippenshirt, ihre Perlenketten, ihre Armreife aus Perlmutt und die braune, schon etwas speckig gewordene Wildlederhose, die sie trug. Sie konnte einigen Alkohol vertragen. Und nachdem ihre Thekenbedienung Maria längst gegangen war, nachdem sie die Spülmaschine angestellt und den Tresen aufgeräumt hatte, da sagte Peggy zu mir, ich könne auf dem Sofa schlafen, ihre Wohnung befinde sich eine Etage höher. Ich könne dann morgen Mittag mit dem Taxi rüberfahren oder im Hotel anrufen und mir meinen Trolley einfach bringen lassen. Ich wusste, dass dies ein großer Vertrauensbeweis war, denn sie war keine, die irgendwelche Urlauber, die ihr gefielen, mit ins Bett nahm (so glaubte und hoffte ich es zumindest). Erst recht keine Lebowski-Lookalikes. Sie musste mich irgendwie mögen und wenn ich ganz ehrlich zu mir war, dann mochte ich Peggy ein bisschen mehr, als ich mir eingestehen wollte. Ich bedankte mich höflich. Kaum hatte ich mich auf der Couch ausgestreckt, da war ich auch schon eingeschlafen. Mich umzuschauen in ihrer kleinen Wohnung, dafür fehlte mir einfach die Kraft.

3

Peggy war ein Schatz. Sie hatte mir Frühstück gemacht (für das ich ordnungsgemäß zahlte, es waren Croissants mit Butter und Rührei mit Schinken, dazu starken Kaffee und Orangensaft), hatte mir ein Hotel empfohlen, falls ich noch auf Mallorca bleiben wollte. Aber irgendwie war ich nicht mehr recht in Stimmung dazu. Die Idee erholsamer Tage auf Mallorca war mit den Erlebnissen des Angor-Symposiums wie ausgelöscht. Ich hatte mich mit einer wirklich zärtlichen Umarmung von Peggy verabschiedet, wir hatten uns auf die Wangen geküsst und dann war ich mit dem Taxi zum Five White StripesDeluxe zurückgefahren, hatte meine Sachen geholt (von der Agenturdelegation oder den Tagungsgästen hatte ich niemanden mehr dort angetroffen) und mich gleich zum Hafen von Palma aufgemacht, um die nächste Fähre zurück nach Barcelona zu nehmen. Ich dachte an die fünftausend Euro, die ich mit diesem kurzen wissenschaftlichen Intermezzo verdient hatte, und deren Löwenanteil ich jetzt in die Gesundung meines todmüden Volvo investieren würde.

Aber es sollte ja alles ganz anders kommen, als ich mir gedacht und vorgenommen hatte. Wie also konnte es geschehen, dass ich doch auf der Insel blieb? Zwei mysteriöse Ereignisse stürzten auf mich ein.

Die Fähre legte nicht ab. Ich konnte sie nicht einmal besteigen. Sie wurde ersatzlos gestrichen. Am Hafenterminal herrschte großer Tumult. Mit rotem Absperrband wurden die Reisenden von einem großen Teilbereich des Hafenbeckens zurückgehalten. Es wimmelte nur so von uniformierter Polizei. Nachdem ich mich durch die Reihen der Gaffer weiter nach vorn gedrängelt hatte, konnte ich alles aus nächster Nähe miterleben. Im grünlich schimmernden Wasser trieb ein aufgedunsener massiger Leichnam. Taucher bargen den Toten, Polizisten bugsierten ihn in einer Plastikwanne auf den Pier. Die Ordnungshüter errichteten einen Sichtschutz für die Schaulustigen und lamentierten lautstark. Direkt neben mir stand ein deutscher Hörfunkjournalist. Er war mein Souffleur, übersetzte simultan alles, was da auf Spanisch gesprochen wurde in sein Handy hinein. Er war schnell wie ein Sportreporter.

„Das ist eine Sensation“, sagte er zu mir. „Seitdem vor Jahren ein Restaurantbesitzer in Porto Christo erschossen aufgefunden wurde, ist das hier die aufregendste Meldung seit langem.“

Wie ich erspähen konnte, handelte es sich bei dem Toten um keinen Spanier und auch keinen Flüchtling. Es war allem Anschein nach ein Deutscher, den man da aus dem Wasser gefischt hatte. Zumindest legte das auf sein weißes T-Shirt aufgedruckte Wort Frieden diese Vermutung nahe. Mein kurzer Blick auf den leblosen Körper reichte aus, um das Alter des Mannes abzuschätzen. Er dürfte etwa sechzig Jahre alt gewesen sein. Bekleidet war er neben dem weißen T-Shirt mit dunklen Shorts. Was mit ihm angeblich passiert war, erfuhr ich aus erster Hand. Der Reporter hielt einem vorbeikommenden Polizisten dreist sein Handy unter die Nase und versuchte ihm ein Statement zu entlocken. Der Polizist blieb kurz stehen und antwortete zu meiner Überraschung. Er vermutete, es handele sich um einen Jachtbesitzer, der von Bord gestürzt sei und wahrscheinlich einen über den Durst getrunken habe. Nachfragen des Reporters, ob es sich um einen Raubmord gehandelt haben könnte, wobei der oder die Täter die Leiche über Bord geworfen hätten und dann mit der Jacht auf und davon seien, konnte und wollte der Polizist nicht bestätigen. Aber eine weitere denkbare Möglichkeit sei ein Freitod, gab er an.

Eigentlich hatte ich genug gehört, ich sah, wie sie die Plastikwanne mit der Leiche in einen Mannschaftswagen der Polizei hievten, abfuhren und die zurückgebliebenen Kräfte den Tatort weiter auf Spuren prüften. Die Taucher suchten das Becken ab. Anscheinend gab es keinen Anhaltspunkt über die Identität des Toten. Die Mundwinkel des Reporters zuckten. „Die werden das schon rauskriegen, wer er ist, und was ihm zugestoßen ist. Vielleicht ist er wirklich angetrieben worden. Also wenn Sie meine Meinung hören wollen, ist er irgendwo zufällig von Bord gefallen. Fragt sich nur, von welchem Schiff oder Boot.“

Ich hätte mich umdrehen und zum zweiten Kai hinübergehen können. Dort legten die anderen Fähren ab. Ich brauchte nur ein neues Ticket zu lösen und mich dann aus dem Staub zu machen. Aber ich blieb einen Moment länger in der Menge stehen, dachte über die Worte des Radioreporters nach, das war das Fatale, denn kurz darauf spürte ich die schweißfeuchte Hand dieser Frau an meinem Arm. Es war so eng, ich konnte mich kaum zu ihr umdrehen. Sie stand unmittelbar hinter mir, aber ich erkannte sie sofort, als ich meinen Kopf zur Seite drehte und ihr Profil erblickte. Es war die Rothaarige, die ich gestern zeternd am Gemeindezentrum von Peguera gesehen hatte. Kein Zweifel: Sie trug dieselbe orangefarbene Bluse, dazu die kurzen Shorts, ganz genau so wie gestern. Ich spürte, ihre freie Hand klopfte in Hüfthöhe gegen mein Sakko, dann steckte sie mir etwas in die Jackentasche. Die Rothaarige wisperte, ich solle kein Aufsehen erregen. Die würden sie gefangen nehmen und dann wären alle Chancen dahin. Der Mann sei ein Opfer. Er sei nichts anderes als eine Ratte gewesen. Eine Ratte im Käfig. Ich solle helfen, wenn ich ein Gewissen hätte. – Nur diese wenigen Sätze sagte sie und ehe ich sie ansprechen konnte, ehe ich mich in der Menge vollends zu ihr umwenden konnte, hinter ihr herlaufen, da war sie auch schon verschwunden. Sie war gewesen wie ein Geist, ätherisch; sie hatte sich einfach in Luft aufgelöst.

Ich blieb noch eine Weile in der Menge stehen und schaute weiter auf die Aktionen der Polizisten, die angestrengt, aber ziemlich lustlos nach Hinweisen suchten.

Während ich über diese mysteriöse Frau nachdachte, ob sie von einer Wanderlust befallen war, den Verstand verloren hatte und nun auf der Insel herumirrte, ob sie nicht eine feste Bleibe irgendwo hatte, vielleicht in einem Heim lebte oder in einer Finca, griff ich in die Jackentasche hinein und spürte Papier zwischen meinen Fingern. Es fühlte sich an wie ziemlich festes Papier, das mehrmals gefaltet worden war. Ich ließ diesen Zettel dort, wo er war und machte mich auf, aus der Horde Schaulustiger herauszutreten und mir ein ungestörtes Plätzchen zu suchen, wo ich mich in aller Ruhe damit befassen konnte, was diese anscheinend geistesverwirrte Frau mir mitzuteilen hatte.

Einige Straßenzüge vom Hafen entfernt, stellte ich den Trolley neben mir ab und setzte mich auf eine Mauer. Dann holte ich den Zettel hervor und entfaltete ihn. Es war dickes, leicht vergilbtes Papier und es schien sich wohl um die Seite eines Buchs zu handeln, eine, die hastig herausgerissen worden war. Ich betrachtete das Blatt. Mit Bleistift hatte die Rothaarige (oder auch jemand anderes, aber es war zunächst davon auszugehen, dass sie es war) etwas skizziert, das nach einer Siedlung aussah. Sie hatte durch Pfeile einen Weg angedeutet, hatte irgendwo an einem Haus, zumindest einem Gebäude, ein großes Kreuz gemacht und dort eine Ziffer hingeschrieben. Die 8. Es stand kein einziger Satz dort. Nur drei Worte. Atma. Und daneben: Son Gual.

Ich schaute bestürzt auf diese Bleistiftzeichnung. Sie hatte davon gesprochen, dass ich helfen musste. Es schien ihr sehr dringlich zu sein. Und ich hatte geschlossen, dass ihr Anliegen etwas mit dem Toten im Hafenbecken zu tun haben mochte. Ratte im Käfig hatte sie ihn genannt. Es lag wohl auf der Hand, warum sie sich nicht an die Polizei oder karitative Einrichtungen wendete. Wahrscheinlich hielt man sie für verrückt. Vielleicht tat ich es besser auch. Aus meiner Praxis, aus meinen Forschungen wusste ich nur zu gut, dass manche Menschen große Krisen nicht überstehen und ihre verletzten Seelen auf Wanderschaft gehen, um die kaum auszuhaltenden Lebensumstände irgendwie zu verarbeiten.

Allerdings zerknüllte ich diesen Lageplan nicht und warf ihn in den nächsten Papierkorb. Ich faltete ihn sorgfältig und steckte ihn in meine Tasche zurück. Der Impuls dazu lag im Akt der Menschlichkeit. Der Hilfe. Der Not. Und war eng mit meiner Vergangenheit verbunden. Die Schuldgefühle, meine erste Frau Katrin nicht vor dem Selbstmord bewahrt zu haben, meine Töchter nicht rechtzeitig vom Sport abgeholt und damit das Unglück vermieden zu haben, lasteten noch immer zu schwer auf mir. Wenn auch Walter mit mir seit Jahren daran arbeitete, es wollte mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich hatte etwas gutzumachen, es war also, wenn ich es recht überlegte, kein Reflex der Mitmenschlichkeit, sondern vielmehr die Beruhigung des eigenen schlechten Gewissens, die mich auf der Insel hielt.

Auf der Rückfahrt nach Andratx, die ich diesmal mit dem Bus bewältigte, ich wollte Peggy aufsuchen, sie um Rat bitten und ein Zimmer in dem von ihr empfohlenen Sea Beach Harbor beziehen, dachte ich über die Worte nach, die mir die Rothaarige als Hinweis mitgegeben hatte.

Atma, was sollte das bedeuten? Ich kannte es nur als Begriff aus dem indischen Sanskrit, der die Ergründung des Selbst beschrieb und in dieser Bedeutung eng mit einer Form der Meditation verbunden war. Was Son Gual anbetraf, hatte ich zumindest relativ schnell einen vagen Anhaltspunkt. Zwischen Palma und Llucmajor gelegen, gab es einen Golfplatz, umsäumt von mietbaren Luxusvillen. Sollte hier eine Villa mit der Nummer 8 gemeint sein? Und wen würde ich dort antreffen? – Bei allem Respekt, die Rothaarige passte, so wie ich sie kennengelernt hatte, gar nicht in dieses Ambiente.

Peggy freute sich sehr mich wiederzusehen. Sie umarmte mich stürmisch. „Das war die richtige Entscheidung“, sagte sie, als ich ihr berichtet hatte, und setzte sich sofort zu mir an den Tisch, um die Zeichnung der Rothaarigen zu studieren. Auf Atma konnte sie sich auch keinen Reim machen, aber was die Skizze und das Wort Son Gual anbetraf, hatte sie nach einigem Nachdenken eine Idee.

„Das hat nichts mit dem Golfplatz oder irgendwelchen Villen zu tun. Wenn ich mich nicht irre, dann ist hier auch ein bisschen Bucht eingezeichnet und der Golfplatz liegt nun ganz und gar nicht unmittelbar am Meer.“

Sie hielt inne, dann lächelte sie.

„Wenn ich die Personenbeschreibung deiner rothaarigen Bekannten mit einbeziehe, dann bin ich sogar ziemlich sicher, dass ich richtig liege.“

Sie ließ mich ganz schön zappeln. „Was meinst du?“, fragte ich.

„Ich schätze, die Skizze zeigt Terrapolis. Eine Geisterstadt. Über hundert leerstehende Wohnungen, die während des Baubooms entstanden sind. Diese Geisterstadt befindet sich in Sa Marina de Son Gual, das ist bei Manacor, genauer, an der Bucht Estany d’en Mas.“

Meine Gedanken schwirrten. Eine Geisterstadt voller leerstehender Wohnungen? Was sollte der Tote damit zu tun haben? War er ein Baulöwe, der sich bereichert hatte und den man jetzt aus irgendwelchen Gründen ins Jenseits befördert hatte?

Peggy ahnte meine Gedanken.

„Denk nicht kompliziert, denk einfach.“

„Wieso denke ich kompliziert“, sagte ich.

„Du hast immer mit komplizierten Menschen zu tun und du selbst bist ja auch nicht gerade einfach. Da denkt man gern mal kompliziert. Was ja auch gar nichts macht. Aber du solltest die einfachen Gründe dabei nicht übersehen.“

„Wie?“, fragte ich.

„Ich meine, das Naheliegende ist doch, dass die Rothaarige, wie sie selbst sagte, nicht ungestört mit dir reden konnte, aber sie wollte, dass du hilfst, wenn du ein Gewissen hast. Du hast mir beschrieben, dass sie ziemlich heruntergekommen aussah. Eine Frau, die keinen festen Wohnsitz hat, die, sagen wir mal, irgendwie eine Verliererin ist, wo kann die Unterschlupf finden? Sicher, es gibt die deutsche katholische Gemeinde in Palma, es gibt das spanische Rote Kreuz auf der Insel, es gibt Höhlen, es gibt leerstehenden Baracken, es gibt Parkbänke und Strände. Dort könnte man nächtigen. Was ist aber für eine Frau das Sicherste, um Schutz vor Übergriffen zu finden und nicht aufzufallen, falls man sich illegal auf der Insel aufhält oder vielleicht sogar von irgendwem gesucht wird?“

„Sie wohnt da – in einer dieser leerstehenden Wohnungen –, und will sich dort mit mir treffen?“

„Genau. Es ist mir zwar ein Rätsel“, sagte Peggy, „wie sie da unbemerkt hausen will, denn das Areal ist umzäunt und wird, so weit ich weiß, von einem Sicherheitsdienst überwacht, aber, wer weiß.“

„Obdachlos ...“, zweifelte ich.

Peggy schaute mich ernst an. „Warum nicht? Wusstest du nicht, dass es mehr als Hundert Obdachlose auf Mallorca gibt? Einer von ihnen, ein Deutscher, wurde in einem Kanalrohr tot aufgefunden, sein Leib war von Rattenbissen übersät. Hast du nichts davon gehört?“

Ich sagte ihr, dass ich mich noch um meine Bleibe kümmern müsse, ehe ich ihrem Vorschlag nachgehen könne. Peggy war mir eine große Hilfe, sie hatte zwar noch einige Vorbereitungen für den Tapas-Abend zu treffen, aber sie bot mir für die Fahrt zur Terrapolis ihren Jeep an. Das war mehr als großzügig.

Als ich in dem von ihr empfohlenen Hotel, dem Sea Beach Harbor, anrief, erklärte man mir, es sei alles ausgebucht. Peggy griff sofort ein, ließ nicht locker und bequatschte den Portier so lange, bis plötzlich – auf wundersame Weise –, doch noch ein Zimmer dort frei geworden war und neu belegt werden konnte. Als ich Peggy dankte, sagte sie strahlend: „Ja, so bin ich halt.“

Ich fuhr also zur Terrapolis. Der Jeep war alt und rostig, hatte bestimmt so viele Jahre auf dem Buckel wie mein Volvo, aber nicht so viele Wege hinter sich. Der Tacho zeigte 234.196 Kilometer. Peggy hatte mir erzählt, sie habe ihn für kleines Geld mit zweihunderttausend Kilometern auf dem Buckel gekauft und er habe sie bislang nie im Stich gelassen.

Ich erreichte die Geisterstadt nach einiger Sucherei. Das rostige Schild an der Hauptstraße mit der Aufschrift Cala Romantica hatte mich etwas verwirrt. Der malerische Strandabschnitt in der Bucht war nah, doch unmittelbar vorgelagert hatte der kapitalistisch gierende Beton die Natur zermartert, leblos gemacht und gesichtslose Zementmonster geboren, die nunmehr dahinsiechend das Landschaftsbild verödeten. Den Wagen stellte ich vorsichtshalber, man konnte nie wissen, was passieren würde, in einiger Entfernung vom Gelände ab und legte den Rest des Wegs zur Geisterstadt zu Fuß zurück.

Wie Peggy es mir vorausgesagt hatte, so verhielt es sich. Das Areal war mit Maschendraht umzäunt. An einer einzigen Stelle jedoch, der parallel verlaufenden Straße zugewandt, gab es einen Schlagbaum. Ein Pförtnerhäuschen stand davor. Darin hockte, wie ich im Vorbeischlendern sehen konnte, ein Mitarbeiter des beauftragten Wachdienstes. Dem Aussehen nach war er Südländer. Er verteilte gerade Funkgeräte in die Ladestationen.

Ich blieb in einiger Entfernung vom Pförtnerhäuschen stehen, holte meinen Skizzenzettel hervor und studierte die Zeichnung auf meinen derzeitigen Standpunkt hin. Definitiv hatte die Rothaarige mit ihren Pfeilen signalisiert, dass ich einen anderen Weg hinein nehmen sollte, als den offiziellen, der beinhaltete, hier beim Pförtner um Einlass zu bitten. Also ging ich weiter und folgte den Skizzenpfeilen bis ich an einer abseits gelegenen Ecke, nahe eines Abhangs, nahezu verdeckt von Büschen, ein klaffendes Loch im Zaun entdeckte. Das Loch war gerade groß genug, um eine Person hindurchzulassen. Ich schaute nochmals auf meine Skizze, aber es gab keinen Zweifel: Dieser Ort musste gemeint sein. Also zwängte ich mich hindurch, es bereitete mir einige Mühe, aber schließlich gelang es, ohne dass ich mir die wadenlange Cargohose zerfetzte. Auf der anderen Seite des Zauns angekommen, ging ich hinein in diese tote Stadt. Der Wind pfiff und mich beschlich ein mulmiges Gefühl. Aber ich tastete zu meiner seitlich aufgenähten Hosentasche, in der, in weißes Pergamentpapier gewickelt, eine frische Chorizo steckte. Ein Tipp, eine kleine, mitgegebene Lebensversicherung von Peggy, falls die Wachleute mit Hunden unterwegs waren oder das Gelände von freilaufenden, knurrenden und zähnefletschenden Bestien bewacht war.

Ich marschierte durch die verstaubten kleinen Gassen, schaute in die gähnend leeren Eingänge hinein. Niemand war weit und breit zu sehen. Drei Kreuzungen überquerte ich, nahm dann, wie eingezeichnet, die vierte Abbiegung nach links und stand nach einigen zurückgelegten Metern vor einem kleinen Appartement, das den Eindruck machte, fast fertiggebaut worden zu sein.

Ich ging auf die Haustür zu und umso näher ich an das Gebäude, an diese Wohnbaracke heranging, je mehr wusste ich, dass ich am Ziel angekommen war. Jemand hatte provisorisch einen dünnen Draht zu einer Acht gebogen und diese an einen aus der Wand herausstehenden rostigen Pfeiler gehängt. Die Acht schaukelte im Wind und erwirkte – so wie sie dort baumelte –, ein Gefühl von Unendlichkeit.

Ich empfand es als absurd vor dem Eingang zu warten, an die verwitterte Tür zu klopfen (immerhin hatte man hier eine Tür eingehängt) und zu fragen, ob jemand zu Hause sei. Ich tastete mich vor, schob die Tür einen Spalt weit auf, sie knarzte in den Angeln. Ich trat ein und erst als ich die Tür behutsam wieder angelehnt hatte, erhob ich vorsichtig meine Stimme.

„Hallo? Ist jemand zu Hause?“

Meine Augen gewöhnten sich ziemlich schnell an die Dunkelheit im Raum. Ich ließ meinen Blick schweifen und durchschritt den Flur zu einem Wohnraum hin. Vorbei an Mülltüten, Apfelsinenkisten, leeren Weinflaschen und Büchsen Hundefutter, Milchtüten, Zeitungspapier mit verwelkten Salatblättern. Im Wohnraum selbst: Ein paar Kerzen, zwei Matratzen, in verschiedenen Ecken gelagert. Wolldecken, Kopfkissen, vier oder fünf ramponierte Romane. Plastikflaschen mit Mineralwasser. Am Fenster fand ich so etwas wie eine Ecke für die Morgentoilette vor. Eine Plastikschüssel, Zahnbürste, Zahncreme, eine Haarbürste, ein Fläschchen Nagellack, ein Lippenstift lagen da auf dem Mauervorsprung. Am Boden, in einem gelblich durchsichtigen Plastiksack die Wechselwäsche und Handtücher. – Ich war mir sicher, hier hauste die Rothaarige, als mein Blick auf die Haarbürste fiel. Ich rief nach ihr. „Hallo?“

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